24.
Im Jahr 1689 wurde die Mission von Sault Saint-Louis verlegt, sie befand sich nun weiter stromaufwärts am St. Lawrence. Grund für die Verlegung waren die ausgelaugten Ackerböden. Der alte Ort (wo der Fluss Portage in den St. Lawrence mündet) hatte Kahnawaké geheißen, an den Stromschnellen. Nun gab man ihm den Namen Kateri tsi tkaiatat, die Stelle, an der Catherine begraben wurde. Den Leichnam nahmen sie trotzdem mit in das neue Dorf, das sie Kahnawakon nannten, in den Stromschnellen. Die alte Stelle erhielt nun nochmals einen neuen Namen, Kanatakwenké, der Ort des umverlegten Dorfes. 1696 zogen sie noch ein weiteres Mal um, auf die Südseite des großen Stroms. Die letzte Verlegung fand 1719 statt. Die Mission ließ sich an der Stelle nieder, an der sie noch heute steht, jenseits der Stromschnellen bei Lachine, das heute durch eine Brücke mit Montréal verbunden ist. Der Ort erhielt wieder den irokesischen Namen von 1676, Kahnawaké, beziehungsweise auf Englisch Caughnawaga. Im heutigen Caughnawaga befinden sich noch einige Reliquien der Catherine Tekakwitha, aber längst nicht mehr alle. Teile ihres Skeletts wurden über die Jahrhunderte abgegeben. Ihren Schädel trug man 1754 nach St. Régis, um die Gründung einer weiteren Irokesenmission feierlich zu begehen. Die Kirche, in der der Schädel verwahrt wurde, brannte nieder, er ging verloren.
KATERI TEKAKWITHA
17. April 1680
Onkweonweke Katsitsiio
Teotsitsianekaron
KATERI TEKAKWITHA
17 avril, 1680
La plus belle fleur épanouie
chez les sauvages
DAS ENDE VON F.S BERICHT ÜBER DIE LETZTEN VIER JAHRE IM LEBEN DER CATHERINE TEKAKWITHA
Also! Geschafft! Mein lieber alter Freund, ich habe getan, was getan werden musste! Ich habe getan, wovon ich geträumt habe, als du, Edith und ich auf den strengen Sitzen des System-Kinos saßen. Kennst du die Frage, mit der ich mich in jenen silbrigen Stunden abgequält habe? Endlich kann ich sie dir verraten. Wir befinden uns jetzt im Herzen des System-Kinos. Es ist dunkel, wir sichern uns gerade strategisch die Hoheit über die hölzernen Armlehnen. Draußen auf der grell erleuchteten, ewig langen Ste. Catherine Street versagt nur an einer einzigen Stelle das Neonlicht, über dem Kinoeingang sind zwei Buchstaben ausgefallen, die niemals repariert werden sollen. Als stem bezeichnet sich das Kino, das stem-Kino, das stem-Kino, das stem-Kino. Vegetarische Geheimbünde treffen sich regelmäßig unter dem Schild, um Schmuggelware von jenseits der Gemüsegrenze zu tauschen. Ihre Pupillen, winzig wie Stecknadelköpfe, tanzen beim Gedanken an ihren alten Traum: die totale Fastenkur. Einer berichtet von einer neuen Greueltat, die den Herausgebern des Scientific American nicht ein einziges mitfühlendes Wort wert war: »Es konnte nachgewiesen werden, dass ein Rettich, der aus der Erde gezogen wird, einen elektrischen Schrei hervorbringt.« Nicht einmal das Sonderangebot (drei Filme hintereinander zum Preis von 65 Cent) wird sie an diesem Abend trösten. Einer von ihnen stürzt sich verzweifelt auf einen Hotdog-Stand, sein irres Gelächter geht mit dem ersten Bissen im kläglichen Wimmern der Entzugssymptome unter. Die anderen sehen traurig zu ihm hinüber und trennen sich, um den Vergnügungen nachzugehen, die Montréal zu bieten hat. Es kommt dann schlimmer, als sie sich ausgemalt haben. Einer wird von einem Steakhaus verschlungen, dessen Küchenabzug zum Bürgersteig hinausgeht. Einer streitet sich in einem Restaurant mit einem Kellner, er behauptet, »Tomate« bestellt zu haben, lässt sich in einem suizidverdächtigen Anfall von Großmut aber schließlich überreden, die fälschlicherweise bestellten Spaghetti mit Fleischsauce zu