EINUNDVIERZIG
Als ich fertig bin, stelle ich mich vor den Spiegel und mache eine Bestandsaufnahme. Ich gehe meine mentale Checkliste durch und vergewissere mich, dass alles da ist. Dabei höre ich Damens Stimme in meinem Kopf, die exakten Worte, die er benutzt hat, als er es mir erklärte. Sie versichern mir, dass jedes Detail, angefangen bei meinem feuerroten Haar, bis hin zu meinem aufwändigen Kleid, meinem koketten Blick, meiner inneren Stärke und meiner Demut, seinen Ursprung in der Vergangenheit hat, während meine Augen selbst unverändert bleiben, ewig gleich, ganz egal, was für eine Verkleidung meine Seele sich auch ausgesucht hat. Ich bin dem Bild, das er gemalt hat, so nahe wie möglich gekommen – eingeschlossen ein paar neue Anspielungen auf Emala und Adelina, von denen ich damals nichts wusste –, bis mir noch ein letztes Detail einfällt. Ein letztes Detail, von dem ich nicht weiß, ob ich es hinkriege.
Die hauchdünnen Flügel.
Kaum habe ich sie mir auf den Rücken manifestiert, komme ich mir albern vor.
Es ist albern und peinlich – und na ja, ein bisschen schäme ich mich auch.
Auf keinen Fall kann ich meinen Gästen so unter die Augen treten. Sie würden es nicht verstehen. Sie würden es falsch auffassen. Sie würden glauben, ich bilde mir ein, ich sei so etwas Besonderes, dass ich geradezu von den Engeln herabgestiegen bin, um unter ihnen zu wandeln. Obwohl nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte.
Ich presse die Lippen zusammen und will gerade die Augen schließen und die Flügel verschwinden lassen, als mir einfällt, dass ich es nicht für die anderen tue. Ich tue es für Damen. Oder vielmehr für Damen und mich.
An dem Abend, als er im Getty-Museum mein Porträt gemalt hat, hat er behauptet, sie seien da und nur er allein könne sie sehen. Er meinte allerdings, dass nur er sie sehen könne, hieße nicht, dass sie nicht real seien. Und obwohl ich mir sicher bin, dass kein Mensch meine Absichten verstehen wird, geht es doch einzig und allein darum, dass Damen es begreift. Dass der Anblick meines Kostüms ihn davon überzeugt, was wir tun müssen.
Ich hoffe nur, er sieht mich noch in dieser Weise.
Ich hoffe nur, ich versuche nicht, etwas wiederzuerlangen, was gar nicht mehr existiert.
Ich fummele an meiner Frisur herum, da ich es nicht gewohnt bin, mich mit roten Haaren zu sehen, außer wenn ich als Fleur im Pavillon bin, doch mir gefällt auch die Veränderung in diesem Leben. Dann streiche ich noch einmal mit den Händen über mein langes, dünnes Abendkleid, werfe einen letzten Blick in den Spiegel und gehe hinaus, ehe mir komplett die Nerven durchgehen.
Inzwischen ist das, was sich Sabine und Mr. Muñoz zusammen mit ihrem Team aus begabten Dekorateuren ausgemalt haben, in voller Pracht vollendet worden. Ich fühle mich, als schwebte ich durch eine mystische Zauberwelt, machte eine Zeitreise in die Vergangenheit, als ich die einzelnen Räume durchschreite, von denen jeder anders gestaltet ist, obwohl alles bis ins letzte Detail aufeinander abgestimmt ist.
Die Küche ist die griechische Antike, das große Fernsehzimmer die italienische Renaissance, das Badezimmer das Hochmittelalter – abgesehen davon, dass Waschbecken und Toilette funktionieren! –, das Esszimmer das Frühmittelalter, und das Wohnzimmer beschwört die viktorianische Epoche herauf, wohingegen der Garten ein Abbild der Sechzigerjahre bietet. Während sich das Haus allmählich mit mehr und mehr kostümierten Gästen füllt, stelle ich erstaunt fest, wie viel Spaß dieses Konzept macht.
