EINS
Ever – warte!«
Damen greift nach mir, packt mich an der Schulter und will mich aufhalten, mich zu sich zurückholen, doch ich gehe weiter, kann mir keine Verzögerung erlauben. Nicht, wenn wir so kurz davor sind, schon fast am Ziel.
Die Sorge perlt von ihm ab wie Regen von einer Windschutzscheibe, während er zu mir aufschließt und seine Finger mit meinen verflicht.
»Gehen wir lieber zurück. Hier kann es nicht sein. Hier sieht nichts auch nur ansatzweise ähnlich aus.« Er wendet sich von der befremdlichen Landschaft ab und sieht mich an.
»Du hast Recht.« Ich halte mich weiter am Rand, während ich hastig atme und mein Herz zu rasen beginnt. Kurz mustere ich meine Umgebung, ehe ich es wage, weiter vorzudringen. Ein kleiner Schritt nach dem anderen, bis meine Füße so tief in den schlammigen Boden einsinken, dass sie vollständig darin verschwinden. »Ich wusste es«, flüstere ich kaum hörbar, obwohl ich eigentlich gar nichts sagen muss, damit Damen mich versteht. Wir können genauso gut telepathisch kommunizieren. »Es ist genau wie in dem Traum. Es ist …«
Er sieht mich an. Wartet ab.
»Also, es ist genau, wie ich es mir vorgestellt habe.« Ich schaue in seine dunkelbraunen Augen und halte seinen Blick fest, da er sehen soll, was ich sehe. »Das Ganze, alles ist irgendwie … es ist, als hätte sich alles meinetwegen verändert. «
Er stellt sich dicht neben mich und lässt mit gespreizten Fingern langsam seine Hand über meinen Rücken kreisen. Er will mich beruhigen, alles bestreiten, was ich soeben gesagt habe, doch er spart sich die Worte. Ganz egal, was er sagt, ganz egal, wie gut und stichhaltig ein Einwand von ihm auch sein mag – er weiß, dass es zwecklos ist. Weiß nur allzu gut, dass er mich nicht umstimmen kann.
Ich habe die alte Frau gehört. Und er auch. Ich habe gesehen, wie sie mit dem Finger auf mich gezeigt, wie sie mich vorwurfsvoll angestarrt hat – und ich habe ihr unheimliches Lied mit seinem rätselhaften Text und seiner gespenstischen Melodie vernommen.
Die nur für mich gedachte Warnung.
Und jetzt das.
Seufzend blicke ich darauf herab – auf Havens Grab sozusagen. Die Stelle, an der ich erst vor wenigen Wochen ein tiefes Loch ausgehoben habe, um ihre Sachen zu begraben – die Kleider, die sie trug, als ich ihre Seele ins Schattenland schickte, das Einzige, was noch von ihr übrig war. Eine Stelle, die mir heilig war, die aber jetzt verändert, verwandelt ist. Die einst fette Erde ist nun ein nasser Sumpf ohne jegliche Spur der Blumen, die ich manifestiert habe, ohne jegliches Anzeichen von Leben. Die Luft schimmert und glänzt nicht mehr, sondern gleicht mehr oder weniger der im dunklen Teil des Sommerlands, auf den ich zuvor gestoßen bin. So düster, so dräuend in Aussehen und Wirkung, dass Damen und ich die einzigen Lebewesen sind, die sich überhaupt dort in die Nähe wagen.
Die Vögel halten sich am Rand – am Grassaum, der allmählich zusammenschrumpft, was mir Beweis genug dafür ist, dass sich all das hier meinetwegen verändert hat.
Wie Dünger, der auf eine kleine Fläche Unkraut gestreut wird, hat jede unsterbliche Seele, die ich ins Schattenland geschickt habe, das Sommerland befleckt und infiziert. Hat sein Gegenteil, sein Schattenselbst erschaffen – ein unwillkommenes Yin zum Yang des Sommerlands. Ein Ort, so finster, so trist und so abstoßend, dass Magie und Manifestieren nicht existieren können.
»Das gefällt mir nicht«, sagt Damen mit nervösem Unterton. Er blickt sich hektisch um und will eindeutig am liebsten verschwinden.
Und obwohl es mir auch nicht gefällt, obwohl auch ich am liebsten auf dem Fuße kehrtmachen und nie mehr zurückschauen möchte, ist es leider nicht so einfach.