akzeptieren. Doch das ist schon sehr weit weg von den säulenartigen Glaskästen, in denen die Kontrollabschnitte landen. Vor Stunden schon haben wir den Automaten zufriedengestellt und passiert. Und doch sollten wir nicht vergessen, dass diese Kästen weniger harmlos sind, als sie ausschauen. Wie oft ist es vorgekommen, dass ich hinter einem Besucher stand, dessen Karte von dem Automaten immer wieder ausgespuckt wurde, bis er gezwungen war, an der Kasse, bei einer verächtlich dreinblickenden Frau, sein Geld zurückzufordern. Mit diesen Frauen, die in den Kassenhäuschen postiert sind, ist nicht zu spaßen. Sie haben sich zur Aufgabe genommen, die Ste. Catherine Street vor der Selbstzerstörung zu bewahren, die winzigen Büros am Rand des Bürgersteigs, die sie ausfüllen und beherrschen, schützen die militärisch anmutenden Verkehrsströme durch eine Verwaltung, die die Vorzüge von Rotem Kreuz und Generalhauptquartier miteinander verbindet. Und was tut der unleidliche Kunde, der sein Geld zurückhaben will? An wen soll er sich wenden? War die grausame Weigerung in der Weise willkürlich, in der die gesellschaftlichen Strukturen das Verbrechen, wie behauptet wird, befördern, um sich selbst unverzichtbar zu machen? Dem Mann bleibt kein dunkler Rückzugsort, an dem er seinen Oh-Henry-Riegel essen kann – überhaupt sind die Süßigkeiten bedroht! Alles nur Suizidtheater für die Lebenden? Oder ist die Weigerung der gezahnten Automatenkehle im weitesten Sinne als salbungsvoll zu verstehen? Gibt sie das Öl ab, mit dem der neue König gesalbt wird? Haben wir hier einen Helden, der seinen Auftrag entdeckt? Wird hier der Eremit geboren, oder sein nicht weniger leidenschaftliches Gegenbild, der Anti-Eremit, aus dessen Saat die Jesuiten hervorgehen? Und ist diese Entscheidung – Heiliger oder Missionar, weiß oder schwarz – seine erste tragische Prüfung? Uns ist das egal, dir und Edith und mir, wir haben unbehelligt ein halbes Alphabet von Sitzreihen hinter uns gelassen und werden blendend unterhalten. Wir befinden uns nun im Herzen des letzten Films, der an diesem Abend im System läuft. Innerhalb eng gesetzter Grenzen wand und kringelte sich der staubige Projektorstrahl über unseren Haaren, wie Rauch im Kamin. Das wacklige Lichtbündel befand sich in seiner schwarzen Begrenzung in ständiger Unruhe, wie Kristalle, die in einem aufgehängten Reagenzglas toben. Die einzelnen Bilder treffen auf die Leinwand wie Bataillone von Fallschirmspringern, Sabotageopfern, die mit den verschiedensten Verrenkungen vom Trainingsturm stürzen, sie spritzen beim Aufprall in kontrastreichen Farben auseinander, wie die aufgeplatzten Kokons arktischer Tarnanzüge, die ihren farbigen, organischen Inhalt über den Schnee ergießen, wenn die Springer einer nach dem anderen auseinanderstieben. Nein, eigentlich sah der Strahl eher aus wie eine in ein gigantisches Teleskop gesperrte, gespenstisch weiße Schlange, eine Giftschlange, die ohne Eile nach Hause schwamm und dabei die gesamten Abwasserleitungen des Kinos in Anspruch nahm, das gesamte System, mit dem der Saal bewässert wurde. Es war die erste Schlange im Schatten des Urgartens, die Albinoschlange unter dem Apfelbaum, die unserem ersten weiblichen Gedächtnis eine Kostprobe darbrachte – und zwar von allem! Während sie sich dort oben in der Finsternis wand, sah ich immer wieder auf, ich suchte den Sinn im Projektorstrahl, nicht in der Handlung, die ihn durchströmte. Ihr habt das beide nicht bemerkt. Hin und wieder leitete ich überraschende Rückzüge auf meiner Armlehne ein, um dich von deinem Vergnügen abzulenken. Ich beobachtete die Schlange, sie stachelte meine Gier an. Inmitten