Die Party hat gerade erst angefangen, trotzdem sind bereits sämtliche Lieblingsfiguren aus der Vergangenheit, also sozusagen die üblichen Verdächtigen, vertreten. Cleopatra begegnet nicht nur Mark Anton, sondern auch Marie-Antoinette und der Jungfrau von Orléans, Janis Joplin und Alexander dem Großen, Napoleon und Einstein sowie einem Typen mit langem Mantel und Zauselbart, der vermutlich Konfuzius darstellen soll. Ein anderer mit einem langen grauen Bart plärrt Prophezeiungen heraus und fühlt sich offenbar als Nostradamus. Unwillkürlich muss ich darüber schmunzeln, dass immer alle glauben, sie seien eine Berühmtheit gewesen. Niemand sieht sich selbst je als Dienstmagd oder Sklavin, wie ich eine war.
Miles findet mich als Erster und kommt Hand in Hand mit Holt auf mich zu. Noch ehe ich fragen kann, zeigt er auf sich selbst und sagt: »Leonardo da Vinci. Attraktiv, begabt und das ultimative Universalgenie – das passt doch, oder?«
Ich nicke zustimmend, richte den Blick auf Holt und mustere seinen silbernen Haarschopf und den strengen schwarzen Rollkragenpullover. »Okay, du bist entweder Andy Warhol oder Albert Einstein …«
Doch ehe er mir antworten kann, erscheint Stacia als Marilyn Monroe – welch große Überraschung – neben Honor, die sich als Pocahontas verkleidet hat – was wirklich eine große Überraschung ist.
»Wow, tolle Kostüme.« Ich nicke beiden anerkennend zu.
Stacia streicht ihr rückenfreies, weißes Kleid glatt, während Honor die langen, schwarzen Zöpfe schwenkt und sagt: »Okay, ich war nicht direkt Pocahontas, aber ich hatte ein Leben als amerikanische Ureinwohnerin.«
Ich blinzele und frage mich, ob das heißt, dass sie es ins Sommerland geschafft hat.
Doch sie liefert die Erklärung sofort nach, indem sie sagt: »Romy und Rayne haben mich hypnotisiert.«
Ich sehe sie scheel an. Was redet sie denn da für Zeug?
»Weißt du, sie haben eine Reinkarnationstherapie mit mir gemacht. Sie sind ziemlich gut darin. Inzwischen überlegen wir schon, ob wir das im Laden anbieten sollen – natürlich mit Avas Unterstützung.«
»Wow«, staune ich. »Ich hatte ja keine Ahnung.« Irgendwie kränkt es mich ein bisschen, dass ich so vieles verpasst habe und dass sie so locker ohne mich weitergemacht haben. Doch dann schüttele ich den Kopf, streiche den Gedanken und wende mich wieder Miles zu. »Und, hast du dich auch hypnotisieren lassen? Heißt das, du warst tatsächlich Leonardo?«
Doch gerade als er mir antworten will, baut sich Jude vor mir auf, der als der sonst – na ja, zumindest bei mir – unter dem Namen Bastiaan de Kool bekannte Künstler erschienen ist. Er lässt sich Zeit damit, mich zu betrachten, und versucht, aus meiner Kostümierung schlau zu werden. Dabei studiert er mich so lange, dass es mir langsam unbehaglich wird. Ich werde so nervös und beklommen, dass ich Honor einen kurzen Blick zuwerfe, die von dieser intensiven Aufmerksamkeit sicher alles andere als begeistert ist.
»Verstehe«, sagt er. »Du hast von jeder ein Stück genommen. « Staunend schüttelt er den Kopf und lässt den Blick ein weiteres Mal über mich wandern. »Super Idee. Wünschte, es wäre meine gewesen.«
»Ich wünschte auch, es wäre meine gewesen.« Ich blicke quer über den Raum hinweg und winke Sabine und Mr. Muñoz zu, die als Wikingerprinzessin beziehungsweise William Shakespeare kostümiert sind, ehe ich mich wieder Jude zuwende. »Es war Damens Idee.«
»Ist er da?«, will Stacia wissen. Ihre Wangen laufen rot an, als sie begreift, wie ich das auffassen könnte – dass ich nach allem, was zwischen uns dreien abgelaufen ist, ihr Interesse leicht falsch interpretieren könnte. »Also, nicht dass es mir wichtig wäre.« Sie hält inne, als sie merkt, dass das womöglich noch schlimmer geklungen hat, und fügt hastig hinzu: »Ich meine, natürlich ist es wichtig – aber es ist mir nicht so wichtig, wie du jetzt vielleicht denkst.«
Ich lege ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm und sage ihr, dass sie sich keinen Kopf machen soll, als mich auf einmal ein so heftiger Ansturm von Energie überfällt, dass ich das Gefühl habe, im Auge ihres ganz persönlichen Tornados festzusitzen. Und obwohl ich mich rasch losmache, registriere ich, dass es gar nicht so negativ war. Ja, ich habe sogar einen kurzen Blick darauf werfen können, wie weit sie gekommen ist und wie ernst es ihr damit ist, was sie gesagt hat.