Mein letzter Besuch liegt erst wenige Tage zurück, und obwohl ich weiß, dass ich getan habe, was ich tun musste, dass ich keine andere Wahl hatte, als meine einst beste Freundin Haven zu töten, kann ich es irgendwie nicht lassen, immer wieder hierherzukommen und um Vergebung zu bitten – Vergebung für meine Taten ebenso wie für ihre. Und dieser kurze Zeitraum genügte, um alles Helle zu vertreiben – es düster, matschig und kahl zu machen. Und das bedeutet, dass es meine Aufgabe ist, es daran zu hindern, sich immer weiter auszubreiten.
Noch schlimmer zu werden.
»Was genau hast du denn in dem Traum gesehen?«, fragt mich Damen mit ruhigerer Stimme und mustert mich aufmerksam.
Ich hole tief Luft und lasse die Hacken tiefer einsinken, sodass meine alte, abgenutzte Jeans im Schlamm hängt, aber das kümmert mich nicht. Ich kann mir eine frische, saubere manifestieren, sobald wir hier herauskommen. Meine Kleider sind angesichts all dessen meine geringste Sorge.
»Es ist kein neuer Traum.« Ich fange seinen Blick auf und sehe das Erstaunen in seiner Miene. »Ich hatte ihn schon mal. Vor langer Zeit. Kurz bevor du beschlossen hast, mich in Ruhe zu lassen, damit ich mich zwischen dir und Jude entscheiden kann.« Er schluckt schwer und fährt angesichts der unangenehmen Erinnerung kaum merklich zusammen. Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen, denn darauf wollte ich gar nicht hinaus. »Damals war ich mir sicher, dass Riley ihn geschickt hatte. Also, jedenfalls kam sie darin vor, und sie wirkte so munter und … lebendig.« Ich schüttele den Kopf. »Und ja, gut, vielleicht war sie es, vielleicht war es aber auch nur Wunschdenken, weil ich sie so vermisse. Doch kaum hatte sie meine Aufmerksamkeit geweckt, hab ich begriffen, dass sie wollte, dass ich dich sehe. Du warst der Mittelpunkt des Traums.«
Er macht große Augen. »Und …«, drängt er mich, während er sich auf das Schlimmste gefasst macht.
»Und … irgendwie warst du in so einem hohen, rechteckigen Glaskäfig gefangen und hast wie ein Löwe darum gekämpft freizukommen. Doch sosehr du dich auch angestrengt hast, du hast es nicht geschafft. Obwohl ich mich bemüht habe, dir zu helfen und dich auf mich aufmerksam zu machen, damit wir es gemeinsam versuchen können, war es als … als ob du mich nicht sehen könntest. Ich war gleich auf der anderen Seite, nur die Glasscheibe trennte uns, aber ich hätte ebenso unsichtbar sein können. Du hast mich überhaupt nicht wahrgenommen. Hast nicht gesehen, was direkt vor deiner Nase war …«
Er nickt. Nickt auf eine Weise, die mir sagt, dass jetzt seine logische Seite, die Seite, die schlüssige Erklärungen und leichte Lösungen liebt, die Oberhand übernehmen will. »Ein klassisches Traumszenario«, sagt er und blickt erleichtert drein. »Im Ernst. Klingt für mich, als fändest du, dass ich dir nicht genug Aufmerksamkeit widme – dass ich nicht richtig zuhöre – oder vielleicht sogar …«
Ehe er weiterreden kann, unterbreche ich ihn. »Glaub mir, es war nicht die Art Traum, die man in einem Handbuch für Traumdeutung findet. In dem Traum von heute Nacht, genau wie in dem Traum zuvor, hast du, als du begriffen hattest, dass du nicht dagegen ankommst, dass du für immer gefangen bist, einfach aufgegeben. Du hast die Fäuste sinken lassen, die Augen zugemacht und bist davongeglitten. Ins Schattenland.«
Er versucht es locker zu nehmen, aber er ist eindeutig genauso erschüttert, wie ich es war, als ich es geträumt habe.
»Und dann, direkt danach, verschwand auf einmal alles. Und mit ›alles‹ meine ich du, der Glaskäfig, der Hintergrund – einfach alles. Das Einzige, was noch übrig war, war dieses trübselige, feuchte Stückchen Erde, ganz ähnlich wie das, auf dem wir jetzt stehen.« Ich reibe die Lippen gegeneinander und sehe die Szene so plastisch vor mir, dass es ist, als steckte ich mittendrin. »Aber der letzte Teil war neu. Zumindest kam er im ursprünglichen Traum nicht vor. Auf jeden Fall habe ich in der Sekunde, als ich aufgewacht bin, gewusst, dass die beiden Träume nicht nur zusammenhängen, sondern auch mit dem Ort hier zu tun haben. Ich wusste, dass ich hierherkommen muss. Ich musste es selbst sehen. Sehen, ob ich Recht habe. Es tut mir nur leid, dass ich dich mitgeschleppt habe.«
Ich lasse den Blick über ihn schweifen, über sein zerzaustes Haar, das weiche, zerknitterte T-Shirt, die abgetragene Jeans – Kleidungsstücke, die er hastig zusammengesammelt hat, nur wenige Sekunden, bevor ich den goldenen Lichtschleier manifestiert habe, der uns beide hierhergeführt hat. Ich spüre, wie er seine starken Arme um mich schlingt, und seine Wärme erinnert mich daran, wie wir erst vor wenigen Stunden unter die Decke geschlüpft sind und uns eng umschlungen schlafen gelegt haben.
