41

DER FEUCHTE MODERGERUCH war so beherrschend, daß Richard sich fragte, wie alt der Abschnitt des Ganges wohl war, durch den sie sich kämpften. Mehr als einmal hatten sie Erde und Felsbrocken beiseite räumen müssen; dabei war er sogar auf einen römischen Sesterz gestoßen. Er hatte nicht die Zeit gehabt, sich die Inschrift näher anzusehen, doch er hielt das Silberstück in seiner Hand, während er dem Mann folgte, den die Königin beauftragt hatte, ihn zu führen, und die runde, harte Form, die sich gegen das Innere seiner Hand abzeichnete, gab ihm die Gewißheit, nicht zu träumen.

Sein Gefährte blieb stehen, befeuchtete den Finger und hob die Hand. Da spürte Richard es ebenfalls. Ein leichter, unregelmäßiger Luftzug.

»Gehen wir«, wisperte der andere; er hatte Richard schon zu Beginn angewiesen, in diesem Teil der Gänge besser nicht laut zu sprechen.

Kurz darauf sah Richard den Mondschein durch die brüchige Decke sickern. Es war Vollmond, ausgerechnet in der Nacht, in der schon eine normale italienische Sommernacht viel zu hell gewesen wäre.

»Wird schwer sein, bei dem Licht ein Pferd zu stehlen«, bemerkte der Mann neben ihm skeptisch.

Das letzte Stück des Gangs war eingestürzt, so daß sie mühsam ins Freie kriechen mußten. Der gleißende Mondschein, der sie empfing, bestätigte Richards schlimmste Befürchtungen: Ein aufrecht gehender Mann war auf offenem Gelände gewiß meilenweit zu erkennen.

Doch zumindest befanden sie sich außerhalb der Stadt; bei meinem Glück in der letzten Zeit, dachte Richard düster, hätten wir auch genau vor dem Tor herauskommen können. Er stellte bald fest, daß niemand sich um sie kümmerte; vor der Stadtmauer hatte sich nämlich einiges Landvolk auf der Flucht niedergelassen. Wahrscheinlich hatte es in Rom keine Aufnahme gefunden, oder die Menschen hofften darauf, ohne große Kriegsverwüstungen bald in ihre Dörfer zurückkehren zu können.

Zwei Männer mehr fielen nicht auf. Aber ein Pferd zu finden war darum nicht leichter. Die meisten Flüchtlinge hatten Esel vor ihre Karren gespannt. Doch schließlich entdeckte Richards Führer einen kräftigen Ackergaul. Als der Untertan der Königin sich davonschlich, um wie verabredet in einiger Entfernung ein Ablenkungsmanöver zu beginnen, spürte Richard leise sein schlechtes Gewissen. Dieses Pferd war vermutlich das wertvollste Eigentum seiner Besitzer.

Ein ohrenbetäubendes Klappern drang mit einem Mal durch die stille Nacht, und Richard hörte, wie jemand schrie: »Hilfe, zu Hilfe! Räuber, Mörder, Diebe!«

Ohne lange zu zögern, trat er aus dem Schatten, band das Pferd los, schwang sich auf seinen Rücken und trieb das widerstrebende Tier an.

Bis Mittag hatte das Pferd Schaum vor dem Mund, und er selbst fühlte sich dem Zusammenbruch nahe, aber er hatte es geschafft, das päpstliche Lager zu erreichen. Eine großzügige Spende überzeugte die Wachen, daß der verwegen aussehende Kerl in Dienstbotenkleidern tatsächlich jemand sein könnte, der eine Botschaft für Seine Eminenz, den Kardinal von Valencia, hatte.

»Nun«, sagte Cesare Borgia, nachdem er sich die Zeit genommen hatte, Richard in aller Ruhe zu mustern. »Ihr überrascht mich, Messer Riccardo. Ich erinnere mich zwar, Euch aufgefordert zu haben, Euch bei Schwierigkeiten an mich zu wenden, aber das ist eine Weile her. Der Zeitpunkt ist nicht gerade passend, und um ehrlich zu sein, ich schätze es nicht, wenn man mich warten läßt.«

»Warum habt Ihr mich dann empfangen?« fragte Richard; er wußte, daß er auf keinen Fall zum kniefälligen Bittsteller werden durfte. Der Kardinal nahm sich aus einer Obstschale einen Apfel, und Richard dachte abwesend: Ist denn jetzt schon die Jahreszeit für Äpfel? Das Messer, mit dem Cesare Borgia die Frucht in zwei Hälften teilte, fing die Sonne ein und leitete ihre Strahlen schmerzhaft in Richards Augen.

»Ich bin neugierig«, erwiderte der Sohn des Papstes. »Wie kommt Ihr zu diesem Aufzug?«

»In Rom war ein Kleidertausch erforderlich«, sagte Richard. Das Licht schmerzte in seinen Augen, und plötzlich war er sicher, daß Cesare sich dessen sehr wohl bewußt war.

»Und was«, erkundigte sich Cesare Borgia, »führt Euch nun zu mir?«

»Ich dachte«, entgegnete Richard so beiläufig wie möglich, »es wäre vielleicht wichtig für Euer Eminenz, zu erfahren, daß die Orsini im Moment ihr Möglichstes tun, um Euer Eminenz in Verruf zu bringen. Zu diesem Zweck hat Kardinal Orsini jemanden, der Euch bekannt sein dürfte, sowohl der Hexerei als auch der unlauteren Beziehungen mit Euer Eminenz angeklagt und das Ganze vor die Keuschheitskommission gebracht. Der öffentliche Prozeß ist bereits für morgen angesetzt.«

Das Gesicht, in dem sich, anders als bei seinem Vater, keine Anzeichen von Üppigkeit feststellen ließen, gutaussehend, scharf und erbarmungslos wie ein geschliffenes Schwert, zeigte keine Regung.

