6.
F. redete immer sehr leichtfertig über die Indianer, was mich ärgerte. Soweit ich weiß, hatte er sich niemals ernsthaft mit der Materie beschäftigt, er hatte höchstens einmal einen verächtlichen Blick auf meine Bücher zu dem Thema geworfen. Außerdem hatte er die vier Teenager des A––––––stammes verführt und ungefähr tausend Westernfilme gesehen. Er verglich die Indianer mit den alten Griechen. Er fand, dass sie ähnliche Charaktereigenschaften besäßen und dass die Indianer wie die Griechen glaubten, jedes Talent würde sich im Kampf beweisen. Beide liebten den Ringkampf und waren absolut nicht imstande, über längere Zeiträume Bündnisse zu schließen, sie waren tief überzeugt von der Idee des Wettstreits und hielten Ehrgeiz für eine Tugend. Keines der vier Mädchen brachte es zum Orgasmus, F. war überzeugt, dass der Grund dafür im sexuellen Pessimismus dieses Stammes lag, woraus er schloss, dass alle anderen Indianerinnen durchaus in der Lage wären, einen Orgasmus zu haben. Ich konnte dazu nichts sagen, allerdings war es in der Tat so, dass die A–––––– in allem das genaue Gegenteil der Indianer an sich sind. Ich war dementsprechend neidisch, dass er darauf gekommen war. Seine ganze Kenntnis der griechischen Antike beruhte übrigens auf einem Gedicht von Edgar Allan Poe, einigen homosexuellen Begegnungen mit Angestellten aus dem Gastronomiegewerbe (in jeder Frittenbude der Stadt aß er umsonst) und einer Akropolis aus Gips, die er seltsamerweise mit rotem Nagellack angemalt hatte. Eigentlich wollte er sie nur mit Klarlack konservieren, doch als er in der Drogerie der Festung aus bunten Fläschchen gegenüberstand, die in allen Rotschattierungen Wache standen wie unsere berittene Polizei, ging seine extrovertierte Natur mit ihm durch. Die Farbe, die er wählte, hieß Tibetische Sehnsucht. Er fand das lustig, er hielt es für einen Widerspruch in sich. Einen ganzen Abend widmete er seiner Arbeit. Ich saß da und schaute ihm zu. Er summte, was er von »The Great Pretender« aufgeschnappt hatte, einem Lied, das den Musikgeschmack einer ganzen Generation beeinflussen sollte. Ich konnte mich von dem Anblick überhaupt nicht losreißen, so glücklich war er mit seinem winzigen Pinselchen. Säule um Säule verschwand das Weiß unter dem feindseligen Rot, es sah aus, als flösse Blut in die staubig weißen, ruinierten Finger des kleinen Monuments. Und F. sagte: Ich trage mein Herz wie eine Krone. Und so verschwanden die von Lepra angefressenen Metopen und die Triglyphen und all die schwankenden Symbole der Klarheit, der ganze fahle Tempel mit seinen verstörenden Altären verschwand unter der scharlachroten Lasur. Da sagte F.: Hier, mein Freund, die Karyatiden kannst du zu Ende machen. Also nahm ich den Pinsel, ich war Cliton, der auf Themistokles folgte. F. sang: Ohohohoho, I’m the great pretender, my need is such I pretend too much, und so weiter, eine naheliegende Wahl unter diesen Umständen, der Text hatte eine gewisse Berechtigung. Man darf das Selbstverständliche nicht übersehen, hat F. immer gesagt. Wir waren glücklich! Warum nicht mal mit Ausrufezeichen? Seit der Pubertät war ich nicht mehr so glücklich gewesen. Am Anfang des Kapitels hätte ich diese glückliche Nacht beinahe verleugnet! Aber damit ist es jetzt vorbei! Als ich die letzte freie Stelle angemalt hatte, stellte F. das Gipsgerippe auf einen Kartentisch, den er ans Fenster schob. Gerade brach die Sonne hinter dem Sägezahndach der Fabrik hervor. Das Fenster war rosa und nicht ganz trocken, wir hatten es gerade erst gemalt. Es glänzte wie ein riesiger Rubin, ein fantastisches Juwel! Er schien wie eine Wiege, in der die wenigen noblen Empfindungen, die mir trotz ihrer flüchtigen Natur erhalten geblieben waren, ruhten, und ich wusste, dass sie in ihm gut aufgehoben waren. F. hatte sich auf dem Teppich ausgestreckt, bäuchlings, er stützte das Kinn auf die Hände, die von Handgelenken und Ellenbogen gestützt wurden, und betrachtete die rote Akropolis, hinter der ein milder Tag heraufzog. Du musst sie von hier unten betrachten, sagte er blinzelnd und forderte mich auf, mich zu ihm zu legen. Ich gehorchte, kniff meinerseits die Augen zusammen und – sah, wie der Tempel in Flammen aufging, wie er von einem kühlen, angenehmen Feuer verzehrt wurde, ich sah, wie die Flammen in alle Richtungen leckten, nur nicht nach unten, wo die Tischplatte war. Weine nicht, sagte F. Ein wenig später nahmen wir unser Gespräch wieder auf.
– So wird es ausgesehen haben, damals, als sie eines frühen Morgens hinaufgeschaut haben.
– Die alten Athener, flüsterte ich.
– Nein, sagte F., die alten Indianer, die Rothäute.
– Hatten die denn so was? Haben die auch eine Akropolis gebaut?, fragte ich. Es schien mir beinahe, als hätte ich alles vergessen, was ich je gelernt hatte, als wäre mir mit jedem Pinselstrich etwas abhandengekommen. Ich war bereit, alles zu glauben. Sag schon, F., fragte ich, gab es bei den Indianern auch so was?
