SECHSUNDDREISSIG

Als Nächstes fahre ich zu Sabine.

Da wir Sonntagnachmittag haben, stehen die Chancen gut, dass ich sie zuhause antreffe.

Vielleicht sogar zuhause mit Mr. Muñoz.

Je näher ich ihrer Straße komme, desto mehr hoffe ich darauf, dass Mr. Muñoz da ist, wenn auch nur deshalb, weil er auf meiner Seite zu stehen scheint – zumindest vorwiegend. Was bedeutet, dass er im Stande sein könnte, mir dabei zu helfen, sie von der Wahrheit zu überzeugen.

Der verblüffenden, aufrüttelnden, umwälzenden Wahrheit, die beweist, dass alles, was sie so vehement leugnet, tatsächlich wahr ist.

Die Wahrheit, die sie bestimmt nach Leibeskräften abstreiten wird, ganz egal, wie viele Beweise ich ihr auch vorlege.

Und obwohl ich absolut bereit bin, sämtliche Register zu ziehen und alles Nötige zu tun, um sie zu überzeugen – obwohl ich eigentlich weiß, dass es dazu mindestens einen Richter, zwölf handverlesene Geschworene und vielleicht zur Sicherheit noch ein paar Ersatzleute obendrauf braucht –, wäre es trotzdem gut, Mr. Muñoz dabeizuhaben, der meine Argumentation unterstützt.

Ihr wisst schon, zwei gegen einen.

Macht durch Überzahl.

Die Art von Situation.

Am Tor angelangt, bekomme ich auf der Stelle ein noch schlechteres Gewissen wegen meiner überlangen Abwesenheit, als ich bemerke, wie die Securityfrau mich ansieht, ja mich unverhohlen angafft und regelrecht zusammenzuckt, ehe sie mich hineinwinkt. Und als ich in die Einfahrt biege und sehe, wie sich der Garten verändert hat, der nach einer Jahreszeit, die ich komplett verpasst habe, in eine neue übergegangen ist, die ich hoffentlich noch zur Gänze hier genießen kann, nehmen die Schuldgefühle überhand.

Doch das ist noch gar nichts im Vergleich dazu, wie mir zu Mute ist, als ich an der Tür stehe und verfolge, wie Sabines Gesichtszüge eine Reihe fast comicartiger Ausdrücke durchmachen. Angefangen bei einer ersten Reaktion erstaunten Erkennens, geht es rasch weiter über äußersten Schock bis hin zu völligem Unglauben und dann zu einem Aufglimmen von Hoffnung hin zu totalem Trotz, ehe ihre Miene schließlich bei schwerer Besorgnis Halt macht, als sie den erbärmlichen Zustand meiner verschrammten Wanderstiefel, der schmutzigen Jeans und des fleckigen Tops wahrnimmt, nachdem ich vergessen habe, mir neue Sachen zu manifestieren.

»Wo warst du?«, fragt sie. Ihre Stimme ist eine merkwürdige Mischung aus Ärger und Neugier, während sie mit ihren blauen Augen die Begutachtung fortsetzt.

»Ehrlich, du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es dir erzähle«, sage ich, wobei meine Worte wesentlich aufrichtiger sind, als sie sich vorstellen kann.

Sie verschränkt die Arme vor der Brust und presst die Lippen zu einer grimmigen Linie zusammen. Damit kehrt sie wieder zu ihrer strengen Seite zurück, der Seite, die ich nur allzu gut kenne, und sagt: »Probier’s aus.«

Es ist die wütende Sabine.

Die selbstgerechte Sabine.

Die Sabine, die mir das Ultimatum gestellt hat, das mich letztlich zum Gehen veranlasst hat.

Ich spähe über ihre Schulter, da ich weiß, dass Mr. Muñoz hier irgendwo sein muss, denn ich habe seinen silbernen Prius in der Einfahrt gesehen. Erleichtert atme ich auf, als ich ihn aus dem Fernsehzimmer kommen sehe. Auf seiner Miene zeichnen sich zum Teil die gleichen Regungen ab wie bei ihr, allerdings ohne den Trotz und die schwere Besorgnis, was ich als gutes Zeichen auffasse.