»Wen?«

»Eine Zigeunerin namens Saviya, Eminenz.«

Cesare Borgia legte das Messer weg. »Ah«, sagte er leise. Schweigend bot er Richard eine Hälfte des Apfels an. Während Richard dankbar spürte, wie die Säure der Frucht seine Lebensgeister erfrischte, meinte Cesare, ohne zu lächeln: »Ihr seid ein mutiger Mann, Riccardo. Oder habt Ihr noch nichts von den Gerüchten gehört, die mich beschuldigen, ich hätte diesen Narren Giovanni Sforza vergiften wollen?«

Einen Herzschlag lang hielt Richard inne, dann aß er langsam weiter.

Cesare nickte. »Ihr habt recht.« Er biß in seine eigene Apfelhälfte und fuhr fort: »Und hört auf, mich Eminenz zu nennen. In diesen Tagen würde ich mein Gelübde gern loswerden. Wäre ich nicht Kardinal, dann könnte ich die Verteidigung der Romagna selbst übernehmen. Die dortigen Barone sind ja weiß Gott nur dazu fähig, sich gegenseitig zu bekriegen – vor einer richtigen Armee nehmen sie Reißaus wie die Hasen!«

Er winkte einem Diener und befahl ihm mit leiser Stimme, drei Pferde zu satteln, dann wandte er sich wieder an Richard, der noch immer äußerst angespannt war. »Es sieht so aus, als hätten unsere Freunde eine Lektion nötig. Ihr begleitet mich doch – oder seid Ihr zu erschöpft?«

Stumm schüttelte Richard den Kopf. Er konnte es sich nicht leisten, erschöpft zu sein. Seit er sich für diesen Plan entschieden hatten, mußte er ständig mit der Möglichkeit rechnen, Saviya damit zum Tod zu verurteilen, und hielt es für durchaus denkbar, daß der Kardinal von Valencia in Rom nicht nur den Prozeß unterwandern, sondern auch dafür sorgen würde, daß der Stein des Anstoßes unauffällig verschwand. Der Einsatz bei diesem Spiel war hoch. Richard hatte alles auf einen Wurf gesetzt.

Der Ritt mit Cesare Borgia und dessen Untergebenem, den er kurz als ›Michelozzo‹ vorstellte, erschien ihm als ein Alptraum. Er hatte das Gefühl, als habe er seit Tagen ununterbrochen im Sattel gesessen, und er nahm kaum noch etwas wahr außer dem ausgeruhten Pferd und der dunklen Gestalt des Mannes, der Saviya besessen hatte.

Die Ankunft in Rom ging für ihn in einer Flut von beflissenen Soldaten unter, und erst, als sie sich vor dem Palazzo des Kardinals Orsini befanden, bemerkte er wirklich, daß sie nicht mehr nur zu dritt waren. Cesare hatte sich offensichtlich Verstärkung bei der Stadtwache geholt und verteilte die Posten sehr sorgfältig rund um das Gebäude.

Kardinal Orsini hatte als Kirchenfürst Anspruch auf einen eigenen Palazzo. An diesem Tag allerdings bereute er, nicht im selben Haus wie Virginio zu leben. Virginio hatte mehr und bessere Leibwächter.

Der alte Mann war noch dabei, sich protestierend zu erheben, als Cesare den Raum betrat, den entsetzten Sekretär hinter sich. Cesare hielt sich nicht lange mit Begrüßungen auf.

»Ich habe gehört, daß Ihr und Eure Kommission gewisse Vorwürfe gegen meine Person erhebt, Eminenz. Ist das richtig?«

»Ich …«

»Ihr werdet diese Vorwürfe sofort fallenlassen, schriftlich erklären, alles sei ein Irrtum gewesen, und außerdem einen Freilassungsbefehl ausstellen.«

Mittlerweile hatte Kardinal Orsini seine Fassung zurückgewonnen; denn er wußte sich im Recht; Cesare Borgia mochte zwar gewaltsam in sein Haus eindringen, aber er konnte kaum mehr tun, als Drohungen auszustoßen. Kardinal Orsini war vom Papst persönlich mit der entsprechenden Autorität ausgestattet worden – dieser Prozeß war allein seine Sache. Er holte tief Luft und erklärte:

»Mag sein, daß Ihr Euch mir gleichgestellt fühlt, Eminenz, aber wenn man vom Titel absieht, dann bin ich ein Orsini, und als ein Orsini bin ich nicht gewillt, mir in meinem Haus die Unverschämtheiten eines Bastards weiter gefallen zu lassen. Hinaus!«

Cesare wies ruckartig mit dem Kinn auf den Sekretär: »Michelozzo!« Ungläubig beobachtete Richard, wie Cesares Freund dem Sekretär blitzartig eine Schlinge um den Hals warf und sie zuzog. Der Kardinal selbst stand wie erstarrt da, doch Richard war selbst zu fassungslos, um auf die Reaktion des alten Mannes zu achten. Er starrte auf das verzweifelte, blaurote Gesicht. Später war er sicher, daß es nicht länger als eine Minute gedauert haben konnte, doch im Augenblick schien es ihm als eine grauenvolle Ewigkeit zu sein. Endlich löste er seinen Blick von dem Körper des Sekretärs, der noch ein letztes Mal zuckte, und sah Cesare an, der seinerseits den Kardinal beobachtete.

Kardinal Orsini rang selbst um Atem, und Richard erkannte, daß Cesare absichtlich das Seil und nicht den schnelleren Dolchstoß gewählt hatte. Es war eine ungeheuer brutale und wirkungsvolle Machtdemonstration.

»Nun, Euer Eminenz?« fragte Cesare Borgia ungerührt.

