16.

Wir befinden uns im tiefsten Herzen des Winters von 1680. Catherine Tekakwitha liegt im Sterben und friert. Es ist ihr Todesjahr. Es ist der schlimme Winter. Sie konnte die Hütte nicht verlassen, sie war zu gebrechlich. Noch immer fastete sie heimlich, noch immer tanzte ihr Körper auf der Dornenmatte wie die Bälle eines Jongleurs. Die Kapelle war jetzt unerreichbar für sie. Und doch, so berichtet Pater Chauchetière, verbrachte sie einen Teil des Tages auf den Knien und versuchte sich auf einem grob gezimmerten Bänkchen aufrecht zu halten. Irgendwie gelang es ihr, sich von Ästen schlagen zu lassen. Wir befinden uns nun am Beginn der Karwoche im Jahr 1680. Am Montag vor Ostern wurde sie beträchtlich schwächer. Man sagte ihr, sie werde bald sterben. Während Marie-Thérèse sie mit einem Birkenzweig streichelte, betete Catherine:

– O Gott, zeig mir, dass die Heilige Feier dir gehört. Offenbare Deiner Dienerin den feinen Riss im Ritual. Verändere Deine Welt mit dem Kieferknochen einer gebrochenen Idee. O mein Herr, spiele mit mir.

In der Mission gab es einen merkwürdigen Brauch. Das Heilige Sakrament wurde unter keinen Umständen in die Hütten gebracht, in denen die Kranken lagerten. Stattdessen bettete man die Kranken auf Rinde und brachte sie auf einer Trage zur Kapelle, egal, wie gefährlich der Weg war. Das Mädchen war viel zu krank für diese kurze Reise. Was sollte man also tun? Es gab nicht viele Bräuche in diesem jungen Land, man tat alles, um Jesus von Kanada durch Konventionen und hergebrachte Sitten zu erheben, ihn zu dem zu machen, was er heute ist: bleich, eine Plastikfigur, die knapp über dem Strafzettel an einem Innenspiegel baumelt. Das ist der Grund, warum ich die Jesuiten so liebe. Sie stritten darüber, bei wem sie tiefer in der Schuld standen, bei der Geschichte oder beim Wunder, oder, um es etwas heroischer auszudrücken, beim möglichen Wunder. Sie hatten in den verklebten Augen der Catherine Tekakwitha ein seltsames Leuchten bemerkt. Konnten sie es wagen, ihr die höchste Tröstung zu verweigern, den Leib des Heilands in Form Seiner letzten Wegzehrung, im Gewand der Hostie? Als die Entscheidung getroffen war, wurde sie dem sterbenden Mädchen mitgeteilt, das halb bekleidet auf ihrem Dornenbett lag. Die Menge jubelte. Im Fall der Makellos Scheuen, wie sie von einigen Gemeindemitgliedern genannt wurde, war eine Ausnahme gerechtfertigt. Um dem Ereignis besondere Würde zu geben – dieses bescheidene Detail können wir hinzufügen –, bat Catherine ihre Freundin Marie-Thérèse, mit einem frischen Tuch oder Ähnlichem ihre Blöße zu bedecken. Die ganze Gemeinde reihte sich in die Prozession ein, als die Hostie zur Hütte der Kranken getragen wurde. Alle Konvertiten des Dorfs drängten an ihre Matte. Sie war ihre einzige Hoffnung. Die Franzosen ermordeten ihre Brüder in den Wäldern, doch dieses sterbende Mädchen würde den Nachweis erbringen, dass sie sich richtig entschieden hatten in ihren schwersten, finstersten Stunden. Wenn es jemals eine Finsternis gab, die schwer war vor Wundertaten, die noch im Immateriellen verharrten, dann war es hier. Dann war es jetzt. Der Priester erhob die Stimme. Nach der allgemeinen Absolution empfing sie mit feurigem, glasigen Blick und zerbissener Zunge die »Viatique du Corps de Nôtre-Seigneur Jésus-Christ«. Sie lag nun sichtbar im Sterben. Viele in der gebannt wartenden Menge wünschten sich, in den Gebeten des scheidenden Mädchens verewigt zu werden. Pater Cholenec fragte sie, ob sie bereit sei, jeden einzeln zu empfangen. Ihr Leiden war so groß, dass er sie nur ganz leise und vorsichtig fragte. Sie lächelte und sagte ja. Den ganzen Tag hindurch traten sie mit allem, was auf ihnen lastete, an die Matte des Mädchens.