dieser verwegenen Betrachtung spüre ich, dass ich die Frage formulieren muss, die mich länger quälen wird als jede andere. Sobald ich sie formuliert habe, beginnt sie, mich zu quälen: Was wird geschehen, wenn der Nachrichtenfilm in den Hauptfilm entflieht? Was wird geschehen, wenn die Nachrichten ganz, wie sie wollen, vielleicht auch völlig willkürlich, in den Bildern des Vistavision-Films auftauchen? Die Nachrichten sind das, was unverrückbar zwischen Straße und Hauptfilm liegt, dem Boulder-Staudamm gleich, der entscheidend ist wie eine Grenze im Mittleren Osten – wenn man ihn zum Einsturz brächte (stellte ich mir vor), entsteht ein wucherndes Gemisch, das sich allein durch die Kraft der vollständigen Korrosion allem, was existiert, bemächtigen wird. So stellte ich mir das vor! Die Nachrichten bilden die Grenze zwischen Bürgersteig und Hauptfilm: Sie enden plötzlich, wie ein Tunnel beim Sonntagsausflug, und fügen, wenn die Finsternis unheimlich hereingebrochen ist, ländliche Hügellandschaften und Slums zusammen. Es gehörte eine Menge Mut dazu! Ich ließ die Nachrichten laufen, ich forderte sie auf, die Filmhandlung zu betreten, es war unglaublich, mit welch schöpferischer Kraft sie sich einpassten, nur vergleichbar mit Bäumen und Plastikschildern, die an den neuen, prächtigen Landschaften der Highway-Motels eine gelungene Synthese eingehen. Lang leben die Motels, ihr Name, ihr Zweck, ihr Erfolg! Mein alter Herzgeliebter, hier ist das Schild, das ich aufstellen würde. Hier ist das Schild, das ich gesehen habe. Hier ist das, was ich kürzlich gelesen habe:
SOPHIA
LOREN STRIPPT FÜR EIN OPFER
DER FLUTKATASTROPHE
DIE FLUT IST AM ENDE WIRKLICHKEIT GEWORDEN
Freude? Habe ich dir nicht Freude versprochen? Hast du bezweifelt, dass ich liefern würde? Ich könnte dich jetzt eigentlich allein lassen, aber es fällt mir so schwer. Mary wird langsam unruhig, sie rutscht ungeduldig hin und her, es macht uns beiden längst keinen Spaß mehr, ihre Flüssigkeiten sind teils so uralt, ihr Wasserstand ist derart niedrig, dass ich an meinem Unterarm, auf den Pfaden der Verdunstung, ein leichtes Zwicken spüre. Bevor die Schwester die halbfertigen Körbe in der B. T. einsammelt, schreiben die Patienten ihre Namen darauf. So können sie später wieder zugeordnet werden. Der kurze Frühlingsnachmittag ist dunkler geworden, die festen Fliederknospen hinter dem vergitterten Fenster verströmen kaum einen Duft. Die Wäsche vom Nachmittag ist längst sterilisiert, die steifen, frisch gemachten Betten erwarten uns.
– Bau, wau, wau! Bau, wau! Grrrrrr!
– Was ist denn da draußen los, Mary?
– Nur die Hunde.
– Hunde? Von Hunden hat mir niemand etwas gesagt.
– Na ja, hier sind halt welche. Jetzt aber rasch! Zieh raus!
– Was denn? Meine Hand?
– Das Päckchen. Das Päckchen mit dem Öltuch.
– Muss das sein?
– Es ist doch von unseren Freunden.
Mit einer fischartigen Bewegung brachte sie ihren Hintern in neue Stellung, die gesamte innere Architektur ihrer empfangenden Fotze verschob sich. Wie die Forelle, die den Angelhaken fester in den Gaumen zieht, gab der glatte, köstliche Vorsprung eines winzigen Wasserspiels das in Öltuch gewickelte Päckchen an meine vier verkrallten Finger ab, die ich nun herauszog. Ihre weiße, bauschige Uniform schützte mich vor neugierigen Blicken, während ich die Nachricht las. Ich lese sie nun laut vor, Mary Voolnd besteht darauf:
PATRIOT LÄNGST VERGANGENER TAGE
ERSTER VÄTERLICHER PRÄSIDENT
DIE REPUBLIK EHRT DEINE VERDIENSTE
MIT IHRER HÖCHSTEN AUSZEICHNUNG
die Flucht findet heute Abend statt
steht dort geschrieben, mit Zaubertinte, die von ihren gleitenden Wassern aktiviert worden ist. Heute Abend.