Kardinal Orsini sank wieder auf seinen Platz. Tränen der Hilflosigkeit begannen dem alten Mann die faltigen Wangen hinunterzurinnen, während Cesare beinahe fürsorglich Feder und Papier bereitstellte. Er diktierte dem Kardinal die gewünschte Erklärung und den Entlassungsbescheid, half ihm, die zitternde Hand zu führen, ließ ihn beides unterzeichnen und besiegeln und sagte anschließend, ohne sich zu Richard umzudrehen: »Riccardo, seid so gut und laßt Seiner Eminenz etwas zu trinken holen. Er fühlt sich nicht wohl, und wir wollen doch nicht, daß ihm etwas zustößt, nicht wahr?«

»Nein«, schluchzte der alte Mann. »Bitte nicht, nein!«

»Es geschieht Euch nichts«, erklärte Cesare kalt. »Euch müßte doch inzwischen klar sein, daß die Giftgeschichten nur auf Gerüchten beruhen. Solche Methoden überlasse ich Euren Neffen. Wenn ich Euch tot sehen möchte, habe ich andere Waffen, verlaßt Euch drauf.«

Er warf einen vielsagenden Blick auf die Leiche, und die Tränen des alten Mannes hörten schlagartig auf. Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch Richard war froh, einen Grund zu haben, den Raum zu verlassen. Draußen lehnte er sich einen Moment lang gegen die Wand und sog die Luft in sich ein wie reinigendes, kaltes Wasser. Er unterdrückte das Bedürfnis, sich zu übergeben. Dann bemerkte er, daß sich im Vorzimmer inzwischen der größte Teil von Kardinal Orsinis Dienerschaft versammelt hatte und ihnen halb wütend, halb ängstlich entgegenschaute.

Richard sammelte sich. »Seine Eminenz ist durstig. Bringt ihm etwas zu trinken«, sagte er, Cesares Anweisungen aufs Wort gehorchend. Er atmete tief durch. Denn Cesare Borgia war zweifellos der gefährlichste und skrupelloseste Mann, der ihm je begegnet war. Unwillkürlich fragte er sich, wie lange er nach dem, was er gerade gesehen hatte, noch zu leben hatte.

»Gefängnisse«, sagte Cesare, nachdem er den alten Kardinal hatte hinausbringen lassen, »sind nicht gerade die Gebäude, die ich gerne besuchen würde.«

Er setzte sich mit der größten Selbstverständlichkeit auf den Tisch des Kardinals, mitten auf die Papiere, und aus irgendeinem Grund erinnerte dieses achtlose Verhalten Richard daran, daß Cesare nicht älter war als er selbst – noch nicht einundzwanzig Jahre.

»Aber ich nehme an, diesen Teil kann ich Euch überlassen, oder, Riccardo? Zu Eurem Schutz gebe ich Euch ein paar von den Wachen mit.«

Richard versuchte, nicht zu der Leiche des Sekretärs zu sehen, die immer noch wie vergessen auf dem Boden lag. Er entschied sich dafür, offen zu sein. Die Zeit für das Versteckspiel mit Worten war vorbei.

»Falls der nächste Tag mich im Tiber finden sollte, würde ich lieber gleich sterben … Euer Eminenz«, sagte er daher. Er war überrascht über Cesares Gelächter. Der Mann konnte warm und herzlich lachen, ohne jede Andeutung von Hohn.

»Das nenne ich kaltblütig«, sagte Cesare, als er sich wieder beruhigt hatte. »Ihr habt die ganze Zeit geglaubt, daß ich Euch am Ende erledigen werde, wie? Und Ihr seid nicht fortgerannt wie mein Dummkopf von einem Schwager. Ein Grund mehr, Euch nicht zu töten. Beruhigt Euch, Riccardo. Ich lasse niemanden umbringen, der mir noch nützlich sein kann, und ich schätze Mut. Nein, alles, was ich von Euch will, ist, daß Ihr das Mädchen aus dem Kerker holt … wie der Held im Märchen. Ein passendes Ende, nicht wahr?«

Er hat es gewußt, dachte Richard und versuchte, nicht mit der Wimper zu zucken, während der Sohn des Papstes aufstand und sich ihm näherte, er hat die ganze Zeit alles über Saviya und mich gewußt.

»Aber begeht keinen Fehler«, sagte Cesare sehr leise und sehr ernst. »Ein falsches Wort, und Ihr leistet dem Herrn auf dem Fußboden dort möglicherweise doch noch Gesellschaft. Denkt daran, ein kluger Mann weiß, wann er schweigt.«

»Das sicherste Schweigen ist der Tod«, gab Richard zurück, der mittlerweile zu erschöpft war, um sich noch in Vorsicht oder Diplomatie zu üben. »Ich verstehe immer noch nicht, warum Ihr mich nicht einfach umbringen laßt. Oder warum Ihr mir überhaupt geholfen habt.«

»Ich habe nicht Euch geholfen«, stellte Cesare kühl fest, »ich habe mir und meiner Familie geholfen und dabei den Orsinis ihre Grenzen gezeigt. Was Euch und Euer Leben angeht, ich tue nichts umsonst. Ihr schuldet mir gelegentlich einen Gefallen, Riccardo, und eines Tages werdet Ihr ihn mir erweisen, verlaßt Euch darauf.«

Richard hatte den Eindruck, daß die letzten vierundzwanzig Stunden über ihm zusammenschlugen wie die Wellen über einem Ertrinkenden, doch er bemühte sich, den Kopf oben zu behalten. Er brachte mit letzter Kraft einen formvollendeten Abschied zustande, und es gelang ihm auch, nicht zusammenzuzucken, als Cesare Borgia ihn auf dem Weg ins Vorzimmer nochmals anrief.

