ZWEI
Wir können es nicht einfach ignorieren.« Ich drehe mich um und sehe ihn an, wobei ich ebenso weiß, dass ich Recht habe, wie ich weiß, dass er das anders sehen wird.
»Klar können wir das. Mach ich ja sowieso schon.« Seine Worte kommen viel schroffer heraus als geplant und lösen die Entschuldigung aus, die sogleich in seiner Hand erblüht – eine rote Tulpe an einem grünen Stängel.
Er überreicht sie mir, und ich nehme sie rasch entgegen, hebe sie mir an die Nase und lasse mir von den weichen Blütenblättern die Lippen streicheln, während ich den kaum wahrnehmbaren Duft einatme, den er dort für mich platziert hat. Er geht mehrmals zwischen Bett und Fenster hin und her, tappt mit nackten Füßen erst über den Steinboden, dann auf den dicken Teppich, erneut auf den Steinboden und wieder zurück. Mir ist bewusst, was für ein Konflikt sich in seinem Kopf abspielt, und ich weiß, dass ich mein Anliegen schnell vorbringen muss, bevor er sich eine feste Meinung gebildet hat.
»Du kannst nicht einfach etwas ignorieren, nur weil es unheimlich oder befremdlich oder in diesem Fall krass abstoßend ist. Damen, im Ernst, glaub mir, dass ich sie genauso schaurig finde wie du. Trotzdem kann ich nicht glauben, dass es ein vernachlässigbarer, bedeutungsloser Zufall sein soll, dass sie uns immer wieder findet. Es gibt keinen Zufall, das weißt du ganz genau. Sie will mir schon seit Wochen etwas mitteilen. Da ist das Lied und das Deuten mit dem Finger und das …« Mich fröstelt unwillkürlich, was er lieber nicht sehen soll, und so lasse ich mich aufs Bett fallen und reibe mir die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben. »Jedenfalls steht fest, dass sie uns etwas sagen, uns irgendeinen Hinweis geben will. Und ich finde, wir sollten wenigstens versuchen herauszufinden, was das sein könnte – meinst du nicht?« Ich halte inne, um ihm Gelegenheit zum Antworten zu geben, aber er gönnt mir lediglich ein abweisendes Schulterzucken, ein eckiges Kopfrucken und ein langes, lastendes Schweigen, während er mir den Rücken zuwendet und aus dem Fenster schaut. Sein Anblick zwingt mich förmlich zum Weiterreden. »Was kann es schon schaden, wenn wir der Sache nachgehen? Falls die Frau sich als so alt und verrückt und senil entpuppt, wie du glaubst, dann okay. Egal. Nichts passiert. Ich meine, warum sollen wir uns über ein paar Tage Zeitverschwendung den Kopf zerbrechen, wenn eine ganze Ewigkeit vor uns liegt? Falls sich allerdings herausstellen sollte, dass sie nicht verrückt ist, tja, dann …«
Ich kann meinen Satz nicht beenden, als er herumwirbelt und mich mit so finsterer und aufgewühlter Miene anfunkelt, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. »Was es schaden kann?« Sein Mund verzieht sich zu einem grimmigen Strich, während er mich mit seinem Blick förmlich durchbohrt. »Nach allem, was wir durchgemacht haben – musst du das wirklich noch fragen?«
Ich schabe mit der Schuhspitze am Teppich, während mir weitaus ernster zu Mute ist, als er begreift, weitaus ernster, als ich mir anmerken lasse. Instinktiv weiß ich in meinem tiefsten Inneren, dass die Szene, die wir soeben mit angesehen haben, weitaus mehr Bedeutung barg, als er zugeben möchte. Das Universum ist ganz und gar nicht zufällig. Es gibt einen klaren Grund für alles. Und ich hege keinerlei Zweifel in meinem Herzen, in meiner Seele, dass diese scheinbar verrückte alte Frau einen Schlüssel zu etwas anbietet, was ich wirklich wissen muss.