Damals, als unser einziges unmittelbares Problem Sabine war und die Frage, wie sie damit umgehen würde, dass ich nun schon die zweite Woche hintereinander nicht nach Hause gekommen bin.
Wie sie damit umgehen würde, dass ich sie beim Wort genommen habe, als sie gesagt hat, ich solle erst zurückkommen, wenn ich mir die Art von Hilfe gesucht hätte, die ich ihrer Überzeugung nach brauche.
Und obwohl ich keinen Zweifel daran hege, dass ich Hilfe brauche, vor allem angesichts all dessen, was vor mir liegt, handelt es sich dabei leider nicht um die Hilfe, die Sabine gemeint hat. Es ist nicht die Art von Hilfe, die man auf einem Rezept, auf der Couch eines Psychoanalytikers oder auch im neuesten Ratgeberbuch findet.
Es braucht etwas wesentlich Größeres als das.
Wir starren auf Havens Grab herab. Damens Gedanken verschmelzen mit meinen und erinnern mich daran, dass er – ganz egal, was die Folgen auch sein mögen, ganz egal, was vor uns liegen mag – für mich da ist. Ich hatte keine andere Wahl, als das zu tun, was ich getan habe.
Indem ich Haven getötet habe, habe ich Miles gerettet. Und mich selbst. Sie konnte mit der Macht nicht umgehen, hat jegliche Grenze überschritten. Dass ich sie unsterblich gemacht habe, hat eine ganz neue Seite an ihr zum Vorschein gebracht – eine, mit der wir nicht gerechnet hatten.
Doch da sind Damen und ich uns nicht ganz einig. Ich neige eher dazu, das zu glauben, was Miles gesagt hat, kurz nachdem ich ihn vor ihr gerettet habe. Dass an Havens dunkler Seite nichts Neues oder Überraschendes war, sondern sie seit jeher vorhanden gewesen sei und Haven schon immer entsprechende Anzeichen gezeigt habe. Als ihre Freunde haben wir uns eben bemüht, das zu ignorieren, es zu übergehen und nur das Gute zu sehen. Doch als ich ihr an jenem Abend in die Augen blickte und sah, wie sie vor Siegesgewissheit leuchteten, als sie Romans Hemd – meine letzte Hoffnung darauf, das Gegengift zu bekommen, das es Damen und mir ermöglicht, richtig zusammen zu sein – in die Flammen warf, da hatte ich keinen Zweifel mehr daran, dass ihre dunkle Seite ihre besseren Anteile komplett ausgelöscht hatte.
Und was Drinas Ableben angeht, tja, da hieß es entweder töten oder getötet werden. Ganz einfach. Roman hat allerdings wirklich Pech gehabt – das war nichts weiter als ein Unfall. Ein Missverständnis tragischster Art, dessen bin ich mir mittlerweile sicher. Ich weiß in meinem tiefsten Herzen, dass Judes katastrophales Eingreifen eine Handlung war, die er nur mir zuliebe begangen hat. Mit den besten Absichten.
Wir entfernen uns vom Grab, langsam, feierlich, und sind uns nur allzu bewusst, dass die Antworten, die wir suchen, hier nicht zu finden sind und unsere beste Chance darin besteht, in den Großen Hallen des Wissens zu suchen und zu hoffen, dass uns das weiterbringt. Wir wollen schon dorthin aufbrechen, als wir es hören. Das Lied, das uns wie erstarrt stehen bleiben lässt:
Aus dem Lehm soll es
aufstehen
Sich erheben in weite Traumhöhen
Genau wie du-du-du sollst auch aufstehen
…
Damen umfasst meine Hand fester und zieht mich näher zu sich heran, ehe wir uns beide zu ihr umdrehen. Wir betrachten die langen Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf gelöst haben, der ihr über den Rücken fällt, und nun offen um ihr uraltes, verwittertes Gesicht schweben, was fast wie ein gespenstischer, silberner Heiligenschein aussieht. Ihre wässrigen, trüben Augen fixieren die meinen.
