VIERZIG

A usnahmsweise hat Miles einmal nicht übertrieben. Sabine und Mr. Muñoz haben sich mit der Deko wirklich selbst übertroffen.

Von dem Augenblick an, als wir in die Einfahrt einbiegen, kann ich nur völlig baff darüber staunen, wie sie dieses auf Pseudo-Toskana-Stil getrimmte Haus von der Stange in etwas verwandelt haben, das aussieht, als stammte es tatsächlich aus der Alten Welt.

»Warte nur, bis du es von innen siehst!« Sabine strahlt mich an. »Ich weiß, du wolltest eigentlich im kleinen Kreis feiern, aber ich fand es schön, eine Party für alle deine Freunde zu geben. Du hast so schwer gearbeitet, Ever. Du hast dir ein bisschen Spaß verdient, und Paul und ich, offen gestanden, auch!«

Als sie mich ins Haus führt, mit Mr. Muñoz im Schlepptau, tja also, ich kann nur sagen, wenn es von außen schon fantastisch war, dann ist es drinnen regelrecht umwerfend.

»Das ist erst der Anfang«, sagt Mr. Muñoz mit immer breiter werdendem Grinsen. »Jeder Raum hat ein eigenes Motto.«

»Wie seid ihr …?« Ich will fragen, wie sie das alles geschafft haben, ohne dass ich etwas mitgekriegt habe, doch dann sehe ich es – überall schwirren Dekorateure, Leute vom Partyservice und alle möglichen Helfer herum. Das ist nicht bloß eine Party. Es ist eine Riesensause, um meinen Schulabschluss zu feiern.

»Es gibt eine Menge zu feiern«, sagt Sabine. »Also dachten wir, wir gehen aufs Ganze. Betrachte es einfach als Willkommens- Schrägstrich Schulabschluss- Schrägstrich Verlobungsparty. Ach, und wir sind noch gar nicht dazu gekommen, dir das Neueste zu berichten: Ein großer Verlag hat kürzlich ein Angebot für Pauls Buch gemacht – also ist es auch noch eine Buchvertragsparty!« Sie sieht zu ihm auf, mit vor Stolz auf seinen Erfolg ganz geröteten Wangen, und auch ich werfe einen kurzen Blick auf ihn und werde mit einem Lächeln und einem Zwinkern belohnt. Ich weiß, er denkt an den Tag, als ich ihm genau das prophezeit habe. »Wir erwarten eine Menge Leute, ich hoffe, es macht dir nichts aus. Ich weiß, du hattest etwas ganz anderes geplant, aber wir haben es uns einfach schön vorgestellt. Miles hat das Motto vorgeschlagen, und danach hat sich alles Weitere von selbst ergeben.«

Ich nicke und versuche, ebenso strahlend zu lächeln wie sie, doch ich kann an nichts anderes denken als an die Frucht – den wahren Grund für diese Einladung – und daran, dass der ja wohl bei alledem komplett aus dem Blickfeld geraten ist.

Doch kaum habe ich das gedacht, da sieht mich Sabine schon an und sagt: »Keine Angst, dafür ist gesorgt. Ich habe das Fernsehzimmer neben deinem Schlafzimmer freigelassen, und du kannst dort tun, was immer du tun musst. Ich hoffe nur, du gönnst dir auch ein bisschen Zeit, um dich zu amüsieren.«

Ich sehe sie an und weiß nicht, was ich sagen soll. Mit so etwas hätte ich nicht im Entferntesten gerechnet, und ich bin jetzt wirklich platt.

Doch Sabine legt mir nur eine Hand auf die Schulter. »Jetzt geh schon«, sagt sie. »Geh nach oben und manifestier dir ein Kostüm, während Paul und ich unsere Kostüme anziehen. Du musst um sieben Uhr fertig sein, damit du die Gäste begrüßen kannst.«

Ich tue, was sie sagt. Es ist einfacher so. Nachdem ich die Treppe hinaufgestiegen bin, gehe ich schnurstracks in mein Zimmer und lasse mich aufs Bett fallen. Irgendwie macht mich das alles ganz ratlos. Ich muss an meinen allerersten Tag hier denken, als Sabine mich am Flughafen abgeholt und in mein neues Zuhause, mein neues Leben gebracht hat. Ich war so in meinen Kummer verstrickt, dass ich die ganze Mühe, die sie sich gemacht hatte, um mir ein angenehmes Dasein zu bereiten, gar nicht würdigen konnte. Ich konnte mich nur bäuchlings aufs Bett werfen und heulen – jedenfalls bis Riley erschien und mich tröstete, indem sie mich alles aus ihrer Perspektive sehen ließ.

Riley.

Ich schließe die Augen und versuche das Brennen, die Tränen und den Kloß im Hals zurückzudrängen, die bei jedem Gedanken an sie zwangsläufig hochkommen. Allerdings bin ich überrascht, wie flüchtig es ist – binnen Sekunden sind die Symptome gekommen und wieder gegangen. Und ich weiß, das liegt an der Frucht.

Obwohl mir Riley immer noch fehlt, obwohl ich mich danach sehne, sie wiederzusehen – weiß ich jetzt zum ersten Mal seit langer Zeit, dass ich sie bestimmt wiedersehen werde. Und dieses Wissen ist mir eine große Hilfe dabei, den Schmerz über ihren Verlust und den Verlust meiner ganzen Familie, Buttercup eingeschlossen, zu lindern.

Durch einen einzigen Biss in die Frucht wird mein Körper nicht mehr unsterblich sein. Er wird augenblicklich zum normalen Alterungsprozess zurückkehren, bis er eines Tages stirbt und meine Seele in ihren wahren, ewigen, unendlichen Zustand zurückkehrt – mit der Freiheit, die Brücke dorthin zu überqueren, wo meine Familie jetzt lebt.

Ganz egal, was aus mir wird, meine Seele wird weiterleben, sodass meine Familie und ich wieder vereint werden können.

Ich hoffe nur, dass auch Damen und ich wieder vereint werden.

Ich hoffe nur, ich finde einen Weg, um ihn davon zu überzeugen, was wir alle beide tun müssen.

Doch zuerst muss ich mir ein geeignetes Partykostüm einfallen lassen. Eigentlich sollte man meinen, dass jemandem mit sieben früheren Leben die Wahl leichtfiele.

Aber soll ich nun als Adelina gehen – aus dem Leben, von dem ich erst kürzlich erfahren habe? Als Evaline – die Pariser Dienstmagd? Als Abigail – die Tochter des Puritaners? Als Chloe – das verwöhnte Töchterchen aus reichem Haus? Als Fleur – die Künstlermuse? Oder als Emala – das traurige kleine Sklavenmädchen?

Oder als alle zusammen?

Soll ich mir etwas einfallen lassen, wie ich sämtliche Versatzstücke aus meinen verschiedenen Leben zusammenstückeln kann, wie eine Art Karma-Quilt, wenn man so will?

Ich überlege eine Weile und freunde mich mit der Idee an, doch ich habe keine Ahnung, wie ich es anfangen soll, bis ich auf einmal schlagartig weiß, was ich tun werde.

Ein Blick auf meinen Wecker am Nachttisch verrät mir, dass ich nur noch sehr wenig Zeit habe und jetzt ganz schnell meinen Manifestierzauber anwenden muss. Also springe ich auf und fange an, in der Hoffnung, dass es genauso ausfallen wird wie auf dem Bild, das ich im Kopf habe.

Ich hoffe, es wird zu mehr nütze sein und nicht nur als Kostüm dienen. Ich hoffe, es wird die Belege liefern und damit genau den Beweis, den ich brauche.