– Ich bin auf einen Käfer getreten. Bitte für mich.

– Ich habe den Wasserfall mit Urin beleidigt. Bitte für mich.

– Ich bin über meine Schwester gestolpert. Bitte für mich.

– Ich habe geträumt, ich wäre weiß. Bitte für mich.

– Ich habe das Reh zu langsam sterben lassen. Bitte für mich.

– Ich sehne mich nach einem Stück Menschenfleisch. Bitte für mich.

– Ich habe meine Peitsche aus Gras gemacht. Bitte für mich.

– Ich habe das Gelbe aus einem Wurm gedrückt. Bitte für mich.

– Ich habe versucht, mir einen gesalbten Bart stehen zu lassen. Bitte für mich.

– Der Westwind hasst mich. Bitte für mich.

– Ich bin schuld, dass das Korn vom letzten Jahr verdorben ist. Bitte für mich.

– Ich habe den Engländern meinen Rosenkranz überlassen. Bitte für mich.

– Ich habe einen Schurz beschmutzt. Bitte für mich.

– Ich habe einen Juden umgebracht. Bitte für mich.

– Ich habe Bartsalbe verkauft. Bitte für mich.

– Ich rauche Dung. Bitte für mich.

– Ich habe meinen Bruder gezwungen, zuzusehen. Bitte für mich.

– Ich rauche Dung. Bitte für mich.

– Ich habe den anderen das Singen verdorben. Bitte für mich.

– Ich habe mich beim Paddeln berührt. Bitte für mich.

– Ich habe einen Waschbären gequält. Bitte für mich.

– Ich glaube an die Kraft der Kräuter. Bitte für mich.

– Ich habe etwas Hellrotes aus einer Wunde gekratzt. Bitte für mich.

– Ich habe um eine Hungersnot gebeten, die uns Einsicht beschert. Bitte für mich.

– Ich habe meinen Rosenkranz besudelt. Bitte für mich.

– Ich bin 84. Bitte für mich.

Einer nach dem anderen kam und kniete nieder, sie zogen vorbei an ihrer gestachelten Lenin-Bahre und luden die ärmlichen Lasten ihres Geistes bei dem Mädchen ab, bis die ganze Hütte einem riesigen Zolllager voller Sehnsüchte glich, bis der Lehmboden neben ihrem Bärenfell glänzte. So viele Knie hatten ihn poliert, dass er hell leuchtete wie die Flanken des letzten und einzigen Raumschiffs, dem dereinst die Flucht aus unserer dem Untergang geweihten Welt gelingen würde. Als sich die ganz normale Nacht über das Dorf und seine Osterfeierlichkeiten senkte, rückten Indianer und Franzosen an knisternden Feuern zusammen und drückten die Finger an die Lippen, eine Geste der Stille, ein leiser, luftiger Kuss. Oh, warum überfällt mich diese Einsamkeit, wenn ich davon erzähle? Nach dem Abendgebet bat Catherine Tekakwitha um Erlaubnis, noch einmal in den Wald zu gehen. Pater Cholenec gab ihrer Bitte statt. Sie schleppte sich am Maisfeld, das unter einer schmelzenden Schneedecke lag, bis zu den duftenden Tannen und kroch durch die Puderschatten des Waldes, mit splittrigen Nägeln zerrte sie sich durch den schwachen Märzschein der Sterne, bis sie das Ufer des eisigen St.-Lawrence-Stroms erreichte, die gefrorene Wurzel des Gekreuzigten. Pater Lecompte berichtet: »Elle y passa un quart dheure à se mettre les épaules en sang par une rude discipline.« Ohne die Hilfe der Freundin geißelte sie fünfzehn Minuten lang ihre Schultern, bis sie mit Blut bedeckt waren. Wir sind nun am Mittwoch der Karwoche. Es war ihr letzter Tag, dieser Tag, der dem Mysterium der Eucharistie und des Kreuzes geweiht ist. »Certes je me souviens encore quà lentrée de sa dernière maladie.« Pater Cholenec wusste, dass dies ihr letzter Tag sein würde. Der Todeskampf begann um drei Uhr am Nachmittag. Catherine, auf Knien, betete mit Marie-Thérèse und einigen weiteren gegeißelten Mädchen, sie stolperte über die Namen von Jesus und Maria, es gelang ihr nicht mehr, sie richtig auszusprechen. »… elle perdit la parole en prononçant les noms de Jésus et de Marie.« Doch warum hast du nicht die genauen Laute aufgezeichnet, die sie gemacht hat? Sie spielte doch mit den Namen, sie lernte den guten Namen, sie hob die toten Äste vom Boden auf und pfropfte sie an den lebendigen Baum. Aga? Muja? Jumu? Ihr habt es nicht gemerkt, ihr Idioten, sie kannte das Tetragrammaton! Und sie ist euch entwischt! Wieder eine, die uns entwischt ist! Und jetzt müssen wir nachschauen, ob ihre Finger noch bluten! Wir hatten sie doch schon gefasst, wir hatten sie in unserer Gewalt. Und sie war bereit, zu reden, die Welt auf sich zurückzuwerfen, und wir haben zugelassen, dass die scharfen Zähne der Reliquienkästchen an ihrem Gerippe knabbern. Und was tut der Gesetzgeber?