Ich sehe sie an und versuche, positiver zu klingen, als mir zu Mute ist. »Ehrlich gesagt«, erwidere ich, »habe ich keine Ahnung, ob er kommt, aber ich hoffe es.«
Ava winkt mir von der anderen Seite des Zimmers und bedeutet mir, dass ich zu ihr ins Fernsehzimmer rüberkommen soll, wo sie in ihrer Verkleidung als John Lennon neben Rayne steht, die einen Pillbox-Hut, pieksaubere weiße Handschuhe und ein perfektes Kostümchen trägt, kombiniert mit der schwungvollen Frisur von Jackie O., während Romy als Jimi Hendrix erschienen ist und sich sogar eine E-Gitarre umgehängt hat. Dies ist das totale Gegenteil dessen, was ich erwartet hätte, aber, offen gestanden, bin ich in all der Zeit nie richtig schlau aus den beiden geworden.
Ich will ihnen gerade dafür danken, dass sie so gute Arbeit geleistet und mir im Lauf des vergangenen Jahres so viel geholfen haben, als sich jemand von hinten an mich heranschleicht und sagt: »Und so ist es geschehen.«
Ich wende mich um, da ich die Stimme auf der Stelle erkannt habe.
Sie sieht älter aus. So zart und gebrechlich, dass ich mir unwillkürlich Sorgen um ihre Gesundheit mache. Der Stock, mit dem ich sie einst sah, ist wieder da. Doch dann begreife ich, warum – es ist das erste Mal, dass ich sie auf der Erdebene zu Gesicht bekomme. Nachdem sie sich so lange im Sommerland aufgehalten hat, fordert die irdische Schwerkraft ihr einen ziemlich hohen Tribut ab.
»Von dem Moment an, als ich dein Leuchten sah, wusste ich es.«
Sie ist als Einzige nicht kostümiert, wobei angesichts ihres Baumwollkittels mit den dazupassenden Hosen wohl die meisten annehmen werden, sie wäre es.
»Aber ich leuchte nicht«, entgegne ich, während ich langsam begreife, wie seltsam sie hier in diesem Umfeld wirkt. Wie wenig sie hineinpasst. »Ich habe keine Aura«, füge ich hinzu. »Unsterbliche haben keine.«
Doch das ignoriert sie. »Auren sind ein Spiegelbild der Seele«, sagt sie. »Und deine ist wunderschön. Du bist doch auf ihr Vorhandensein hingewiesen worden und hast einen Blick auf sie erhascht, oder?«
Ich blicke auf meine Hände herab und muss daran denken, wie ich sie in einem herrlichen Violett leuchten sah, damals im Sommerland, als ich noch auf meiner Reise war. Ich weiß noch, wie ich die Farbe von irgendwo ganz tief drinnen pulsieren spürte und mich das intensive Gefühl dazu anregte weiterzumachen. Dann erinnere ich mich noch daran, dass Drina es auch gesehen hat und eine Bemerkung darüber fallen ließ, gleich nachdem ich ihre Seele aus dem Schattenland befreit hatte. Und nun sieht Lotos es auch. Womit sich mir die Frage stellt, ob meine Aura vielleicht tatsächlich real ist und ob sie mir noch erhalten bleiben wird, selbst nachdem ich von der Frucht gekostet habe?
Was mich natürlich ins Nachdenken über Damen bringt, genauer gesagt darüber, ob er bereit sein wird, zusammen mit mir von der Frucht zu essen.
»Er braucht Zeit«, sagt Lotos, die meine Gedanken liest. »Im Gegensatz zu mir. Ich habe zu lange gewartet.«
Ich nicke und reiche ihr meine Hand, um sie die Treppe hinaufzuführen, doch sie schüttelt nur den Kopf und stützt sich auf ihren Stock.