»Machen wir Nägel mit Köpfen, Riccardo. Ihr habt mir schließlich auch geholfen. Gibt es sonst noch etwas, das ich heute für Euch tun kann?«

Er wollte schon verneinen, als die Erinnerung ihn wieder einholte. »Ja, in der Tat«, erwiderte er und ließ zum ersten Mal echte Erleichterung durchklingen. »Ich brauche einen Passierschein in die Toskana, und ich brauche ihn sehr dringend.«

»Nach Florenz?« fragte Cesare mit gerunzelter Stirn, und Richard hätte sich ohrfeigen können. Natürlich war die Nachricht von Pieros Kapitulation längst bekannt. »Habt Ihr vor, zu den Franzosen überzulaufen?«

Der Tonfall war scherzhaft, aber die Leiche im Raum ermahnte Richard, keinen Scherz Cesare Borgias als harmlos anzusehen. Er schüttelte vehement den Kopf. »Nein. Ich habe einen Freund in Florenz, der in großen Schwierigkeiten steckt.«

Eine Sekunde lang dachte er, Cesare würde ihm nicht glauben. Doch dann lächelte der Kardinal von Valencia und ging hinter den Schreibtisch zurück.

»Euer Freund hat Glück«, sagte er, während er ein Blatt zu sich zog, die Feder in die Tinte eintauchte und kritzelte, »und dem alten Orsini wird es kaum etwas ausmachen, wenn wir noch mehr von seinem Papier verschwenden. Bitte.«

Kardinal Orsini hatte eine Kerze brennen lassen, um das Siegelwachs zu erhitzen, und Cesare brauchte nicht lange, um es ihm gleichzutun. Er preßte seinen Ring auf die schnell erkaltende Masse und gab den Schein Richard, der ihn zögernd in Empfang nahm. Richard konnte das Bedürfnis nicht unterdrücken, ihn sofort zu lesen. Cesare hatte die Anweisung gegeben, Riccardo Artzt, Kaufmann, und ›allen Personen in seiner Begleitung‹ überall Durchlaß zu gewähren. Unterzeichnet war es mit vollem Namen und Titel des Kardinals von Valencia, aber Richard fiel auf, daß Cesare nicht die italienische Form seines Vornamens verwendet hatte, sondern die lateinische. Er blickte auf und begegnete dem spöttischen Blick seines Gegenübers.

»Kein Hinrichtungsbefehl, wie Ihr seht.«

»Danke«, sagte Richard aus vollem Herzen. »Vielen Dank.«

»Aut Caesar, aut nihil«, sagte Cesare Borgia.

Letztendlich entschied er sich dafür, daß es sicherer war, tatsächlich mit ein paar Wachen im Gefängnis aufzukreuzen. Saviya umarmte ihn ungestüm und heftig, und er barg sein Gesicht an ihrem Hals. Sie sprachen nicht miteinander; Worte wären zu schwierig und gleichzeitig zu unwichtig gewesen. Wie lange es dauerte, bis er mit Saviya im Fondaco angelangt war, wußte er nicht; er wußte nur, daß er die ganze Zeit ihre Hand nicht mehr losgelassen hatte.

Eigentlich wollte er noch in der Nacht nach Florenz aufbrechen, aber der gesunde Menschenverstand gewann die Oberhand; es würde niemandem etwas nützen, wenn er unterwegs vor Erschöpfung zusammenbrach. Also verbrachten sie diese Nacht noch in Rom, immer noch unfähig, an das Wunder zu glauben, noch am Leben zu sein, aneinander geschmiegt wie Schmetterlinge in ihrem Kokon.

Am frühen Morgen begann Richard, seine wichtigsten Habseligkeiten zu packen; er fragte Saviya, ob sie nicht auch etwas mitnehmen wollte, und sie verneinte lächelnd. Er hinterließ eine Notiz für Zink, da er ein weiteres Gespräch für überflüssig hielt, und so fand sie die aufgehende Sonne schon auf der alten Römerstraße, die in die Toskana führte.

Es war nicht schwer, eine Stelle für die kommende Nacht zu finden; angesichts der Jahreszeit bot es sich an, im Freien zu übernachten, und außerdem war es billiger. Als Richard seine Börse untersuchte, um festzustellen, wieviel Geld er noch hatte, stieß er dabei auch auf den römischen Sesterz, den er in den unterirdischen Gängen gefunden hatte. Er hielt ihn in das flackernde Licht des Feuers, das Saviya angezündet hatte, um die Inschrift zu lesen. Eine ganze Minute lang sagte er nichts, dann lachte er.

»Was ist damit?« fragte Saviya neugierig. Er zeigte ihr die Prägung. Es handelte sich um eine Münze der späten Republik, umrundet von dem Namen des damaligen Machthabers: Caesar.

Sie blickten einander an, und Richard erkannte, daß die Zeit gekommen war, endlich zu sprechen: Er erzählte Saviya alles und meinte schließlich: »Nur aus Neugier – denn ich glaube immer noch nicht daran –, hast du je versucht, seine Zukunft zu erkennen?«

Saviya nahm sich Zeit mit der Antwort. Sie zog die Knie an und schlang beide Arme um ihre Beine. »Ja«, erwiderte sie endlich. »Am Ende wartet ein gewaltsamer Tod, aber um das vorauszusehen, braucht man keine besonderen Gaben. Er wird fast alles bekommen, was er sich wünscht, und alles wieder verlieren. Und da ist noch etwas, doch bevor ich dir das erzähle, sag mir, warum wehrst du dich so gegen Prophezeiungen?«

»Aus mehreren Gründen«, begann er und erinnerte sich schwach, daß Mario ihm einmal eine ähnliche Frage gestellt hatte. »Erstens habe ich noch keine Prophezeiung gehört, die nicht eine logische Vermutung gewesen wäre, auf die man durch Nachdenken nicht auch selbst kommen könnte. Wie zum Beispiel Savonarolas Prophezeiungen. Bei dem vorherigen Papst, Lorenzo und Ferrante von Neapel ist er kein großes Risiko eingegangen, und bei dem jetzigen Krieg auch nicht. Und du hast selbst zugegeben, daß man nicht hellzusehen braucht, um zu prophezeien, daß Cesare Borgia nicht friedlich in seinem Bett sterben wird. Aber viel wichtiger ist dies: Wenn es Visionen gibt, dann steht die Zukunft fest, und nichts, was wir tun, kann sie ändern. Ich glaube aber, daß jeder Mensch sein Schicksal selbst in der Hand hat.«