– Weiß nicht.
– Wovon redest du denn dann? Willst du mich verarschen?
– Leg dich hin, entspann dich mal. Reiß dich zusammen. Bist du denn nicht glücklich?
– Nein.
– Warum hast du zugelassen, dass man dir das Glück wegnimmt?
– Du machst alles kaputt, F. Wir hatten so einen schönen Morgen.
– Warum hast du zugelassen, dass man es dir wegnimmt?
– Warum versuchst du eigentlich immer, mich zu demütigen?, fragte ich und begann, mich vor mir selbst zu fürchten wegen des feierlichen Tons. Er stand auf und verhüllte das Modell mit dem Plastikschutz einer Remington-Schreibmaschine, er behandelte es mit einer Vorsicht, als täte ihm selbst die Berührung weh, und ich verstand nun, wie sehr er litt. Ich wusste nur nicht, worunter.
– Da haben wir uns fast auf das perfekte Gespräch eingelassen, meinte F. und schaltete die Sechs-Uhr-Nachrichten ein. Er drehte das Radio auf volle Lautstärke und schrie gegen die Stimme des Moderators an, der eine Aufzählung von Katastrophen verlas. Fahr weiter, immer weiter hinaus, oh, du großer Staatsdampfer, zu Karambolagen und Geburten, nach Berlin, in den Kampf gegen den Krebs! Hör zu, mein Freund, hör dir die Gegenwart an, das Jetzt, es ist überall, es ist blau-weiß-rot wie eine Dartscheibe. Flieg wie ein Pfeil und bohr dich fest in die Scheibe, du bist ein Zufallstreffer in einer dreckigen Kneipe. Mach dich frei von deinem Gedächtnis und hör das Feuer, das um dich prasselt. Du brauchst es nicht zu vergessen, lass es einfach irgendwo liegen, wo es in den Farben schwelgen kann, ohne die nichts ist. Nur nicht hier! Hiss dein Gedächtnis wie eine Piratenflagge, lass sie wehen auf deinem Staatsdampfer. Und nun zielst du auf die kritzelnde Gegenwart. Schaffst du das? Weißt du, wie du die Akropolis mit den Augen der Indianer betrachten kannst, die selbst gar keine Akropolis kannten? Du musst eine Heilige ficken. So geht das. Schnapp dir eine kleine Heilige, führ sie in eine kuschelige Ecke des Himmels und fick sie richtig durch. Mach dich ran an ihren Plastikaltar, greif ihr in die silberne Schatulle, fick sie, bis sie wie ein Souvenirkästchen pillert, bis du die Andachtslichter umsonst kriegst. Such dir eine kleine Scheinheilige, Teresa oder Catherine Tekakwitha oder Lesbia, such dir eine, die nie einen Schwanz gekannt hat und die Tage damit zubringt, in Schokogedichten zu lümmeln, such dir so eine heimelige, unmögliche Fotze und fick um dein Leben, bis du den ganzen Himmel vollkleckerst. Fick sie auf dem Mond, mit einem Stundenglas aus Stahl in deinem Arsch, verfang dich in ihrer leichten Robe, schlürf ihren Saft, der keiner ist, schleck schleck schleck wie ein Hund im Äther. Erst jetzt kletterst du auf die fette Erde herunter und tappst in deinen Felsenschuhen über den fetten Grund, bis du eine Dartscheibe übergebraten bekommst, die sich selbstständig gemacht hat. Einen Schlag nach dem anderen steckst du ein, dein Geist wird von einer Rechten getroffen, dein Herz von einem Rammstoß, dann kriegst du noch einen Tritt in die Weichteile, und du schreist Hilfe! Hilfe … das ist doch meine Zeit hier, das sind meine Sekunden, meine Späne vom Scheißholz der Ehre, Polizei, Feuerwehr!, seht doch nur, wie viel Glück heute wieder unterwegs ist und wie viel Verbrechen, die Akropolis brennt lichterloh wie Kinderkreide!
Und immer so weiter. Wenn ich die Hälfte von dem notiert habe, was er gesagt hat, kann ich mich glücklich schätzen. Er hat getobt wie ein Verrückter, mit jedem zweiten Wort flog Spucke. Die Krankheit muss bereits damals an seinem Hirn genagt haben, Jahre später, als er den Tod vor Augen hatte, hat er auch so getobt. Aber was für eine Nacht das war! Wie süß dieser Streit eigentlich war, aus der Ferne betrachtet. Wir waren zwei erwachsene Männer, die auf dem Boden lagen, in einer perfekten Nacht, und ich schwöre, ich erinnere mich genau an seine Wärme, mir ist egal, was er mit Edith angestellt hat, ich gebe ihrem unehelichen Lager meinen Segen, ich öffne mein Herz und gebe zu, dass sie ein Recht auf dunkle, schlabbernde Nächte hatten wie jeder Mann und jede Frau, man kriegt sie ohnehin selten genug. Es gibt schlicht zu viele Gesetze, die sich dagegen verschworen haben. Am liebsten würde ich genau so leben, mit dieser Distanz. Die Bilder von damals kommen und gehen schneller, als mir lieb ist, die Nächte mit F., unsere Freundschaft, die Feuerleitern, die wir hinaufgeklettert sind, unser Glück, wenn wir einfach zusehen durften, wie die Menschen funktionierten. Aber es dauert leider nicht lange, bis ich wieder kleinlich werde, bis der Besitzanspruch in seiner schändlichsten Form zurückkehrt, als Tyrannei über ein paar Quadratzentimeter Fleisch – die eheliche Möse.