Ich plane, zuerst ihr die Frucht zu geben, sie unter vier Augen davon essen zu lassen, ehe ich die anderen versammele, und wundere mich, als sie sich erneut in meine Gedanken einloggt und sagt: »Sie haben sich bereits versammelt und warten nur noch auf dich.«
Und tatsächlich, als wir das Fernsehzimmer neben meinem Schlafzimmer betreten, werden wir von einem verblüffenden Sortiment der ewig Jungen und Schönen begrüßt – der ewig Jungen und Schönen mit der besten Kollektion von Kostümen, die ich je gesehen habe. Manche von ihnen haben das Motto wörtlich genommen und sich als reale Personen verkleidet, während andere es im übertragenen Sinne aufgefasst haben und sich als Dinge wie Blumen und Bäume kostümiert haben – in einer Ecke steht sogar eine Sternschnuppe. Und falls es stimmt, dass alles Energie ist, falls es stimmt, dass wir alle verbunden sind, dann gibt es wirklich nichts, was uns von der Natur trennt – wir sind alle ein Teil des Ganzen.
Sie wenden sich zu mir um, über fünfzig Leute, die Roman für würdig erachtet hat, was nur etwa ein halbes Dutzend pro Jahrhundert macht – eine wesentlich kleinere Gruppe, als ich erwartet hätte, die aber immer noch viel größer ist, als ich gehofft hatte.
Und ehrlich gesagt, als ich sie wirklich alle wahrzunehmen beginne, so richtig jeden Einzelnen, komme ich mir allmählich ein bisschen albern vor in Bezug auf das, was ich ihnen vorschlagen will.
Schließlich haben diese Leute eine weite Reise auf sich genommen, allein zu dem Zweck, um genau das Leben, das sie mittlerweile gewöhnt sind, aufrechtzuerhalten. Diese Leute sind in jeder vorstellbaren Hinsicht derart weit entwickelt, sie sind derart weit gereist, derart erfahren und weltgewandt, dass sie mich ganz schön einschüchtern. Ich muss mich wirklich fragen, warum sie auf mich hören sollten – ein siebzehnjähriges Mädchen, dessen größte irdische Leistung bisher, abgesehen davon, den Baum zu finden, darin bestanden hat, es mit knapper Not durch die Highschool geschafft zu haben.
Warum sollten sie auch nur in Erwägung ziehen, alles, was sie seit so vielen Jahren kennen und lieben gelernt haben, für eine unbekannte, völlig abwegige Idee aufzugeben, die ich zwar locker erklären, aber nicht beweisen kann?
Doch dann sehe ich Lotos an, die mir aufmunternd zunickt. Ihre alten Augen machen mir Mut, und so schlucke ich meine Ängste hinunter und wende mich an die versammelte Runde. »Ich weiß, ihr rechnet alle mit Roman, aber Roman ist nicht mehr unter uns, also müsst ihr mit mir vorliebnehmen. Und auch wenn mir klar ist, dass ich mich nicht einmal ansatzweise mit ihm vergleichen kann, hoffe ich, dass ihr so nett seid, mir Gehör zu schenken, da ihr schon mal da seid.«
Daraufhin ertönt Gemurmel. Viel Gemurmel. Gepaart mit reichlich Gemecker. Das Murren wird dermaßen laut, dass ich mir zwei Finger in den Mund stecke und lange und durchdringend pfeife, damit sie still sind.
»Als ich gesagt habe, dass Roman nicht mehr unter uns ist, habe ich das im physischen Sinne gemeint. Sein Körper ist gestorben, doch seine Seele lebt weiter. Das weiß ich, weil ich es gesehen habe. Ich habe mit ihm kommuniziert. Die Seele stirbt nie. Jetzt ist er wirklich unsterblich.« Ich halte inne, da ich mit weiteren Ausbrüchen rechne, und staune über die Stille, die mir stattdessen entgegenschlägt.