»Ich würde es dir gern erklären.« Ich ringe um einen gelassenen, nicht provokanten Tonfall, denn ich kann nur dann zu ihr durchdringen, wenn ich die Gefühle raushalte. »Genau deshalb bin ich ja hier. Ich will dir alles erzählen, dir alles sagen. Aber es ist ziemlich kompliziert, also wäre es vielleicht besser, wenn ich reinkommen und mich setzen könnte, damit wir über alles reden können.«

Ihre Wangen laufen vor Empörung rot an. Sie kann meine Frechheit kaum fassen. Dass ich erwarte, eingelassen zu werden, wenn ich völlig unangemeldet nach monatelanger Funkstille einfach so vor der Tür stehe. Ich kann die Gedanken praktisch hören, die ihr durch den Kopf gehen, obwohl ich mir selbst versprochen habe, nicht zu lauschen. Allerdings muss ich gar nicht lauschen, wenn ich sehe, wie die ganze Energie um sie herum in Bewegung gerät und in einer stetig zunehmenden Wutwelle aufblitzt und Funken schlägt.

Trotzdem zieht sie die Tür weit auf, winkt mich hinein und folgt mir ins Fernsehzimmer, wo ich mich auf einen der weich gepolsterten Sessel setze und zusehe, wie sie und Mr. Muñoz auf der Couch direkt gegenüber Platz nehmen.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragt sie steif und springt sofort wieder auf. Außer Stande, ihre nervöse Energie zu bezähmen, weiß sie nicht, wie sie mit meinem plötzlichen Auftauchen umgehen soll, und so schaltet sie schnurstracks auf Gastgeberin um, eine Rolle, die sie beherrscht.

»Wasser«, sage ich, und sofort zieht sie die Brauen zusammen, da sie mich kaum je etwas anderes hat trinken sehen als das Elixier und nicht weiß, dass ich meinen letzten Schluck vor ungefähr sechs Monaten genommen habe. »Wasser wäre super, danke.« Ich schlage die Beine übereinander, während sie in die Küche geht. Mr. Muñoz lehnt sich zurück und breitet die Arme weit über die Polster aus, in der behaglichen, entspannten Art eines Mannes, der hier absolut zuhause ist.

»Wir haben nicht mit dir gerechnet.« Seine Stimme klingt vorsichtig. Er weiß nicht, was er von meinem Auftauchen halten soll und fragt sich, was für Gründe mich hierhergeführt haben.

Ich sehe mich im Zimmer um und stelle erleichtert fest, dass es noch genauso aussieht wie früher, nachdem sich so viele andere Dinge verändert haben. Dann blicke ich auf meine schmutzigen Kleider herab und manifestiere mir schnell ein paar frische.

»Ever …« Mr. Muñoz spricht leise, damit Sabine nichts hört. »Ich glaube, das ist keine so gute Idee …«

Ich sehe auf mein neu manifestiertes blaues Kleid und die beigen Ledersandalen herab und zucke die Achseln. Nervös trommele ich mit den Fingern auf die gepolsterte Armlehne meines Sessels. »Hören Sie, ich brauche in dem Fall vielleicht Ihre Hilfe, also versuchen Sie bitte einfach, mir zu vertrauen. Ich bin nicht hier, um den Streit fortzuführen oder alles noch schlimmer zu machen. Ich will nur ein paar Dinge klären, ehe es zu spät ist und ich es nicht mehr kann.« Er sieht mich erschrocken an und will gerade nach einer Erklärung fragen, als Sabine wieder hereinkommt, mir ein Glas Wasser reicht und sich neben ihn setzt.

Ich nehme die Beine auseinander und kreuze sie erneut, streiche mir mit den Händen über den Rock meines Kleids, bis der Saum bis fast an die Knie reicht. Eine Reihe von Gesten, die nicht gerade dezent sind, Gesten, von denen Notiz zu nehmen ich sie praktisch anflehe, damit sie mich fragt, wie ich es geschafft habe, mich so schnell umzuziehen – damit sie etwas sagt, irgendetwas, aber ein so hartnäckiges Verdrängen wie ihres ist schwer zu bekämpfen.