Nur leider habe ich keine Ahnung, wie ich Damen davon überzeugen soll.
»Möchtest du wirklich unsere Winterferien so verbringen? Dem Rätsel einer dementen Frau hinterherschnüffeln? Versuchen, eine tiefere Bedeutung aufzuspüren, die – meiner bescheidenen Meinung nach – überhaupt nicht existiert?«
Besser als die Alternative, denke ich, obwohl ich die Worte für mich behalte. Ich muss an Sabines Gesicht an dem Abend denken, als ich am frühen Morgen nach Hause gekommen bin – nur wenige Stunden, nachdem ich meine frühere beste Freundin ins Schattenland und zu der daraufhin spontan errichteten Gedenkstätte im Sommerland befördert hatte. Wie sie mich ansah, den Bademantel fest um den Körper geschlungen, der Mund farblos und verkniffen. Doch am schlimmsten waren ihre Augen – die sonst hellblauen Iriden waren von tiefvioletten Kreisen überschattet, die sich bis weit nach unten fortsetzten. Sie funkelte mich mit einer entsetzlichen Mischung aus Wut und Angst an und hielt mit barscher Stimme und in gemessenen Worten ihre einstudierte Rede, in der sie mich vor die Wahl stellte, entweder die Hilfe in Anspruch zu nehmen, von der sie glaubt, dass ich sie brauche, oder mir ein anderes Zuhause zu suchen. Natürlich war es reiner Trotz, als ich nur nickte, kehrtmachte und wieder zur Tür hinausging.
Und zu Damen fuhr, bei dem ich seither wohne.
Ich verdränge den Gedanken und schiebe ihn in eine Ecke, um die ich mich später kümmern werde. Irgendwann muss ich unsere Probleme natürlich konkret angehen, doch im Moment hat eindeutig die Sache mit der dunklen Seite von Sommerland Priorität.
Ich kann mir keine Ablenkungen erlauben, nicht, solange ich noch ein gutes Argument in der Hinterhand habe. Etwas, von dem er zweifellos gehofft hat, dass es nicht erwähnt werden würde, das sehe ich an dem Hauch von Besorgnis in seinem Gesicht.
»Sie wusste deinen Namen«, sage ich, verärgert über die Art, wie er es beiläufig abtun will.
»Sie lebt im Sommerland, einem Ort, der von Wissen überquillt. Wo man nur danach greifen muss.« Er runzelt die Stirn. »Ich wette, das findet sich alles in den Großen Hallen des Wissens, und jeder kann es sich heraussuchen.«
»Nicht jeder«, wende ich ein. »Nur die Würdigen.« Schließlich habe ich das Gegenteil davon erlebt. Ich muss an die gar nicht so lange zurückliegende Zeit denken, als man mich zu den Unwürdigen zählte und die Großen Hallen des Wissens mir den Zutritt verwehrten, bis ich mich zusammenriss und meine gute Magie – wie Jude sagen würde – wiederfand. Eine schreckliche Zeit, die ich hoffentlich nie wieder erleben muss.
Damen sieht mich an, und auch wenn offenkundig ist, dass er nicht vorhat, in absehbarer Zeit nachzugeben, ist es ebenso offenkundig, dass er einen Kompromiss finden will. Diese Art von Abwehr und Ausweichen bringt uns nicht weiter. Wir müssen handeln. Wir müssen einen Plan fassen.
»Sie wusste, dass du Esposito geheißen hast.« Ich mustere ihn aufmerksam und frage mich, wie er aus der Nummer wieder herauskommen will. »Dein Waisenname«, füge ich hinzu, indem ich mich auf den Namen beziehe, den man ihm gegeben hat, als er noch sterblich war, kurz nachdem seine Eltern ermordet worden waren und er – mutterseelenallein auf der Welt – zu einem Mündel der Kirche wurde.