»Während ihr nun das Elixier erwartet, möchte ich euch etwas anderes anbieten.« Ich wende mich zur Seite, betrachte die vielen Flaschen roten Safts, die zur Kühlung in meinem Mini-Kühlschrank liegen, und ändere spontan meine Taktik. »Nein, eigentlich will ich euch die Wahl zwischen zwei Alternativen lassen.« Mein Blick fällt auf Lotos, da ich Angst vor ihrer Meinung habe, doch sie nickt lediglich abermals aufmunternd und ist von meinen Worten nicht im Geringsten verärgert. »Ich halte es nur für fair, dass ihr eine echte Wahl treffen könnt. Aber ich möchte, dass ihr euch eure Entscheidung gut überlegt, denn es könnte sein, dass heute die einzige und letzte Gelegenheit dazu besteht. Also, kurz gesagt, ich biete euch einen Schluck von dem Elixier an, das euer Leben in der Form verlängern wird, wie ihr es schon kennt – eure Jugend, eure Schönheit und eure Lebenskraft werden erneut um hundertfünfzig Jahre verlängert –, aber ihr müsst wissen, dass es das nicht umsonst gibt. Ihr könnt trotzdem sterben. Wenn eines eurer schwachen Chakren angegriffen wird, löst sich euer Körper auf, und eure Seele sitzt im Schattenland fest – einem schrecklichen Ort, wo es euch nicht gefallen wird. Oder …« Ich halte inne, da ich weiß, wie wichtig der nächste Teil ist, und ich es unbedingt richtig rüberbringen und vermitteln will, wie wichtig es ist, ehe sie mir nicht mehr zuhören. »Oder ihr könnt von der Frucht essen, die ich vom Baum des Lebens gepflückt habe – der Frucht, die wahre Unsterblichkeit bietet, die Unsterblichkeit der Seele. Und nur damit ihr Bescheid wisst, wenn ihr davon esst, wird alles, was ihr jetzt seid, rückgängig gemacht. Eure Körper werden altern und verfallen und ja, ihr werdet eines Tages sterben. Aber euer Wesen, eure wahre Essenz, eure Seele, wird in die Ewigkeit eingehen, so wie es seit jeher vorgesehen war.« Ich beiße mir auf die Lippen und gestikuliere nervös mit den Händen herum. Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen hatte. Jetzt ist es an ihnen zu wählen. Und obwohl ich finde, dass es nur eine Wahl geben kann, ist es immer noch eine ziemlich weitreichende Entscheidung.
Nun erhebt sich heftiges Debattieren, es gibt zahlreiche Fragen und Mutmaßungen, und da ohnehin bereits alle Lotos für verrückt halten und mich alle für die Freundin desjenigen halten, den zu hassen sie konditioniert worden sind, liegt ziemlich klar auf der Hand, dass meine kleine Rede nicht annähernd so gut angekommen ist, wie ich gehofft habe.
Doch gerade als ich mir sicher bin, sie lediglich davon überzeugt zu haben, sich für weitere hundertfünfzig Jahre dessen, was sie kennen und lieben gelernt haben, zu entscheiden, treten die Blume, die Sternschnuppe und der Baum aus der Menge heraus und kommen zu mir herüber. Erstaunt blinzele ich, als ich erkenne, dass es sich um Misa, Marco und Rafe handelt.
Sie leuchten.
Eindeutig und unverkennbar leuchten sie.
Ihre Auren strahlen hell und glitzern unübersehbar, genau wie kürzlich, als sie vom Baum stiegen.
Sie knüpfen dort an, wo ich aufgehört habe, erzählen ganz begeistert, fallen sich gegenseitig ins Wort und schildern die wundersame Verwandlung, die sie in dem Moment durchlebt haben, als sie von der Frucht aßen.
Sie berichten den anderen, was ich bereits als wahr erspürt habe – das ganze Jubeln und Grölen, in das sie ausbrachen, nachdem sie die Frucht gegessen hatten, kam nicht daher, weil sie sich eingebildet hätten, sie hätten sich die körperliche Unsterblichkeit gesichert, sondern weil sie spürten, dass die Unsterblichkeit ihrer Seelen wiederhergestellt war.
Sie hatten das erhebende Erlebnis, wie sich ihr Karma mit dem Universum versöhnt hat.
Während sie noch reden, sieht Lotos mich an, hebt die Hände mit dachförmig aneinandergelegten Fingerspitzen in einem stillen Segenswunsch vor die Brust und legt einzelne Stücke der Frucht in kleine Pappbecher, für jeden eine Portion, bevor sie sich selbst eine nimmt und mich ansieht. »Bitte, komm mit.«
Ich zögere. Ich will den Augenblick miterleben, wenn die Unsterblichen, überzeugt von allem, was sie gerade vernommen haben, alle wie ein Mann nach vorn treten und ihren neuen Weg wählen.