Schwer, aber nicht unmöglich.

Ich kann nicht glauben, dass es unmöglich ist. Sonst hätte mein Besuch hier gar keinen Sinn.

Da es das Beste ist, den Stier gleich bei den Hörnern zu packen, sehe ich sie an und sage: »Du hast mir gefehlt.«

Sie zuckt zusammen, nickt und lehnt sich enger an Mr. Muñoz, der ihr beruhigend die Schulter drückt. Doch sie bringt nicht mehr heraus als: »Also, willst du mir dann sagen, wo du warst?«

Ich presse die Lippen zusammen und bin über ihre Reaktion ein bisschen verblüfft, doch vermutlich kostet es sie emotional zu viel, wenn sie zugibt, dass ich ihr auch gefehlt habe. Aber das ist okay. Selbst wenn sie es nicht zugibt, weiß ich, dass sie mich vermisst hat. Das sehe ich daran, wie in der Mitte ihrer nach wie vor zornesroten Aura ein kleiner pinkfarbener Fleck aufflammt.

Auren lügen nie. Nur Menschen lügen.

»Ich war im Sommerland«, sage ich und sehe zwischen ihr und Mr. Muñoz hin und her.

»In Santa Barbara?« Sie wirft mir einen skeptischen Blick zu, aber den lasse ich an mir abgleiten.

»Nein. Nicht in dem Stranddorf in Santa Barbara, sondern im echten Sommerland. Dem ersten Sommerland. Der mystischen Dimension zwischen der hier und der direkt dahinter.«

Mr. Muñoz verspannt sich, und sein ganzer Körper geht in Alarmposition, während er sich aufs Schlimmste gefasst macht. Sabine verzieht grimmig den Mund, kneift die Augen zu und sagt: »Das verstehe ich nicht.«

Ich lehne mich vor und rutsche an den äußersten Rand meines Sessels, ehe ich weiterspreche. »Ich weiß. Glaub mir, ich verstehe dich total gut. Es ist ganz schön viel auf einmal. Vor allem, wenn man zum ersten Mal davon hört. Bei mir war es genauso. Ich habe es auch lange Zeit geleugnet. Eigentlich beinahe so lange, bis es nicht mehr ging. Ich weiß auch, dass es für dich noch schwerer ist, weil du an überhaupt nichts glaubst, was außerhalb deiner Behaglichkeitszone liegt, und lieber alles wegschiebst, was sich nicht direkt vor deinen Augen abspielt. Aber der Grund, warum ich mich dir trotzdem anvertrauen will, trotz der Sisyphusarbeit, die mir damit bevorsteht, ist der, dass ich die Spielchen leid geworden bin. Ich habe es satt, dich ständig anlügen zu müssen. Ich habe es satt, Dinge vor dir verbergen zu müssen. Aber vor allem habe ich es satt, so hart an dieser komplett erfundenen, falschen Version von mir arbeiten zu müssen, nur damit du weiter das glauben kannst, was dir passt.«

Ich halte einen Moment lang inne, um ihr Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben, doch sie schaut nur so kühl und ungerührt drein wie immer, also rede ich hastig weiter. »Die ersten zwei Wochen, die ich weg war, war ich bei Damen. Und ich weiß, dass du darüber informiert bist, weil ich weiß, dass er es dir gesagt hat. Aber wahrscheinlich hast du nicht geahnt, dass ich eigentlich felsenfest davon ausgegangen bin, dass ich nie mehr zurückkomme. Ich hatte mir geschworen, nach dem Schulabschluss weit weg zu ziehen und dich nie wieder zu sehen. Und zwar nicht, weil ich mich rächen oder dich bestrafen wollte – ganz egal, was du auch denken magst, ich war dir nie böse. Der Grund, warum ich dich für immer verlassen wollte, ist der, dass ich wirklich geglaubt habe, es würde unser beider Leben einfacher machen. Aber jetzt ist alles anders oder zumindest wird bald alles ganz anders werden …«

Ich schlucke schwer, werfe Mr. Muñoz einen Blick zu, und als er mich durch ein Nicken ermuntert weiterzusprechen, tue ich es. »Aber ehe diese richtig große Veränderung stattfinden kann, wollte ich mit dir ins Reine kommen. Ich wollte einen letzten Versuch unternehmen, dich zu überzeugen. «

»Und was ist das nun, was ich glauben soll?«, fragt sie, doch ihre trotzig hochgezogene Braue und ihr herausfordernder Tonfall sagen mir, dass sie es bereits weiß.

