36.
Die Hütten im Dorf waren leer. Es war Frühling. Das Jahr: 1675. Irgendwo saß Spinoza und fertigte Sonnenbrillen. In England zog Hugh Chamberlen Babys mit einem geheimnisvollen Instrument heraus, einer obstetrischen Zange. Er war der einzige Mann in Europa, der mit dieser revolutionären Technik, die sein Großvater entwickelt hatte, Geburtshilfe leistete. Der Marquis de Laplace beobachtete die Sonne und kam zu dem Schluss, dass sie sich schon zu Beginn aller Existenz drehte, was er in seinem Buch Exposition du Système du Monde darlegt. Die fünfte Inkarnation von Tsong Khapa erreichte den Höhepunkt seiner zeitlichen Macht: Die Mongolen übertrugen ihm die Herrschaft über Tibet, sowie den Titel Dalai Lama. Die Jesuiten landeten in Korea. Eine Gruppe anatomisch interessierter Kolonialärzte, die sich durch das Verbot von Leichensektionen in ihrer Arbeit behindert sahen, berichteten, dass sie sich den »mittleren Teil eines Inders« verschafft hatten, der »am Tag zuvor hingerichtet« worden war. Dreißig Jahre war es her, seit die Juden nach Frankreich zurückgekehrt waren. Zwanzig Jahre war es her, dass in Boston die ersten Fälle von Syphilis bekannt wurden. Friedrich Wilhelm war der Große Kurfürst. Laut einer Verordnung von 1668 sollten Mönche des Ordens der Minoriten nicht exkommuniziert werden, »wenn sie wohlweislich die Kutte abgelegt haben … bevor sie sich den Versuchungen des Fleisches ergeben«. Corelli, ein Wegbereiter von Alessandro, Scarlatti, Händel, Couperin und J.S. Bach spielte 1675 die dritte Violine im Kirchenorchester St. Louis von Frankreich, das sich in ebenjenem Jahr in Rom aufhielt. Und so schwand der Mond des siebzehnten Jahrhunderts in sein letztes Viertel. Im folgenden Jahrhundert sollten sechzig Millionen Europäer an Pocken sterben. F. hat immer gesagt: Stell dir die Welt ohne Bach vor. Die Hethiter ohne Christus. Wenn du in etwas, das uns fremd ist, die Wahrheit finden willst, musst du zuerst das in deiner Betrachtungsweise umstoßen, was eigentlich unumstößlich ist. Danke, F. Danke, mein Geliebter. Lieber Freund, wann werde ich lernen, die Welt nicht mit deinen Augen zu sehen? O Tod, wir sind die Engel deines Hofstaats, die Krankenhäuser sind deine Kirche! Meine Freunde sind gestorben. Bekannte sind gestorben. O Tod, warum spielst du jede Nacht Gespensterspiele? Ich habe Angst. Irgendetwas stört eben immer: Wenn ich keine Verstopfung habe, dann habe ich Angst. O Tod, bitte heile noch einmal meine Wunden, die das Feuerwerk hinterlassen hat. Die Bäume, die F.s Baumhaus (wo ich dies schreibe) umstehen, wirken finster. Ich rieche die Äpfel nicht. O Tod, warum handelst du so oft, und warum sprichst du so selten? Die Kokons sind weich und unheimlich. Ich fürchte mich vor Raupen, die den Schmetterlingshimmel in sich tragen. Ist Catherine eine Himmelsblume? Ist F. eine Orchidee? Ist Edith ein trockener Grashalm? Jagt der Tod in Spinngeweben? Hat der Tod etwas mit Schmerz zu tun? Oder ist der Schmerz für die Gegenseite tätig? O F., wie ich dieses Baumhaus geliebt habe, als du es mir und Edith für die Flitterwochen überlassen hast!