SIEBENUNDZWANZIG

Wir schweigen lange, nachdem Lotos gegangen ist. Damen kämpft mit Empörung und Schuldzuweisungen, während ich mich auf den Moment vorbereite, in dem ich mich erklären muss.

Schließlich bricht Damen das Schweigen. »Ever, wie konntest du?«, fragt er und sieht mich an. Vier schlichte Worte, die mich bis ins Mark treffen, aber das sollten sie schließlich auch. Kopfschüttelnd versucht er, schlau daraus zu werden. »Wie konntest du das tun?«, fragt er noch einmal. »Wie konntest du einfach alles wegwerfen? Also ehrlich. Das musst du mir erklären, weil es wirklich völlig unbegreiflich ist. Die ganze Zeit hast du dir Vorwürfe gemacht, weil wir nicht richtig zusammen sein konnten. Die ganze Zeit hast du damit gehadert, dass du dich von Roman hast überlisten lassen. Sogar nachdem ich es dir erklärt hatte, sogar nachdem ich dir gesagt hatte, dass du mir letztlich das Leben gerettet und meine Seele vor der Gefangenschaft im Schattenland bewahrt hast, indem du mich hast trinken lassen, warst du immer noch überzeugt davon, einen Fehler gemacht zu haben. Das ging sogar so weit, dass du nur noch darauf fixiert warst, das Gegengift zu ergattern. So unbedingt wolltest du es haben, dass du bereit warst, dafür große Risiken einzugehen. Und jetzt, da du endlich das bekommen hast, wonach du die ganze Zeit gesucht hast, hast du alles leichtfertig weggeworfen, damit du die Reise einer verrückten alten Frau antreten kannst, um nach irgendeinem Baum zu suchen, von dem ich dir leider sagen muss, dass es ihn nicht gibt!« Er sieht mich an und ballt immer wieder die Fäuste, und in seinem Blick liegen all die Worte, die er sich verkniffen hat. »Deshalb brauche ich jetzt genau eines von dir – ich muss wissen, warum. Warum hast du das getan? Was hast du dir dabei gedacht?«

Ich starre auf meine Füße und lasse seine Worte durch meinen Kopf strömen, wo sie sich zigfach wiederholen, doch obwohl ich seine Frage gehört habe, obwohl ich weiß, dass er auf eine Antwort wartet, hänge ich immer noch an der Formulierung: irgendein Baum.

Er nennt ihn irgendeinen Baum.

Er stellt seine Existenz infrage.

Und ich staune darüber, dass er es nicht erkennt. Staune, dass er nicht begreift, dass es der Baum ist und nicht das Gegengift, was wahre und dauerhafte Erlösung bringt. Dass der einzige Weg darin besteht, unsere körperliche Unsterblichkeit rückgängig zu machen.

Der Baum ist unsere einzige Chance, alles zu verändern.

Aber vielleicht versteht er es ja doch.

Vielleicht versteht er es ja nur zu gut.

Und vielleicht ist er genau deshalb so massiv dagegen.

»Du hast Recht.« Ich sehe ihn an. »Ich habe mich die ganze Zeit verantwortlich gefühlt. Ich habe mich mit Schuldgefühlen rumgeschlagen. Ich war so voller Reue, dass ich mit Magie rumgepfuscht habe, von der ich dringend die Finger hätte lassen sollen. Ich habe sogar versucht, Abmachungen mit Leuten zu treffen, von denen ich mich hätte fernhalten sollen. Ich war so voller Selbsthass und schlechtem Gewissen und habe so verzweifelt versucht, das, was ich angerichtet habe, wieder rückgängig zu machen, dass ich bereitwillig jedes Risiko eingegangen bin, um es wiedergutzumachen – für dich und für uns. Ich war bereit, alles zu tun, was auch immer nötig war, um zu gewährleisten, dass wir so zusammen sein können, wie wir es wollen, bis meine ganze Welt sich nur noch darum gedreht hat, das Gegengift in die Finger zu kriegen – auf Kosten von allem anderen. Aber jetzt weiß ich, wie falsch und irregeleitet das war. Jetzt weiß ich, dass ich, statt mich ausschließlich darauf zu konzentrieren, das Gegengift zu besorgen, mich lieber darauf hätte konzentrieren sollen, unsere Seelen zu retten.«

Er wirkt unangenehm berührt, doch er vernimmt die Wahrheit meiner Worte. Das sehe ich am Aufblitzen seiner Augen, das indes sofort wieder verschwindet. Seine Entschlossenheit nimmt zu, bis er meinem Standpunkt noch ablehnender gegenübersteht, was mich nur umso mehr zum Weitermachen anspornt.