Seine Antwort kommt schnell. »Auch das ist eine Information, die jeder finden kann, der sie sucht. Es ist weiter nichts als eine unglückliche Erinnerung an eine lange zurückliegende Vergangenheit, auf die ich lieber nicht näher eingehe«, sagt er seufzend, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihm mitsamt der Atemluft langsam der Kampfgeist ausgeht.
»Sie hat dich auch noch bei einem anderen Namen genannt. Notte?« Ich sehe ihn an und vermittle ihm mit meinem Blick, dass, auch wenn er am liebsten das Thema wechseln möchte, ich damit noch nicht ganz fertig bin. Ich brauche Antworten. Wahre und stichhaltige Antworten. Ein Achselzucken und ein Stirnrunzeln reichen da absolut nicht.
Er wendet sich ab, jedoch nur für einen Moment, ehe er mich erneut ansieht. Die Art, wie seine Schultern sich senken, seine Hände tief in den Taschen verschwinden und seine Kinnpartie in stiller Resignation weich wird, verursacht mir ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn so bedrängt habe. Doch das Gefühl hält nicht lange an, sondern wird schon bald von Neugier überrollt. Ich schlage die Beine übereinander, verschränke die Arme und warte auf seine Antwort.
»Notte.« Er nickt und verleiht dem Namen einen melodischen italienischen Klang, den ich beim besten Willen nicht hinbekäme. »Einer meiner Namen. Einer der vielen, vielen Nachnamen, die ich schon getragen habe.«
Ich sehe ihn an, ohne zu blinzeln, da ich kein Wort verpassen möchte.
Von oben bis unten mustere ich seinen langen, schlanken Körper, während er schluckt, sich das Kinn reibt, die Beine an den Knöcheln übereinanderschlägt und sich gegen die Fensterbank lehnt. Einen Moment lang hantiert er an den Jalousien herum, blickt auf den Pool und den vom Mond beschienenen Ozean dahinter hinaus, ehe er die Lamellen schließt und sich zu mir umwendet. »Sie hat mich auch Augustus genannt, was mein zweiter Name war – mein Mittelname. Meine Mutter bestand darauf, dass ich einen bekam, obwohl das damals noch gar nicht so verbreitet war. Und da du und ich uns im August zum ersten Mal gesehen haben, am achten August genauer gesagt, habe ich ihn später als Nachnamen angenommen und ein bisschen verändert, damit er mehr wie der Monat klingt. Für mein Gefühl steckte eine tiefere Bedeutung dahinter, die Vorstellung, dass er mich irgendwie mit dir verbindet.«
Ich fummele an dem Kristallarmband herum, das er mir an dem Tag auf der Rennbahn geschenkt hat, leicht verwirrt von einem Gefühl, mit dem ich nicht gerechnet habe.
»Aber du musst verstehen, Ever, ich lebe schon sehr lange. Ich hatte keine andere Wahl, als meine Identität immer wieder zu verändern. Ich konnte es mir nicht erlauben, irgendjemanden Wind von meiner abnorm langen Lebensdauer kriegen zu lassen oder von der Wahrheit darüber, was ich bin.«
Ich nicke, denn alles, was er bisher gesagt hat, klingt völlig logisch, aber es steckt noch wesentlich mehr dahinter, und das weiß er auch. »Und wie weit zurück reicht dann eigentlich der Name Notte?«, erkundige ich mich.
Er schließt die Augen und reibt sich die Lider. Mit geschlossenen Augen spricht er weiter. »Bis ganz zurück. Ganz zum Anfang. Es ist mein Familienname. Mein richtiger Nachname.«
Ich bemühe mich, ruhig zu atmen, entschlossen, nicht überzureagieren. In meinem Kopf überschlagen sich so viele Fragen, wobei die brennendste die ist: Woher zum Teufel wusste die alte Frau das? Schon bald gefolgt von: Wie zum Teufel konnte die alte Frau das wissen, wenn nicht einmal ich es wusste?