»Du musst mir glauben, dass ich kein jämmerlicher, verrückter, nach Aufmerksamkeit hungernder Teenager bin, der durch den Verlust seiner Familie so verletzt und traumatisiert ist, dass er vorgibt, übersinnliche Kräfte zu haben. Du musst mir glauben, dass ich weder eine Schwindlerin noch eine Blenderin bin, die die Leute übers Ohr haut. Und der Grund, warum du mir das glauben musst, ist, dass es die Wahrheit ist. Ich kann hellsehen. Ich kann die Gedanken anderer Menschen hören. Außerdem sehe ich die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen allein durch eine Berührung, genau wie ich Auren sehe und mit sämtlichen Geistern in Kontakt stehe, die noch auf der Erdebene herumlungern, obwohl sie schon längst hätten weiterziehen sollen. Und darüber hinaus bin ich auch noch unsterblich. «

Ich halte inne und warte ab, damit sie meine Worte verarbeiten kann und mein Geständnis zur vollen Geltung kommt. Ich weiß, dass es so weit ist, als ihre Aura grell zu flammen und zu wallen beginnt und ich mich regelrecht wundere, dass ihr dazu nicht auch noch Rauchwolken aus den Ohren schießen.

»Der rote Saft, den ich immer trinke?« Ich lege den Kopf schief und sehe sie an. »Das ist das Elixier des ewigen Lebens. Der Trank, den die Menschheit zeit ihres Bestehens gesucht hat. Damen ist einer der wenigen, die es tatsächlich geschafft haben – er hat vor über sechshundert Jahren die geheime Formel entdeckt.«

»Ever, wenn du glaubst, dass ich …« Sie schüttelt den Kopf und ist zu wütend, um ihren eigenen Satz zu Ende zu führen, obwohl sie es schafft, ihn zu denken, und diesmal schalte ich mich ein. Wenn auch aus keinem anderen Grund, um meine Aussage zu untermauern.

Mein Blick begegnet ihrem, und ich mustere sie genau, während ich langsam ihre unausgesprochenen Worte wiederhole. »Nein, ich glaube wirklich nicht, dass du bereit bist, auch nur eine Sekunde lang etwas so Groteskes, so Lächerliches, so weit Hergeholtes, so … Erbärmliches zu glauben.« Entsetzt reißt sie die Augen auf, doch sie hat sich ebenso schnell wieder gefasst und sich eingeredet, dass ja auf der Hand lag, was sie gedacht haben muss. Und obwohl das stimmt, bin ich noch lange nicht fertig.

»Falls dich das noch nicht überzeugt hat, dann vielleicht das. Aber ich muss dich warnen, ich schrecke vor nichts zurück, um dir zu beweisen, dass ich weder lüge noch verrückt oder eine nach Aufmerksamkeit gierende Schwindlerin bin. Ich werde dir genau zeigen, wozu ich im Stande bin, was ich vermutlich schon längst hätte tun sollen. Der einzige Grund, warum ich es nicht getan habe, ist, dass keine von uns schon bereit dafür war. Aber jetzt sind wir es. Oder zumindest ich bin es, und ich bin mir ziemlich sicher, du auch. Und was Mr. Muñoz angeht …« Ich sehe ihn kurz an. »Er weiß Bescheid. Offen gestanden, weiß er es schon eine ganze Weile.«