Aus den finsteren,
dunklen Tiefen
Kämpft es sich ans Licht
Sehnt sich nur nach einem
Der Wahrheit!
Der Wahrheit seines Wesens
Doch wirst du es lassen?
Wirst du es wachsen, gedeihen und blühen
lassen?
Oder wirst du es in den Abgrund stoßen?
Wirst du seine müde und matte Seele
verbannen?
Sie singt das Lied noch einmal und betont dabei das Ende jedes Verses. Immer lauter singt sie: »Aufstehen – Traumhöhen – sollst – Tiefen – Licht – einem – Wahrheit – Wesens – lassen – lassen – stoßen – verbannen – verbannen – verbannen« und wiederholt immer wieder den letzten Teil, während ihr Blick über mich gleitet, prüfend, beobachtend, obwohl ihre Augen blind zu sein scheinen. Dann hebt sie die knotigen, alten Hände, wölbt die Handflächen und hebt sie immer höher, ehe sie die Finger langsam senkt und Aschefontänen aus ihren Händen sprühen.
Damens Griff wird fester, und er wirft ihr einen harten, bedeutungsschwangeren Blick zu. »Nicht weitergehen«, warnt er sie. »Bleiben Sie sofort stehen. Kommen Sie nicht näher«, fügt er hinzu. Er spricht mit ruhiger und sicherer Stimme, jedoch mit einem drohenden Unterton, der nicht zu überhören ist.
Falls sie es gehört hat, so achtet sie nicht darauf. Ihre Füße halten nicht inne, schlurfen weiter, während sie den Blick auf mich fixiert hält und ununterbrochen das Lied singt. Erst kurz vor uns bleibt sie stehen, ganz am Rand des Geländes – der Stelle, wo das Gras endet und der Matsch beginnt –, und plötzlich verändert sich ihre Stimme und wird leiser. »Wir haben auf dich gewartet.« Sie verneigt sich tief vor mir, beugt sich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit und Anmut für jemanden, der so alt ist, so … von vorgestern.
»Das haben Sie schon gesagt«, erwidere ich zu Damens Bestürzung.
Geh nicht auf sie ein!, warnt er mich mental. Orientier dich an mir. Ich hole uns hier raus.
Ich bin sicher, dass sie seine Worte mitgehört hat, als sie den Blick auf ihn richtet. Ihre fleckigen, blassblauen Iriden rollen praktisch in den Höhlen, als sie ihn anspricht. »Damen. «
Auf der Stelle erstarrt er und bereitet sich seelisch und körperlich auf alles Mögliche vor – außer auf das, was als Nächstes kommt.
»Damen. Augustus. Notte. Esposito. Du bist der Grund.« Ihr dünnes Haar wirbelt in einer manifestierten Brise umher, die uns alle umweht. »Und Adelina die Heilung.« Sie presst die Handflächen aneinander und sieht mich eindringlich an.
Ich blicke zwischen den beiden hin und her und weiß nicht, was verstörender ist: die Tatsache, dass sie seinen Namen weiß – seinen ganzen Namen, einschließlich eines Bestandteils, den ich noch nie gehört habe, und eines anderen, den sie auf eine Art ausgesprochen hat, wie ich es noch nie gehört habe, oder die Art, wie Damen erbleicht und regelrecht erstarrt ist.
Ganz zu schweigen von der Frage, wer zum Kuckuck Adelina ist.
Doch die Antworten, die ihm durch den Kopf schwirren, ersterben, ehe sie seine Lippen erreichen, aufgehalten von ihrem Singsang, in dem sie erneut zu sprechen begonnen hat. »Acht. Acht. Dreizehn. Null. Acht. Das ist der Schlüssel. Der Schlüssel, den du brauchst.«
Ich sehe die beiden abwechselnd an und registriere, wie Damens Augen schmal werden, sich seine Kiefer verkrampfen und er mehrere unverständliche Worte murmelt. Dann umfasst er meine Hand noch fester und versucht, uns aus dem Matsch zu zerren, weg von ihr.
Trotz seiner Warnung, nicht zurückzuschauen, tue ich es doch. Ich blicke mich um und sehe direkt in diese wässrigen Augen. Die Haut der Frau ist so dünn, so durchscheinend, dass sie wie von innen erleuchtet wirkt, und erneut öffnet sie die Lippen. »Acht – acht – dreizehn – null – acht. Das ist der Anfang. Der Anfang vom Ende. Nur du kannst es entschlüsseln. Nur du – du – du – Adelina …«
Die Worte hängen in der Luft, eindringlich, höhnisch – und jagen uns den ganzen Weg aus dem Sommerland hinaus.
Den ganzen Weg zurück auf die Erdebene.