»Es gab keinen Grund, es zu erwähnen.« Er reagiert auf meinen unausgesprochenen Gedanken. »Die Vergangenheit ist, was sie ist – vergangen. Es gibt keinen Grund, dorthin zurückzukehren. Ich konzentriere mich viel lieber auf die Gegenwart, auf das Jetzt, auf den aktuellen Moment.« Seine Miene wird etwas heller, während er mich mit seinen braunen Augen ansieht. In ihnen leuchtet die Verheißung einer ganz neuen Idee, und er macht einen Schritt auf mich zu, voller Hoffnung, dass ich auf das Ablenkungsmanöver eingehe.
Doch ich halte ihn auf. »Du scheinst aber nichts gegen einen Besuch in der Vergangenheit zu haben, wenn wir zum Pavillon gehen.« Als ich sehe, wie er zusammenfährt, schelte ich mich innerlich selbst für meine Unfairness.
Der Pavillon, das schöne Geschenk, das er zu meinem siebzehnten Geburtstag manifestiert hat, ist der einzige Ort, wo wir wirklich zusammen sein können – na ja, zumindest innerhalb der Grenzen der jeweiligen Zeit. Jedenfalls ist es der einzige Ort, wo wir echten Hautkontakt auskosten können und keine Angst zu haben brauchen, dass er sterben muss, da wir keine Angst vor dem DNA-Fluch zu haben brauchen, der uns hier auf der Erdebene voneinander getrennt hält. Wir wählen einfach eine Szene aus einem unserer früheren Leben, blenden uns hinein und lassen uns von dem herrlichen romantischen Augenblick mitreißen. Und ich muss unumwunden zugeben, dass ich es ebenso genieße wie er.
»Tut mir leid«, setze ich an. »Ich wollte nicht …«
Doch er winkt nur ab und nimmt seinen Posten an der Fensterbank wieder ein. »Also, was soll ich für dich tun, Ever?« Sein Blick macht in puncto Freundlichkeit wett, was seinen Worten zu fehlen scheint. »Wo soll ich jetzt anfangen? Ich bin gerne bereit, dir alles, was du wissen willst, über meine Vergangenheit zu erzählen. Ich kann dir auch einen Zeitplan geben mit jedem Namen, unter dem ich je bekannt war, eingeschlossen der Grund, warum ich ihn gewählt habe. Dazu brauchen wir keine verrückte alte Frau. Ich habe nicht die Absicht, irgendetwas vor dir geheim zu halten oder dich in irgendeiner Form zu täuschen. Der einzige Grund, warum wir das nicht schon längst besprochen haben, ist der, dass es mir so unnötig erschien. Ich blicke viel lieber nach vorn als zurück.«
Während wir einen Moment lang schweigen, reibt er sich die Augen und unterdrückt ein Gähnen. Ein rascher Blick auf seinen Wecker sagt mir, warum – es ist immer noch tiefste Nacht. Ich habe ihn vom Schlafen abgehalten.
Ich strecke ihm meine Hand entgegen und ziehe ihn erst an mich und dann in Richtung Bett. Lächelnd verfolge ich, wie sein Blick zum ersten Mal aufleuchtet, seit er hochgeschreckt ist, als ich stöhnend und strampelnd aus einem schrecklichen Albtraum aufgewacht bin. Sofort umhüllt mich seine Wärme, die kribbelnde Hitze, die nur er erzeugen kann. Er schlingt die Arme um mich und schubst mich sanft nach hinten – auf die Laken, die zerdrückten Kissen und Decken, und schon streifen seine Lippen mein Schlüsselbein und wandern zu meinem Hals.
Meine Lippen sind an seinem Ohr, und ich knabbere sacht an seinem Ohrläppchen, ehe ich zu sprechen beginne. »Du hast Recht. Das hat Zeit bis morgen. Jetzt im Moment will ich einfach nur hier sein.«