– Grrrrrrr! Arrrrrrufff!
– Ich habe Angst, Mary.
– Mach dir keine Sorgen.
– Können wir nicht noch ein bisschen bleiben?
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– Siehst du diese hübschen Linien, Mary?
– Für Sex ist es jetzt zu spät, F.
– Aber ich glaube, dass ich hier glücklich werden kann. Ich glaube, es könnte mir gelingen, die Trostlosigkeit zu erlangen, nach der ich mich in meinem Berufsleben so gesehnt habe.
– Das ist ja das Problem, F. Zu einfach.
– Mary, ich will hierbleiben.
– Das wird nicht gehen, F.
– Aber Mary, ich bin kurz vor dem Übertritt. Mein Geist ist beinahe gebrochen, ich habe schon fast alles abgelegt. Ich habe beinahe die Demut erlangt!
– Lass sie wieder gehen. Lass alles gehen!
– Hilfe! Hiiiiiiiilfe! Helft mir!
– Niemand kann deine Schreie hören, F. Komm jetzt mit.
– HIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIILLLLLLLLLLLLLFFFFFE!
– Klick, klick-klick. Bsssssssss. Stotter.
– Was ist das für ein komisches Geräusch, Mary?
– Störungen. Aus dem Radio, F.
– Das Radio! Von dem Radio hast du mir gar nichts gesagt.
– Sei mal still! Ich muss dir etwas sagen.
(KAMERAFAHRT, CLOSE-UP DES RADIOS, DAS ALS SCHRIFT ERSCHEINT)
– Hier spricht das Radio. Guten Abend. Das Radio unterbricht dieses Buch kurz, um die Aufnahme einer historischen Nachricht zu bringen: TERRORISTENFÜHRER AUF DER FLUCHT. Vor wenigen Minuten ist ein noch nicht identifizierter Terroristenführer aus dem Krankenhaus für kriminelle Geisteskranke ausgebrochen. Es wird befürchtet, dass seine Anwesenheit in der Stadt neue revolutionäre Aufwallungen auslösen könnte. Seine Flucht wurde von einer weiblichen Komplizin unterstützt, die über die Belegschaft in das Krankenhaus eingeschleust wurde. Als Ergebnis eines Ablenkungsmanövers wurde sie von routinemäßig eingesetzten Polizeihunden gestellt und schwer verletzt. Sie wird zurzeit operiert, es besteht nur wenig Hoffnung. Man geht davon aus, dass der Verbrecher versuchen wird, mit terroristischen Gruppierungen, die sich in den Wäldern hinter Montréal festgesetzt haben, Kontakt aufzunehmen.
– Geschieht das gerade, Mary?
– Ja, F.
– Grrrrrr! Fletsch! Rarararara! Rrrrff.
– Mary!
– Lauf los, F.! Lauf. Lauf!
– Bau wau! Jaaaaaaulll! Grrrrrr! Rrrrr-aaatsch!
(SABBERNDE POLIZEIHUNDE ZERFETZEN DAS FLEISCH DER MARY VOOLND)
– Dein Körper!
– Lauf! Lauf, F. Lauf für uns alle, für alle A–––––––––s!
(CLOSE-UP DES RADIOS, DAS SICH ALS KINOBILD ZEIGT)
– Hier spricht das Radio. Quieeetsch! Dii hoo! Hier spricht das a ha ha, hier spricht das dii hiii, hier spricht das Radio. Ha ha ha ha h h, o ho ho ho, ha ha ha ha ha ha, das kitzelt, das kitzelt! (TONEFFEKT: ECHOKAMMER) Hier spricht das Radio. Lassen Sie Ihre Waffe fallen. Dies ist die Rache des Radios.
Und hier ist dein Geliebter, F., der den freudigen Brief beendet, den ich versprochen habe. Gott segne dich! O mein Geliebter, werde, was ich sein möchte.
Dein auf immer,
Signé F.