»Und trotzdem«, sagte Saviya, den Blick in die Flammen gewandt, »gehst du nach Florenz.«

»Nicht trotzdem, sondern deswegen«, gab Richard zurück und glaubte es selber. »Mein Verstand sagt mir, daß Mario sich in Schwierigkeiten gebracht hat, und das ist kein Wunder, wenn Savonarola tatsächlich die Stadt beherrscht und Mario versucht haben sollte, einige von den beschlagnahmten Schätzen aus Florenz hinauszuschaffen. Aber das ist kein tödliches Vergehen, und Priester werden nicht hingerichtet. Wahrscheinlich steckt er im Gefängnis der Signoria.«

Sie widersprach nicht, stimmte ihm aber auch nicht zu. Einen Moment lang befürchtete er, sie würde wiederholen, was sie im Gefängnis über Mario und ihn behauptet hatte. Er hatte sich bisher nicht gestattet, viel darüber nachzudenken. Mario war sein Freund. Vielleicht konnte man ihre Freundschaft auch Liebe nennen, aber es war die Liebe zwischen Brüdern, und ganz und gar nicht vergleichbar mit Fabio Orsinis Gelüsten. Er schauderte, als er daran dachte, wie Fabio ihn an den Schultern berührt und zugeflüstert hatte, es ist Zeit für Euch zu gehen, Riccardo.

»Vielleicht«, murmelte Saviya, wandte sich vom Feuer ab und wieder ihm zu, »ist beides richtig. Es ist möglich, die Zukunft zu erkennen, aber nur durch unsere eigenen Taten, unsere eigenen Entscheidungen können wir dorthin gelangen.«

»Was«, fragte Richard nun doch noch, »wolltest du mir noch über die Zukunft von …«

Sie legte ihm die Hand auf den Mund, und Heiterkeit stand in ihren Augen, als sie eilig sagte: »Oh, ich werde dir auf keinen Fall etwas erzählen, was deine Handlungsfreiheit beschränken würde. Denn du wirst ihm wiederbegegnen. Und was dann geschieht, wird einzig und allein deine Sache sein.«

Der Torwächter Umbaldo Garibaldi wünschte sich sehnlichst, seinen Dienst hinter sich zu haben. Seit der französische König weitergezogen war, schien es, daß die ganze Toskana nach Florenz strömte, um das kommende große Ereignis nicht zu versäumen. Er hatte es herzlich satt, jeden Bauernhaufen daraufhin zu untersuchen, ob sich ein Medici unter ihm versteckte. Die Vorstellung war ohnehin absurd. Dieser hochmütige Dreckskerl Piero als Bauer verkleidet? Garibaldi unterdrückte mit Mühe ein Kichern.

Daher verwandte er nicht viel Mühe auf das Paar, das sich Pilgern aus Vinci angeschlossen hatte. Er erkundigte sich nur, wo sie unterkommen wollten. In Santo Spirito, nun, warum nicht, wenn er auch bezweifelte, daß sie dort noch Platz fanden. Wie schon hunderte Male an diesem Tag fügte er, um der unausweichlichen nächsten Frage zuvorzukommen, hinzu: »Und der Scheiterhaufen wird heute abend bei Sonnenuntergang entzündet, auf der Piazza della Signoria. Ihr könnt am Umzug vorher teilnehmen, aber ich würde Euch raten, geht lieber gleich zur Piazza, wenn Ihr etwas sehen wollt.«

Der Mann zuckte zusammen, und einen Moment lang erwachte Mißtrauen in Garibaldi, aber dann meinte der andere mit breitem Lächeln: »Habt vielen Dank für Euren Ratschlag. Ein großer Tag für Florenz, fürwahr, und wir können dabei sein – der Scheiterhaufen der Eitelkeiten.«

»Das Fegefeuer«, korrigierte Garibaldi, ohne nachzudenken. Das war der Ausdruck, den Fra Savonarola bei seinen Predigten immer benutzte. Er winkte die nächsten Neuankömmlinge heran, und das Paar zog weiter.

Es dämmerte schon, und es fiel Richard und Saviya schwer, sich den Weg durch die Menge nach Santo Spirito zu bahnen. Einmal gerieten sie tatsächlich in Gefahr, als ihnen eine Horde hemdsärmeliger Jungen über den Weg lief; der älteste mochte etwa vierzehn, der jüngste nicht mehr als sechs Jahre alt sein. Einer von ihnen musterte Saviya und rief plötzlich: »Schande! Sie trägt einen Ohrring! Reißt ihr den Ohrring ab!«

Zweifellos hätten sie ihren Worten Taten folgen lassen, aber die beiden gezogenen Messer, die Richard und Saviya plötzlich in der Hand hielten, wirkten zunächst abschreckend. Sie waren es offenbar nicht gewöhnt, daß ihre Opfer sich wehrten. Doch Richard wußte, daß der Schreck nicht von Dauer sein würde, und die Jungen, selbst wenn es Kinder waren, waren eindeutig in der Überzahl. Mit einem raschen Blick stellte er fest, daß die älteren ebenfalls bewaffnet waren. Er senkte seine Waffe etwas, während die Jungen sie umringten.