»Damen, bitte hör mich an. Ich weiß, dass meine Entscheidung zumindest oberflächlich betrachtet ziemlich verrückt aussieht, aber es geht alles viel tiefer. Es ist ganz einfach – ich hab’s endlich kapiert. Endlich hab ich es wirklich richtig verstanden. Wenn Roman nicht dafür gesorgt hätte, uns voneinander fernzuhalten, wäre es etwas anderes gewesen. Der Grund, warum wir nicht zusammen sein können, ist, dass das Universum es nicht erlaubt. Unser Karma erlaubt es nicht. Oder zumindest nicht, bis wir tun, was getan werden muss, um diesen riesengroßen Fehltritt wiedergutzumachen, den du begangen hast. Nicht, ehe wir den Lauf unserer Leben ändern – den Lauf unserer Seelen ändern, indem wir sie wieder in den Zustand zurückversetzen, für den sie seit jeher bestimmt waren. Du hast es selbst gesagt, lange bevor wir uns zu dieser Reise aufgemacht haben, hast du offen zugegeben, dass das, was wir sind, weder natürlich noch richtig ist. Dass wir nicht das Leben führen, das die Natur vorgesehen hat, dass wir fälschlicherweise die körperliche Unsterblichkeit der Unsterblichkeit der Seele vorgezogen haben. Das sind deine Worte, Damen, nicht meine. Du hast außerdem offen zugegeben, dass es uns beide einen hohen Preis gekostet hat und dass es der Grund dafür ist, warum wir mit all diesen unüberwindlichen Hindernissen konfrontiert werden, der Grund, warum wir andauernd auf eine Weise sabotiert werden, dass wir einfach nicht weiterkommen. Du hast gesagt, es kommt daher, weil Jude immer wieder auftaucht und unserem Glück im Weg steht. Dass er, ohne es zu begreifen, seine eigene Bestimmung auslebt, indem er uns daran zu hindern sucht, die Fehler aus unserer Vergangenheit noch einmal zu machen.«

Ich sehe ihn an, entschlossen, ihm die Augen zu öffnen, entschlossen, zu ihm durchzudringen, und meine Stimme wird immer schriller, bis ich schon fast kreische. »Begreifst du denn nicht, was für eine gigantische Chance das ist? Es ist die greifbare Gelegenheit für uns, wirklich für immer zusammen zu sein, und zwar in der Form, wie es vorgesehen ist. Es ist eine Chance für mich, endlich die Bestimmung zu erfüllen, für die ich geboren wurde. Ebendie Bestimmung, zu der ich jetzt schon seit mehreren Leben aufgefordert worden bin, und nun bin ich endlich bereit und willens, sie anzunehmen. Ich hoffe nur, du findest einen Weg, sie zusammen mit mir anzunehmen.«

Ich beiße mir auf die Lippe und mache mich auf eventuelle harte Worte von seiner Seite gefasst, doch er schüttelt nur den Kopf und wendet sich ab. Er ist so wütend, dass er mir nicht in die Augen sehen kann. Als er wieder spricht, presst er die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Der Grund, warum wir nicht zusammen sein können, ist der, dass du soeben das Gegengift weggeworfen hast.« Er ballt die Fäuste. »Ever, ich begreife das nicht – willst du denn nicht mit mir zusammen sein?«

Als er sich endlich umdreht, als sich unsere Blicke endlich begegnen, betrübt es mich zutiefst, was ich dort sehe.

»Wie kannst du das auch nur denken?«, frage ich erschüttert. »Nach allem, was ich durchgemacht habe, nur in der Hoffnung, dann mit dir zusammen sein zu können?« Ich schließe die Augen, versuche, ruhiger zu atmen und mich zu fassen, damit ich nichts Unüberlegtes sage. »Hast du nichts von dem gehört, was ich gerade gesagt habe? Natürlich will ich mit dir zusammen sein! Ich will mehr mit dir zusammen sein, als du wahrscheinlich je begreifen wirst! Aber nicht so! Nicht mithilfe des Gegengifts. Es gibt einen anderen Weg. Einen besseren Weg, da bin ich mir jetzt sicher. Damen, wir haben endlich die Chance, diesen gigantischen Fehler zu beheben – wir haben endlich die Chance, die Leben zu leben, für die wir bestimmt sind! Und wenn wir das tun, brauchen wir kein solches Zeug wie Elixiere und Gegengifte. Begreifst du denn nicht, was das heißt? Begreifst du nicht, wie epochal das ist?«

»Epochal?« Er spuckt das Wort förmlich aus. »Mal im Ernst, Ever, hörst du dich eigentlich selbst reden? Was könnte epochaler sein als die Liebe zwischen uns? Ist es nicht das, was uns immer wieder zueinanderführt?«

Ich seufze, erschöpft von seinem Einwand, erschöpft von seiner abgrundtiefen, unerschütterlichen Sturheit. Dennoch bin ich entschlossen, ihn zum Verständnis zu führen, ehe es zu spät ist, ehe es Zeit zu gehen ist und er sich weigert, mich zu begleiten.