Sabine wendet sich mit flehender Miene zu Mr. Muñoz um. Doch er holt nur tief Atem und nickt, ehe er ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich lenkt. »Das stimmt, Sabine, Schatz, Ever lügt nicht«, sagt er. »Sie hat Fähigkeiten, die wirklich erstaunlich sind. Ich bitte dich nur, ihr eine Chance zu geben. Versuch einfach, mit offenem Geist zuzuschauen und zuzuhören, und du wirst staunen, was du zu sehen bekommst. Und wenn nicht, wenn du dann immer noch nicht glauben willst …« Er sieht sie an und hofft offenkundig, dass das nicht der Fall sein wird. »Na ja, das ist dann deine Entscheidung. Aber warum versuchst du nicht, deinen Horizont durch ganz neue Ideen zu erweitern, über die du vielleicht noch nie nachgedacht hast?«

Sie verschränkt Arme und Beine, was vom Gesichtspunkt der Körpersprache aus ziemlich entmutigend ist. Argwöhnisch mustert sie mich, als ich sage: »Zuerst einmal – was hatte ich an, als du die Tür aufgemacht hast?« Sie blinzelt und lässt ihren Blick über mich wandern, nimmt eine komplette Inspektion vor, doch als sie mir eine Antwort verweigert, sondern sich nur noch mehr verschließt, fahre ich fort. »Waren das dieselben Sachen, die ich jetzt anhabe?«

Sie rutscht beklommen hin und her, antwortet aber immer noch nicht, was in meinen Augen Antwort genug ist.

»Oder waren es die hier?« Ich manifestiere die schmutzigen Klamotten, mit denen ich vor ihrer Tür stand, doch deren Anblick entlockt ihr keine Reaktion. »Oder vielleicht waren es die?« Ich manifestiere ein Abendkleid aus dunkelgrüner Seide, genau wie das, das ich im Pavillon trage, wenn Damen und ich Szenen aus meinem Londoner Leben nachvollziehen, damals, als ich das verwöhnte, reiche Töchterchen namens Chloe war. Spontan beschließe ich, es anzubehalten, und sitze nun als leuchtendes Beispiel für den Putz und Prunk eines längst vergangenen Jahrhunderts vor ihr. Irgendwie muss ich sie dazu bringen, etwas zu sagen, irgendetwas, doch sie schweigt verbissen. Sie weigert sich hartnäckig, von den Vorstellungen abzuweichen, an die sie sich so lange geklammert hat.

»Meine Kräfte sind aber nicht nur auf schnelle Garderobenwechsel beschränkt«, sage ich. »Ich kann genauso leicht einen Elefanten manifestieren.« Dann schließe ich die Augen und tue genau das. Ich muss ein Lachen unterdrücken, als ich sehe, wie viel Mühe es sie kostet, die Fassung zu bewahren. Sie ist ihrem festgefahrenen Weltbild derart verhaftet, dass sie nicht einmal dann zu reagieren bereit ist, wenn ein ausgewachsener Elefant neben ihr erscheint und ihr den Rüssel ins Gesicht schwenkt. »Ich kann auch Blumen manifestieren«, füge ich hinzu und überschwemme den Couchtisch mit einer riesigen Masse leuchtend gelber Narzissen. »Und Schmuck.« Ich schließe die Augen, und als ich sie wieder aufschlage, ist Sabine über und über mit Diamanten, Rubinen und Smaragden behängt, doch all das lässt ihre Miene nur noch mehr versteinern. »Ich kann auch Autos und Boote und Häuser manifestieren – praktisch alles, was du dir vorstellen kannst. So gut wie nichts ist ausgeschlossen – na ja, abgesehen von Menschen. Man kann keinen Menschen manifestieren, weil man keine Seele manifestieren kann. Allerdings kann man das Abbild einer Person manifestieren, so wie ich es einst mit Orlando Bloom gemacht habe.« Ich schmunzele kurz über die Erinnerung und Damens Reaktion, als er sah, was ich fabriziert hatte. »Was ich aber nicht manifestieren kann, auch wenn ich mich noch so anstrenge, ist deine Bereitschaft, endlich das anzuerkennen, was direkt vor deiner Nase ist. Das nennt man freien Willen, und der gehört nur dir allein.«