»Ich möchte keinen Ärger«, sagte er zu dem Anführer. »Warum willst du ihren Ohrring haben?«

Aufrichtige Verblüffung kennzeichnete die Miene des Jungen. »Weil Fra Savonarola es so gebietet. Wir sind seine Weißhemdengel«, erklärte er stolz, »und wir sorgen dafür, daß niemand in Florenz mehr eitlen Putz trägt.«

»Ich verstehe«, nickte Richard. »Es tut mir leid, aber meine Frau und ich waren schon länger nicht mehr in Florenz. Und was tut ihr dann mit dem eitlen Putz? Ist es eine Spende für die Gottesmutter?«

»Für den Scheiterhaufen zu ihren Ehren«, bestätigte der Junge. Mit dem beeindrucktesten Gesicht, das er aufbringen konnte, sagte Richard ehrfürchtig zu Saviya: »Nun, wenn es für einen so guten Zweck ist, Frau, dann laß den Tand und gib ihn den Jungen hier.«

Wortlos löste Saviya den schmalen, goldenen Ring aus ihrem Ohr, bekreuzigte sich und händigte ihn dem Anführer aus, der nun vollständig versöhnt schien. Die ›Weißhemdengel‹ rannten bald weiter, und der Junge, mit dem Richard gesprochen hatte, rief ihm noch über die Schultern zu: »Beeilt Euch lieber, wenn Ihr noch einen Platz auf der Piazza wollt!«

»Ein Glück«, sage Saviya, die ihnen nachschaute, »daß ich meinen anderen Ohrring schon in Rom weggeben mußte. Der Gefängniswärter dort läßt sich Essen, das nicht völlig madenverseucht ist, gut bezahlen.«

Der Bruder Pförtner verhielt sich nicht so, als sei er von der allgemeinen Feiertagslaune angesteckt worden. »Die Bibliothek ist heute nicht zugänglich«, sagte er abweisend und schlug das kleine Fenster an der Pforte wieder zu.

»Ich will nicht in die Bibliothek, ich möchte nur wissen, ob Ihr Nachrichten über Fra Mario …«

»Santa Maria, seid Ihr das, Messer Riccardo?«

Man hörte den Schlüssel klirren, dann öffnete sich die Pforte ächzend. Der Pförtner warf einen Blick auf Richard und Saviya, dann griff er nach Richards Hand und zerrte ihn hinein. Das war für Augustiner, die es gewöhnlich vermieden, einander zu berühren, so ungewöhnlich, daß Richard ein paar Sekunden lang zu verblüfft war, um etwas zu sagen. Hinter Saviya schloß der Pförtner wieder hastig das Tor und erklärte verlegen:

»Es ist nur … Wir leben in schlimmen Zeiten, Messer Riccardo.«

»Fra Daniele«, fragte Richard, dem der Name des Mönchs wieder eingefallen war, »habt Ihr etwas von Fra Mario gehört?«

Der Pförtner zog seine Kapuze über, wie um in ihrem Schatten Schutz zu suchen. »Ja«, erwiderte er leise. »Er ist hier.«

»Hier?« Richard fühlte sich benommen vor Erleichterung. Das war besser als alles, was er erwartet hatte; er konnte förmlich spüren, wie die drückende Last der Befürchtungen nachließ. »Dann bringt mich zu ihm. Ich wette, er sitzt im Skriptorium und schreibt in aller Ruhe, während ich mir schon vorgestellt habe, ich müßte ihn aus dem Gefängnis herausholen. Das ist wirklich …«

Er hielt inne. Fra Danieles Entsetzen war selbst durch die Kutte erkennbar, und es rührte nicht daher, daß er Richards Ton mißbilligte.

»Messer Riccardo«, sagte der Mönch so sanft wie möglich, »er liegt im Hospital, und nur Gott allein weiß, wie lange er noch zu leben hat.«

Es schien Fra Daniele, daß der junge Mann nicht verstanden hatte. Warum hatte der Herr ihn, einen braven Mönch, dazu auserwählt, die ganze grauenvolle Geschichte, die er am liebsten vergessen hätte, zu erzählen?

»Es waren Fra Savonarolas Weißhemden. Fra Mario hat versucht, einige Manuskripte und Gemälde vor dem Scheiterhaufen zu retten; er wollte sie den Besitzern abkaufen oder sie überreden, sie ihm zu überlassen. Er hatte wenig Erfolg damit, und irgend jemand muß ihn auch angezeigt haben. Jedenfalls, als er gerade aus einem Haus kam, wartete eine Horde dieser Jungen auf ihn und beschuldigte ihn, Gott seiner Ehre berauben zu wollen. Sie fanden eine Schrift des Lucretius bei ihm, aber er wehrte sich, als sie ihm das Buch abnehmen wollten. Und dann …«

Der Pförtner hielt inne. Er war nicht in der Lage, das zu beschreiben, was die Stadtwachen dem Prior geschildert hatten, die Stadtwachen, die Mario eigentlich hatten festnehmen wollen, aber ihn statt dessen in Santo Spirito abgeliefert hatten. Ihn, oder besser das, was von ihm noch übrig war.

»Wann ist das geschehen?« fragte der junge Mann, den er als Fra Marios Freund kannte, mit so unmenschlicher Ruhe, daß Fra Daniele zwischen Ablehnung und Bewunderung ob solcher stoischer Selbstbeherrschung schwankte. »Gestern.«

»Gestern«, wiederholte Richard, oder er glaubte, es auszusprechen. Er konnte nicht einmal spüren, wie seine Lippen das Wort formten. Gestern. Wenn er an dem Tag nach Florenz aufgebrochen wäre, an dem Giovanni de'Medici ihm von dem Umsturz erzählt hatte … oder auch noch am Tag, als er Saviya aus dem Gefängnis befreit hatte … gestern.

»Ich werde Euch zu ihm bringen«, sagte Fra Daniele freundlich, »aber Ihr, junge Frau, müßt hierbleiben. Es schickt sich nicht für Frauen, das Innere eines Mönchsklosters zu betreten.«

Mühsam wandte Richard seine Aufmerksamkeit wieder der Gegenwart zu und schaute zu Saviya. In der Tiefe ihrer ruhigen, grünen Augen las er Mitleid, Wissen und eine Spur von Furcht. Also hatte sie recht gehabt. Er hatte die Wahl zwischen Mario und Saviya getroffen, eine Wahl, die er nie hatte treffen wollen, und Saviya fragte sich, ob er diese Wahl bereute und sich gegen sie wenden würde.