Beautiful Losers
cover.html
978-3-641-09093-7.html
978-3-641-09093-7-1.html
978-3-641-09093-7-2.html
978-3-641-09093-7-3.html
978-3-641-09093-7-4.html
978-3-641-09093-7-5.html
978-3-641-09093-7-6.html
978-3-641-09093-7-7.html
978-3-641-09093-7-8.html
978-3-641-09093-7-9.html
978-3-641-09093-7-10.html
978-3-641-09093-7-11.html
978-3-641-09093-7-12.html
978-3-641-09093-7-13.html
978-3-641-09093-7-14.html
978-3-641-09093-7-15.html
978-3-641-09093-7-16.html
978-3-641-09093-7-17.html
978-3-641-09093-7-18.html
978-3-641-09093-7-19.html
978-3-641-09093-7-20.html
978-3-641-09093-7-21.html
978-3-641-09093-7-22.html
978-3-641-09093-7-23.html
978-3-641-09093-7-24.html
978-3-641-09093-7-25.html
978-3-641-09093-7-26.html
978-3-641-09093-7-27.html
978-3-641-09093-7-28.html
978-3-641-09093-7-29.html
978-3-641-09093-7-30.html
978-3-641-09093-7-31.html
978-3-641-09093-7-32.html
978-3-641-09093-7-33.html
978-3-641-09093-7-34.html
978-3-641-09093-7-35.html
978-3-641-09093-7-36.html
978-3-641-09093-7-37.html
978-3-641-09093-7-38.html
978-3-641-09093-7-39.html
978-3-641-09093-7-40.html
978-3-641-09093-7-41.html
978-3-641-09093-7-42.html
978-3-641-09093-7-43.html
978-3-641-09093-7-44.html
978-3-641-09093-7-45.html
978-3-641-09093-7-46.html
978-3-641-09093-7-47.html
978-3-641-09093-7-48.html
978-3-641-09093-7-49.html
978-3-641-09093-7-50.html
978-3-641-09093-7-51.html
978-3-641-09093-7-52.html
978-3-641-09093-7-53.html
978-3-641-09093-7-54.html
978-3-641-09093-7-55.html
978-3-641-09093-7-56.html
978-3-641-09093-7-57.html
978-3-641-09093-7-58.html
978-3-641-09093-7-59.html
978-3-641-09093-7-60.html
978-3-641-09093-7-61.html
978-3-641-09093-7-62.html
978-3-641-09093-7-63.html
978-3-641-09093-7-64.html
978-3-641-09093-7-65.html
978-3-641-09093-7-66.html
978-3-641-09093-7-67.html
978-3-641-09093-7-68.html
978-3-641-09093-7-69.html
978-3-641-09093-7-70.html
978-3-641-09093-7-71.html
978-3-641-09093-7-72.html
978-3-641-09093-7-73.html
978-3-641-09093-7-74.html
978-3-641-09093-7-75.html
978-3-641-09093-7-76.html
978-3-641-09093-7-77.html
978-3-641-09093-7-78.html
978-3-641-09093-7-79.html
978-3-641-09093-7-80.html
978-3-641-09093-7-81.html
978-3-641-09093-7-82.html
978-3-641-09093-7-83.html
978-3-641-09093-7-84.html
978-3-641-09093-7-85.html
978-3-641-09093-7-86.html
978-3-641-09093-7-87.html