Sie reckt das Kinn, macht die Augen schmal und schaut wütend, trotzig, obwohl ihre Stimme sofort die Angst verrät, die dahintersteckt. »Ich weiß nicht, was du im Schilde führst, Ever, aber du musst aufhören! Du musst aufhören mit den …« Sie sieht sich um und sucht nach dem richtigen Wort. »Du musst auf der Stelle mit den Zaubertricks aufhören! «

Sie wirkt so erschüttert, dass ich ihrem Wunsch rasch nachkomme. Ich nicke und blinzele, bis alles restlos verschwunden ist – bis alles wieder normal ist, einschließlich meiner Klamotten, aus denen wieder das viel bequemere, wenn auch weitaus weniger beeindruckende Outfit aus blauem Kleid und beigen Sandalen geworden ist.

Mein Blick begegnet ihrem, und ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass es noch schlimmer werden wird als befürchtet. Trotzdem werfe ich die Flinte nicht ins Korn. Ich kann jetzt nicht aufgeben, da ich doch noch ein paar Trümpfe im Ärmel habe.

»Ich kann noch mehr«, sage ich und manifestiere flugs ein Messer mit edelsteinbesetztem Griff, das ich direkt über meine ausgestreckte Handfläche halte. »Ich weiß, dass du empfindlich bist und eigentlich kein Blut sehen kannst, aber ich verspreche, es ist gleich wieder vorüber.«

Ich ramme mir die Messerspitze ins Fleisch und ziehe die scharfe Klinge quer über meine ganze Hand. Sabine kann sich ein Keuchen nicht verkneifen und verzieht entsetzt die Miene, als sie das Blut aus mir hervorquellen sieht – wie es über mein Kleid rinnt und auf dem Boden eine Lache bildet – bis es – bis es – nicht mehr da ist.

Das Messer ist weg.

Meine Hand ist völlig unversehrt.

Und nirgends ist eine Spur von dem Blut, das ich soeben vergossen habe.

Und obwohl es eine ziemlich beeindruckende Vorstellung war, muss ich zugeben, dass es mir allmählich peinlich wird und ich mir langsam vorkomme wie die gruseligste Zirkusnummer der Welt.

»Hör mal.« Ich schaue zwischen ihr und Mr. Muñoz hin und her, wobei er nicht einmal versucht, sein Entsetzen über das soeben Gesehene zu verhehlen. »Ich könnte noch stundenlang weiterreden. Ich könnte euch jeden Trick zeigen, den ich beherrsche. Und das mach ich auch, wenn es sein muss. Aber im Grunde braucht ihr nur zu wissen, dass alles, was ihr gerade gesehen habt, echt war. Und auch wenn es unangenehm ist, auch wenn ihr euch am liebsten abwenden und so tun würdet, als hättet ihr das alles nicht gesehen, ändert das nichts. Es tut mir leid, Sabine, es tut mir leid, dass ich dir das antun muss. Und auch wenn mir klar ist, dass es deine Entscheidung ist, ob du mir glaubst, und es natürlich gut sein kann, dass sich deine Einstellung nicht ändert, ganz egal, was ich tue, muss ich dir Folgendes sagen: Ob du mir glaubst oder nicht, liegt allein bei dir – aber wenn du mich je wiedersehen willst, wenn du irgendeine Art von Beziehung zu mir haben willst, dann musst du über deine tief sitzenden Vorurteile hinauswachsen und lernen, mich zu akzeptieren. Alles an mir. Auch die Anteile, die dir nicht gefallen. Auch die Anteile, die dir Angst machen. Denn genau das werde ich dir gegenüber tun. Deine Neigung zu Selbstgerechtigkeit und Dickköpfigkeit, dein Hang, mir auszuweichen, statt zu versuchen, mich zu verstehen, das alles macht mir genauso viel Angst, wie meine Show mit den Partyspielchen der Unsterblichen dir gerade Angst gemacht hat. Dennoch akzeptiere ich dich lieber so, wie du bist, statt einer Zukunft entgegenzugehen, in der ich dich nie wiedersehe. Mit alledem habe ich eigentlich gehofft, dass wir einen Kompromiss finden, bei dem wir uns in der Mitte treffen können. Aber auch das ist deine Entscheidung. Ich werde deine Wahl auf jeden Fall akzeptieren.«

Ich lehne mich zurück und sehe zu, wie der Dampf förmlich aus ihr herausströmt, während ihre Aura schlaff wird und zusammenfällt wie ein verschrumpelter Heliumballon.