»Das ist meine Frau, Padre«, sagte Richard, »meine Gemahlin.«

Fra Daniele runzelte bekümmert die Stirn. »Es tut mir leid, aber die Ordensregel läßt in diesem Punkt keine Ausnahmen zu.«

»Ich warte hier, Riccardo«, sagte Saviya. »Geh zu Mario. Ich werde auf dich warten.«

Richard war noch nie im Hospital von Santo Spirito gewesen, und doch kam es ihm nicht fremd vor; die Krankenräume des Klosters in Wandlingen waren nach demselben Prinzip gebaut gewesen, hatten dieselbe karge Einrichtung gehabt. Während seiner Kindheit hatte ihn natürlich seine Mutter gepflegt, aber in den Tagen nach ihrem Tod hatte der Abt, der fürchtete, Richard hätte den Verstand verloren, ihn in das Hospital legen lassen. Richard erinnerte sich nur zu gut an die Atmosphäre: Stille, das behutsame Schleifen von Kutten auf dem Boden, der ständige Geruch nach Arzneien, nicht immer unangenehm. Während er schweigend Fra Daniele folgte, war ihm, als würde er schließlich nicht Mario in einem Bett vorfinden, sondern sich selbst.

In meinem Ende ruht mein Anfang.

Fra Daniele blieb plötzlich stehen. »Da ist noch etwas, was Ihr wissen solltet«, sagte er mit gesenkter Stimme und näherte seine Lippen Richards Ohr, bis sein Flüstern beinahe unhörbar wurde, »das Schlimmste. Der Prior ist sicher … Wir alle sind sicher … daß die Weißhemdengel nicht so hätten handeln können, wenn sie nicht gewußt hätten, daß sie damit Fra Savonarolas persönlichem Wunsch entsprachen.«

War das das Schlimmste? Es erschien Richard bedeutungslos. Es spielte keine Rolle mehr, nichts war mehr wichtig bis auf die Gestalt, die er unter dem Fenster des Raumes liegen sah, regungslos, so daß er einen Moment lang befürchtete, Mario sei schon tot.

Neben Mario saß auf einem kleinen Hocker ein Pfleger, den Richard nicht kannte. Fra Daniele zog ihn beiseite und flüsterte ihm etwas zu, bevor er wieder verschwand. Richard sank neben Marios Lager auf die Knie. »Mario«, flüsterte er, »Mario, ich bin's, Riccardo.«

Mario konnte ihn nicht sehen. Mario würde nie wieder etwas sehen können, denn die Binde, die um seine Augen gelegt und hinter dem Kopf verknotet war, zeigte blutige Flecken. Aber er war bei Bewußtsein. Als er seinen Arm ausstreckte und nach Richard tastete, fiel Richard die absolute Reglosigkeit des anderen Armes auf; dort, wo er hätte liegen sollen, war keine Falte auf der Decke zu erkennen.

»Riccardo«, sagte Mario, nicht leise oder gebrochen, sondern laut und klar, so daß der Pfleger zusammenschrak. Für einen Moment berührte seine Hand Richards Gesicht, dann sank sie wieder auf das Bett.

»Was tust du hier? Habe ich wieder irgendwelche Bücher ausgeliehen, die du lesen möchtest? Ich bin noch nicht fertig mit Marco Polo, Riccardo, noch nicht fertig. Aber das sieht dir ähnlich, deswegen wider allen gesunden Menschenverstand quer durch Italien zu reisen.«

Seit der Pförtner ihm eröffnet hatte, Mario liege im Sterben, hatte sich Richard in dieselbe hilflose Betäubung zurückgestoßen gefühlt, die ihn als zwölfjährigen Jungen gefangengehalten hatte, und er hatte keine Worte gefunden, um das auszudrücken, was er Mario sagen wollte. Doch jetzt wurde ihm die Sprache zurückgegeben, und mit ihr die Erkenntnis.

»Ich bin gekommen, um zu beichten, Mario«, sagte er einfach. Marios Kopf mit den erloschenen Augen wandte sich ihm zu, und Richard fiel ins Lateinische, fiel in die festgelegte Wortfolge, die für ihn, als er sie gelernt hatte, nur ein leeres Ritual gewesen war.

»Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt.« Mario streckte erneut die Hand aus, und Richard ergriff sie, fuhr fort, ohne sich um den Pfleger zu kümmern, dessen Gegenwart er sich so wenig bewußt war wie der des Stuhls. »Ich habe gelogen, zu mir selbst und zu anderen. Ich habe gestohlen und betrogen. Ich habe getötet und den Mord an anderen zugelassen.«

»Bereust du?« fragte Mario, und nur der fester werdende Griff seine Hand verriet, daß ihm das Sprechen sehr schwer fiel, »bereust du aufrichtig und von ganzem Herzen?«

»Das tue ich.«

»Ego te absolvo«, sagte Mario. Ein Schauder durchlief ihn, und der Pfleger beugte sich besorgt über ihn. »Vergib du auch mir, Riccardo. Denn auch ich habe mich schuldig gemacht.« Ein Aufflackern seiner alten Spottlust veranlaßte ihn, hinzuzufügen: »Mein eigener Beichtvater würde jetzt sagen, meine größte Sünde war die felsenfeste Überzeugung, immer und überall im Recht zu sein.«

»Ihr solltet nicht mehr soviel sprechen, Frater«, sagte der Pfleger mißbilligend.

Mario ignorierte ihn und fuhr fort: »Aber ich hatte immer den Eindruck, Gott … würde das … verstehen.«

»Wenn nicht, wirst du ihn zweifellos überzeugen«, sagte Richard. Die rissigen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ricardus haereticus. Wirst du mir dabei helfen, Riccardo? Wirst du ihn mit mir zusammen darum bitten?«

Und er begann leise das Paternoster. Richard und der Pfleger, der sich nun neben ihn kniete, fielen in das Gebet ein.

»Pater noster qui es in caelis, sanctificetur nomen tuum, adveniat regnum tuum, fíat voluntas tua …«

Und der ruhige, ehrfürchtige Klang ihrer Stimmen wob nach und nach ein Netz um Mario, das alle Schmerzen von ihm abhielt und ihn einhüllte, für immer sicher, für immer geborgen.