Doch Lotos schüttelt nur den Kopf. »Du hast getan, was du konntest«, sagt sie. »Alles Weitere ist an ihnen.«
Ich blicke mich um, sehe, wie die Menge sich dichter um Misa, Marco und Rafe schart, dann folge ich Lotos die Treppe hinunter und durchs Haus, wo wir unterwegs Ava, die Zwillinge, Jude, Stacia, Honor, Miles, Holt und sogar Sabine und Mr. Muñoz einsammeln, da sie diese letzte Reise mit all jenen gemeinsam antreten will, die ihr geholfen haben, so weit zu kommen.
Sie führt uns in den Garten, wo sie die Schuhe abstreift, die Augen schließt und seufzend die Zehen im Gras vergräbt. Dann hebt sie den Kopf, sieht uns einen nach dem anderen an, ehe sie ihren Blick auf mir ruhen lässt. »Du hast mich erlöst«, sagt sie. »Meine Dankbarkeit dir gegenüber ist grenzenlos, denn dein Vertrauen zu mir hat dich persönlich sehr, sehr viel gekostet. Das tut mir leid.«
Sie nickt und macht eine angedeutete Verbeugung, und ich warte, dass sie weiterspricht und mir versichert, dass ich mir keine Sorgen machen soll und von jetzt an alles nur noch besser wird, doch stattdessen hebt sie den Becher an die Lippen und isst von der Frucht. Sie schließt die Augen, während ihre Hände nach oben schnellen. Ihre Finger lösen und die Handflächen öffnen sich, und im ganzen Garten wird es still, als Lotos im herrlichsten Goldton zu leuchten beginnt, den man sich nur vorstellen kann.
Mit strahlendem Gesicht lässt sie den Stock achtlos neben sich ins Gras fallen, während sie den Blick nach innen richtet – eine Zeugin für etwas Wunderbares, etwas, das nur sie allein sehen kann. Unwillkürlich schnappe ich nach Luft, als anstelle der Asche, die ich bisher stets zu sehen bekam, zwei makellose Lotosblüten aus ihren Handflächen erblühen.
Sie wendet sich zu mir um, steckt mir die eine hinters Ohr, legt mir die andere in die Hand und schließt sacht meine Finger um den Stängel. »Die ist für Damen«, sagt sie. »Du musst jetzt zu ihm gehen.«
Ich nicke, begierig darauf, genau das zu tun, doch ich will auch die Sache hier zu Ende bringen.
Ich bin hin- und hergerissen zwischen Gehen und Bleiben, als sich Jude zu mir herüberbeugt. »Er ist hier«, sagt er.
Ich sehe ihn an, während mir das Herz in den Hals hüpft, da ich denke, er spricht von Damen, doch schon bald begreife ich, dass er jemand anders gemeint hat.
»Ihr Mann. Er ist gekommen, um sie auf die andere Seite zu begleiten.« Er zeigt auf eine Stelle neben Lotos, die mir leer erscheint.
Lotos geht einen Schritt, zwei Schritte und verschwindet dann einfach. Ihr Körper war so alt, so verbraucht, dass er, als ihre Unsterblichkeit rückgängig gemacht wurde, der Schwerkraft auf der Erdebene einfach nicht mehr standhalten konnte. Dennoch hat sie genau das bekommen, was sie wollte, wonach sie all die Zeit gestrebt hat. Und sie lässt nichts weiter zurück als ein glitzerndes Häufchen Goldstaub.
Alle schweigen, da keiner die Stimmung durch Worte beeinträchtigen will.
Alle außer Stacia, die herausplatzt: »Okay, jetzt, da wir das hinter uns gebracht haben, kann mir bitte jemand sagen, wo ich diesen superheißen Typen finde, der als Gladiator verkleidet ist?«
Miles und Holt prusten vor Lachen los und führen sie ins Haus, während Ava und die Zwillinge mit Sabine und Mr. Muñoz zurückbleiben und die Einzelheiten ihrer baldigen Hochzeit besprechen, bei der Romy und Rayne unbedingt Brautjungfern sein wollen.