»Wie lange bist du schon so?«, fragt sie schließlich.

Als mein Blick ihrem begegnet, begreife ich, dass sie glaubt, ich sei schon immer so gewesen – als Außenseiterin geboren. Sie glaubt, ich hätte auch deshalb den Unfall überlebt, während der Rest meiner Familie dabei umkam. Doch das kann ich ihr rasch austreiben.

»Ich bin bei dem Unfall tatsächlich gestorben«, sage ich. »Ich hatte ein sogenanntes Nahtoderlebnis, obwohl ich den Begriff ein bisschen schief finde, da daran überhaupt nichts nah war. Aber darüber weiß Mr. Muñoz sicher besser Bescheid als ich. Er hat eine ganze Menge darüber gelesen.« Ich schaue zwischen ihnen hin und her und registriere, wie sie ihm einen fragenden Blick zuwirft, den er mit einem Nicken und einem Achselzucken quittiert. »Jedenfalls, anstatt zusammen mit Mom und Dad und Buttercup die Brücke zur anderen Seite zu überqueren, bin ich im Sommerland geblieben, auf diesem unbeschreiblich schönen Feld. Und genau damit hat sich meine Seele beschäftigt, als Damen meinen Körper neben dem Auto gefunden und mich von dem Elixier hat trinken lassen, das mich wieder ins Leben zurückgeholt hat.«

»Und Riley?« Sabine beugt sich mit großen Augen vor und vermutet das Schlimmste.

»Riley saß eine Weile fest«, antworte ich beklommen.

»Sie saß fest?«

Ich seufze. »Zwischen hier und dem Sommerland. Sie hat begonnen, mich zu besuchen, als ich im Krankenhaus war. Dann, als wir hierhergezogen sind, ist sie fast jeden Tag vorbeigekommen, bis ich sie überredet habe, über die Brücke zu gehen und weiterzuziehen. Obwohl ich glaube, dass sie mich gelegentlich in meinen Träumen besucht, habe ich sie seither nicht mehr gesehen. Diejenigen, die über die Brücke gegangen sind, kann ich nicht sehen. Ihre Energie vibriert zu schnell. Aber ein Freund von mir hat sie öfter gesehen …« Ich halte inne und denke daran, wie Jude versucht hat, mir beizubringen, sie auch zu sehen, jedoch ohne Erfolg. »Und laut dem, was er sagt, geht es ihr gut. Eigentlich sogar besser als gut. Sie ist glücklich. Mom und Dad und Buttercup sind auch glücklich. Offenbar fühlen sie sich lebendiger denn je.« Ich sehe sie an. »Weißt du, nur weil du sie nicht sehen kannst, heißt das nicht, dass sie nicht mehr existieren. Die Seele ist ewig. Es ist die einzig wahre Unsterblichkeit, die es gibt.«

Ich weiß nicht, welcher Teil meiner Predigt sie schließlich berührt hat, doch auf einmal liegt Sabine an Mr. Muñoz’ Brust und schluchzt in sein Hemd. Ihre Schultern zittern heftig, während er ihr über das kinnlange blonde Haar und den Rücken streicht, ihr leise Trostworte ins Ohr flüstert und sie zu beruhigen sucht, bis sie sich so weit gefasst hat, dass sie mir wieder in die Augen sehen kann.

Ich sitze ruhig da und weiß ganz genau, wie sie sich fühlt, denn ich weiß nur allzu gut, wie ich anfangs reagiert habe, als auf einmal meine geisterhafte kleine Schwester vor mir stand – wie ich leugnete, dass das real war. Und wie ich Damen an jenem Tag auf dem Schulparkplatz behandelt habe, als er mir zum ersten Mal reinen Wein über meine Existenz einschenkte – wie ich beschloss, ihn aus meinem Leben zu verbannen, und ihn mit grausamen, von Angst getriebenen Worten wegschickte, statt mich einer Wahrheit zu stellen, auf die ich absolut nicht vorbereitet war.