»Das ist nur ein Teil des Grundes«, sage ich. »Der andere Teil ist, dass ich jedes Mal, wenn ich zurückkehre, jedes Mal, wenn ich wiedergeboren werde, eine neue Chance bekomme, meine Bestimmung zu erfüllen. Um den Fehler wiedergutzumachen, den du vor all den Jahren unabsichtlich begangen hast. Und diesen Fehler richtigzustellen ist der einzige Weg, durch den du und ich jemals wirklich frei sein und leben und lieben können, wie wir es wollen.«

Er blickt seufzend in die Ferne und schweigt so lange, dass ich schon fast wieder das Wort ergreifen will, als er doch etwas sagt. »Es gibt noch etwas anderes, was du wissen musst.«

Ich sehe ihn an.

»Der Baum ist ein Mythos. Er ist Stoff von Legenden. Es gibt ihn nicht wirklich. Die Legenden behaupten, er trüge alle tausend Jahre eine einzige Frucht. Eine Frucht, die demjenigen Unsterblichkeit garantiert, der sie zuerst pflückt.« Er grinst verächtlich. »Sag mal, Ever, kommt dir das auch nur entfernt realistisch vor?«

Ich überhöre seinen spöttischen Tonfall und erwidere: »Vor einem Jahr wäre ein Ort wie das Sommerland auch noch völlig abwegig erschienen. Genau wie Hellseherinnen, Geister, Chakren, Auren, Magie, Zeitreisen, Wiedergeburt, Nahtoderlebnisse, Medien, Manifestieren, die Macht der Kristalle oder Zauberelixiere, die einen unsterblich machen. « Ich zucke die Achseln. »Also wer kann schon sagen, ob es diesen Baum gibt oder nicht? Aber stell dir nur mal vor, es gibt ihn, Damen. Kannst du dir ausmalen, was diese Reise dann bedeuten könnte?« Ich mustere ihn eindringlich und versuche, ihn zu beschwören, mir wenigstens auf halbem Weg entgegenzukommen. »Wenn es erfolgreich ist, könnte es deine karmischen Schulden abtragen. Es könnte dir erlauben, deine Vergangenheit wieder in Ordnung zu bringen. Reinen Tisch machen und so. Vielleicht hast du ja nie jemanden gezwungen, vom Elixier zu trinken, na ja, niemanden außer mir …« Ich halte inne und presse die Lippen zu einer dünnen, grimmigen Linie zusammen, ehe ich kopfschüttelnd weiterrede. »Vielleicht warst du viel zu jung und zu naiv und zu unerfahren, um die weitreichenden Konsequenzen deines Tuns ganz zu verstehen und zu begreifen, in welche Gefahr du uns alle gebracht hast, Mann, allein die Existenz des Schattenlands, von der du natürlich nichts gewusst hast, bis du selbst dorthin geschickt worden bist, aber trotzdem, auch wenn du nicht gezielt vorgehabt hast, eine ganze Menge Seelen in diesen grässlichen Abgrund zu schicken, führt es doch am Ende genau dorthin. Und dies ist deine einzige Chance, es abzuwenden. Deine einzige Chance, um denen, die du entweder selbst verwandelt hast oder die durch das von dir gebraute Elixier verwandelt wurden, eine Wahl zu lassen. Es ist eine Gelegenheit, die womöglich nie wiederkehrt.«

»Ich wollte dir nie wehtun«, sagt er so leise, dass ich ihn kaum verstehe. »Wollte nie jemanden verletzen.« Ich fange das unverkennbare Aufflackern von Schmerz und Selbstvorwürfen in seinem Blick auf, ehe er wegsieht. »Ich hätte nie damit gerechnet, dass du mir solche Vorwürfe machst oder dass du es als Fluch sehen würdest, eine Ewigkeit zusammen zu verbringen. Oder verbannt in einen grässlichen Abgrund hast du es, glaub ich, genannt.«

»Damit hab ich das Schattenland gemeint, Damen, nicht unsere gemeinsame Zukunft.«

»Aber wir sind nicht im Schattenland. Unsere Zukunft ist jetzt. Genau jetzt. Wir haben immer noch das Rezept für das Gegengift – es ist noch nicht zu spät. Wir müssen nur von hier verschwinden, auf die Erdebene zurückkehren und die Zutaten zusammensuchen. Aber du willst ja lieber in der Hoffnung, diesen schrecklichen Fluch umzukehren, mit dem ich dich belegt habe, zu einer völlig sinnlosen Reise in die Irre aufbrechen.«

»Damen, damit habe ich nicht gemeint …«

Er hält eine Hand in die Höhe, und sein Gesichtsausdruck ist so gebrochen wie seine Stimme, als er sagt: »Ist schon gut. Ehrlich. Glaub mir, Ever, du hast nichts gesagt, was ich mir selbst nicht schon eine Million Mal gedacht hätte. Aber es aus deinem Mund zu hören … nun ja, es war härter, als ich je gedacht hätte. Also, wenn es dir recht ist, dann kehre ich jetzt auf die Erdebene zurück. Ich brauche ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Und bei der Gelegenheit sammele ich gleich mal die Zutaten für das Gegengift zusammen. Wenn du schon den Rest deines Lebens an mich gebunden bist, dann erlaubt uns das Gegengift wenigstens gewisse … Vergnügungen, die das Leben weitaus erträglicher machen.«