Saviyas Sympathie für Klöster und Mönche im allgemeinen hatte sich durch ihren Aufenthalt in Rom nicht gerade vergrößert. Sie fühlte sich dort unwohl, sie wollte sich nicht dem Schweigen dieser Mauern überlassen, und während sie mit Fra Daniele auf Richard wartete, ging ihr bald der Gesprächsstoff aus.

»Sind denn seine Freunde von der platonischen Akademie nicht bei Fra Mario?« fragte sie schließlich.

Fra Daniele, der immer noch nicht wußte, wie er diese junge Frau einordnen sollte, schüttelte den Kopf. Sie hatte etwas Merkwürdiges und durch und durch Unchristliches an sich.

»Wißt Ihr es denn nicht, Madonna? Sie sind alle tot. Angelo Poliziano starb als erster, dann Landino und Ficino, und letzte Woche auch noch Pico della Mirandola … seltsam, nicht wahr. Wenn es nicht alles gottesfürchtige Männer gewesen wären, trotz ihrer manchmal ein wenig seltsamen Ansichten, hätte man meinen mögen, sie hätten Lorenzo nicht überleben wollen.«

»Sie wollten es nicht«, murmelte Saviya wie zu sich selbst. »Das war das Zeichen des Todes über der Stadt, das ich gesehen habe. Eine Welt geht zu Ende, und heute erleben wir ihre letzten Todeszuckungen. Aber«, und sie lächelte mit einem Mal, »eine neue wird geboren, wie Phoenix aus der Asche.«

Fra Daniele hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprach, aber er bekreuzigte sich für alle Fälle. Er war sehr erleichtert, Richard kommen zu sehen, bevor ihm wieder einfiel, was das bedeuten konnte. Er räusperte sich.

»Ist es …«

Richard nickte. Die Ruhe in seinem Gesicht, die dem Pförtner vorher so gefühllos und kalt vorgekommen war, hatte nun eine andere Farbe angenommen. Fra Daniele suchte lange vergeblich nach einem Vergleich, bis ihm Fra Mario selbst einfiel. An dem Tag, an dem er das endgültige Gelübde abgelegt hatte, hatte Mario so ausgesehen.

»Es ist vorbei«, sagte Richard.

Der Pförtner bekreuzigte sich ein weiteres Mal. »Gott gebe ihm Frieden.«

Wortlos legte Saviya ihren Arm um Richard, und als die beiden das Kloster wieder verließen, schien es dem Pförtner, als ob der Mann, der doch der größere und kräftigere von beiden war, sich auf das Mädchen stützte.

Auf dem Weg über den Ponte Vecchio wurden sie von der Prozession mitgerissen. Die Menschen strömten aus allen Richtungen auf die Piazza della Signoria, Savonarolas Knabenarmee mitten unter ihnen, die mit Olivenzweigen in der Hand lauthals den Gesang anstimmte, in den die Menge bald einfiel: »Lang lebe Christus, der König von Florenz! Lang lebe Maria, die Königin!«

Auf der Piazza bildeten die Dominikaner von San Marco eine Kette um die riesige Pyramide, die man in der Mitte errichtet hatte. Richard erkannte Spiegel, Schminktöpfe, Ballen von Seide neben Schmuck aller Art, gefolgt von Würfelspielen, Schachbrettern, Schachfiguren, die von den Menschen selbst jetzt noch auf den Scheiterhaufen geworfen wurden.

Doch am schnellsten würden die Bücher Feuer fangen, Hunderte von Büchern, Zeichnungen, Ölbildern, Holzfiguren und Statuen, die klein genug waren, damit sie die Weißhemdengel hatten herbeischleppen können. Er sah, wie die sonst so gelassenen Florentiner Kaufleute ihre kostbarsten Güter auf den Scheiterhaufen warfen, sah, wie das glänzende Holz von Masken, Kostümen und Instrumenten zersplitterte und sich zu den übrigen ›Eitelkeiten‹ gesellte. Mit Entsetzen erkannte er den Maler Botticelli, früher einer von Lorenzo de'Medicis engsten Freunden, der unter den Jubelrufen der Menge Zeichnung um Zeichnung auf die Pyramide warf, gefolgt von anderen, weniger bekannten Florentiner Malern.

Wie auf ein Zeichen hin hoben die Mönche die Arme nun zum Himmel. Savonarola löste sich aus ihrem Kreis und nahm von einem seiner Weißhemden eine lodernde Fackel entgegen. Den Arm mit der Fackel hochgereckt, den anderen zur Menge ausgestreckt, rief er: »Lang lebe Christus! Lang lebe die Jungfrau!« Das Volk gab ihm den Ausruf tausendfach verstärkt wieder zurück: »Lang lebe Christus! Lang lebe die Jungfrau!«

Savonarola verharrte noch einen Moment in seiner Haltung, dann bückte er sich und begann, rund um den Scheiterhaufen Feuer zu legen. Richard hörte Saviya neben sich ruhig sagen: »Er entzündet seinen eigenen Tod.«

Impulsiv preßte er sie enger an sich, ein Symbol des Lebens, während nahezu alles, was ihm Florenz zu einem Traum gemacht hatte, in Asche versank. Doch seltsamerweise waren es nicht nur Trauer und Entsetzen, die ihn erfüllten, und ganz gewiß keine Haßgefühle gegen Savonarola. Er wußte nun, er war frei. Frei, um zu gehen, wohin er wollte. An Italien band ihn nichts mehr. Jakob und die Familie würden immer einen Anspruch auf ihn haben, doch er würde einen Weg finden, diesem Anspruch gerecht zu werden, ohne sich davon sein Leben bestimmen zu lassen. Es gab noch so vieles in dieser Welt, das auf ihn wartete. Er verstärkte seinen Griff um Saviyas Taille, drehte dem Feuer den Rücken zu und sagte zu ihr: »Gehen wir.«