Wir sind gar nicht so verschieden, Sabine und ich.

Ich weiß, wie es ist, wenn um einen herum auf einmal alles auf dem Kopf steht.

Und so sage ich nach einer Weile: »Es tut mir echt leid, dass ich dich damit so überfallen muss. Ich weiß, es ist eine ganze Menge zu verdauen. Aber ich wollte, dass du es weißt, ehe …«

Sie hebt den Kopf. Ihre Augen sind rot und voller Tränen, als sie mich ansieht.

»Ich wollte nur, dass du es weißt, ehe ich wieder in den Normalzustand zurückkehre.«

Sie blinzelt und schüttelt den Kopf. »Was?«, murmelt sie und wischt sich mit dem Ärmel das Gesicht. »Das verstehe ich nicht.«

Ich hole tief Luft, schaue auf meine Füße und schinde einen Moment lang Zeit, da ich erst die richtigen Worte finden muss. Dann sehe ich sie an. »Offen gestanden, bin ich mir gar nicht mal wirklich sicher, ob ich es so ganz begreife. Es ist eine so lange Geschichte, und es gibt so vieles zu erklären … Aber die Einzelheiten sind sowieso nicht so wichtig. Ich dachte nur … na ja, also ich habe gehofft, dass wir, wenn ich ganz offen bin und dir erkläre, wer ich jetzt bin … also, dass wir dann, wenn ich nicht mehr so bin, wieder Freunde sein können. Du weißt schon, ohne das ganze Brüllen und Schreien und gegenseitige Beschimpfen. Natürlich nur, wenn du willst. Es liegt mehr oder weniger an dir. Ich verspreche, deine Entscheidung zu respektieren, wie auch immer sie ausfällt.«

Sabine steht auf und geht mit ausgestreckten Armen auf mich zu, aber ich bin schneller als sie – so viel schneller, dass ich mich schon an sie schmiege, bevor sie auch nur um die Ecke des Couchtischs gebogen ist.

Und es ist ein so gutes Gefühl, wieder bei ihr zu sein, dass ich ebenfalls weinen muss. Wir werden zu einem nassen, tränenüberströmten, Entschuldigungen stammelnden Kuddelmuddel, bis mir Mr. Muñoz wieder einfällt und ich mir die Augen wische. »Hey, gibt es irgendwas, was ihr euch wünscht?«, sage ich und sehe zwischen ihnen hin und her. »Ihr habt ja gesehen, was ich alles machen kann, wozu ich im Stande bin. Also, wenn ihr mal nachdenkt, was darf es dann sein? Ein neues Auto? Ein Ferienhaus in exotischer Lage? Backstage-Pässe für Bruce Springsteen?« Ich zwinkere Mr. Muñoz zu, da ich weiß, was für ein großer Fan er ist.

Doch sie schütteln alle beide den Kopf.

»Seid ihr sicher?« Ich runzele die Stirn, da ich ihnen unbedingt etwas schenken will. »Also, ich weiß aber nicht, ob ich das alles noch kann, wenn ich erst einmal … wieder so werde wie früher. Ich verliere dann vielleicht alle meine Kräfte oder zumindest einen Teil meiner Kräfte. Was heißt, dass dies eure letzte Chance sein könnte.«

Sabine geht zurück zu Mr. Muñoz und legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Was soll ich denn noch wollen, wenn ich alles, was ich mir je erträumt habe, direkt hier habe?«

Und da sehe ich es.

Da sehe ich den nagelneuen, glitzernden Verlobungsring an ihrem linken Ringfinger.

»Familie ist das Einzige, was mir je etwas bedeutet hat«, sagt sie und zieht mich in ihren Kreis mit hinein. »Und jetzt, da du wieder da bist, habe ich alles, was ich brauche.«