Dann blickt Honor zwischen Jude und mir hin und her und sagt: »Okay, wir machen es folgendermaßen: Ich und mein Pocahontas-Kostüm gehen jetzt rein, damit ihr beiden klären könnt, was ihr klären müsst. Ehrlich, haltet ruhig euren kleinen Kriegsrat ab, redet euch alles von der Seele, und dann, Jude, wenn ihr fertig seid, wenn du bereit bist, deine ungeteilte Aufmerksamkeit mir und nur mir zuzuwenden, dann weißt du ja, wo du mich findest.«
Ich will sie zurückhalten, ihr sagen, dass wir nichts besprechen oder uns von der Seele reden müssen, dass wir alles geklärt haben und es nichts mehr zu sagen gibt. Doch sie dreht sich um und wirft mir einen Blick zu, der besagt, dass sie es ernst meint. Also lasse ich sie gehen und konzentriere mich auf Jude.
»So, Bastiaan de Kool.« Ich lächele und hoffe, wenn ich diesen Blick lange genug beibehalte, wird er sich echt anfühlen. Wie kann es sein, dass ich mich so leer fühle, nachdem ich so viel vollbracht habe? Aber ich weiß, warum, und werde mich demnächst darum kümmern. »Von all deinen Leben, war da das von Bastiaan dein liebstes?« Ich betrachte seinen weißen Baumwollkittel und die Hose mit den Farbklecksen.
Jude lacht mich aus seinen ozeangrünen Augen an und sagt: »Tja, jedenfalls ist er derjenige, der sämtliche Mädchen gekriegt hat. Oder vielmehr alle außer einer.«
Ich sehe zum Fenster und ertappe Honor dabei, wie sie uns beobachtet. Ihre Miene verrät, welch große Angst sie hat, Jude an mich zu verlieren. Und obwohl ich keine Ahnung habe, ob sie tatsächlich auf Dauer füreinander bestimmt sind, scheinen sie einander wirklich zu genießen und sich gegenseitig gutzutun, und das ist das Einzige, was momentan eine Rolle spielt.
»Gib ihr eine Chance«, sage ich zu Jude. Und als er das Wort ergreifen will, hebe ich die Hand und füge hinzu: »Als du mich das letzte Mal gefragt hast, was ich von ihr halte, war es kein Zufall, dass ich nicht geantwortet habe. Ich war mir wirklich nicht sicher. Aber jetzt bin ich mir sicher, und ich finde, du solltest ihr eine echte, uneingeschränkte und aufrichtige Chance geben. Sie hat sich enorm weiterentwickelt, seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe, und sie ist verrückt nach dir.« Ich fange seinen Blick auf. »Und, offen gestanden, finde ich, dass du ein Mädchen verdient hast, das verrückt nach dir ist. Ich finde, du hast so viel Glück verdient, wie du überhaupt aushältst. Außerdem«, fahre ich achselzuckend fort, »bist du nicht mehr Bastiaan, und ich bin trotz meiner roten Haare nicht mehr Fleur. Ebenso wenig bin ich Adelina oder Evaline oder Emala oder Chloe oder Abigail oder irgendeine davon. Das waren nur Rollen, die wir gespielt haben, bis es Zeit war, zur nächsten überzugehen. Und auch wenn wir immer einen Teil von ihnen in uns weitertragen werden, gibt es noch so viele andere Rollen für uns. Wenn du’s dir mal genau überlegst, ist in der großen Ordnung der Dinge unsere gemeinsame Zeit wie eine Prise Gewürz in der riesigen kosmischen Suppe – wichtig für den pikanten Geschmack, aber trotzdem nicht die wichtigste Zutat. Die Vergangenheit ist vorbei. Sie kann und soll nicht zurückgeholt werden. Das Einzige, was wir je haben, ist sowieso das Jetzt.« Ich nicke zum Fenster, wo Honor wartet. »Meinst du nicht auch, dass es an der Zeit ist, das zu akzeptieren?«
Jude sieht mich lange eindringlich an und nickt schließlich zustimmend. »Und du?«, fragt er und bleibt selbst dann noch stehen, als ich mich bereits zum Gehen gewandt habe. »Hast du das auch vor?«
Ich sehe mich um, erst zu ihm und dann nach unten, auf die Lotosblume in meiner Hand. »Ja«, sage ich. »Ab sofort.«