IV
Feuer der Eitelkeiten

29

DUNKELHEIT HING NOCH IN der Kammer, als Sybille Fugger spürte, wie sich ihr Mann erhob und sich fast geräuschlos ankleidete. Jakob begann seinen Tag gewöhnlich mit der Dämmerung, und meistens bemühte er sich erfolgreich, sie dabei nicht aufzuwecken. Doch in dieser Nacht hatte sie kaum geschlafen. Sybille überlegte, ob sie nicht etwas sagen sollte, dann verwarf sie den Gedanken wieder. Sie hatte geweint, und sie wollte nicht, daß Jakob das sah. So ließ sie ihn weiter in dem Glauben, sie schliefe, und versuchte, noch etwas Wärme in den Falten der Decke zu finden.

Es war nicht nur der Tod ihres Vaters, obwohl sie ihn geliebt hatte und aufrichtig betrauerte; Wilhelm Artzt war ein alter Mann gewesen, der auf ein langes und erfolgreiches Leben zurückblicken konnte. Nein, es sind nicht die Toten, dachte sie, und preßte unbewußt die Lippen zusammen; es sind die, die nie gelebt haben.

Zu ihrer eigenen Überraschung und zu Ulrichs prahlerischer Freude hatte Veronika Fugger am letzten Sonnabend noch einem Kind das Leben geschenkt. Neid, das wußte Sybille, war eine Todsünde, und sie hätte sich nie träumen lassen, einmal auf Veronika neidisch zu sein, auf die zanksüchtige, ewig unzufriedene Veronika mit ihrem mittelmäßigen Aussehen und neureichen Manieren. Doch Veronika, die kein Kind mehr gewollt hatte und es als entwürdigend empfand, nach der Hochzeit der eigenen Tochter noch einmal schwanger zu werden, hatte nun einen weiteren Sohn. Und Sybille wartete immer noch vergeben auf Anzeichen einer Schwangerschaft.

Sie versuchte an andere Dinge zu denken, versuchte noch einmal den Schlaf zu finden, der sich ihr so beharrlich verweigerte, doch es war vergebens. Schließlich, als sie merkte, daß die Sonne inzwischen aufgegangen war, stand sie ebenfalls auf. Während sie ihr Haar bürstete und es ebenso rasch wie behende einflocht, schalt sie sich wegen ihrer eigenen Schwäche. Sie war noch immer jung. Eigentlich hätte sie ihre Magd rufen sollen, damit sie ihr mit dem Ankleiden zur Hand ging, doch sie wollte niemanden die Spuren der Betrübnis auf ihrem Gesicht ablesen lassen. Sie biß die Zähne zusammen, dann tauchte sie es in die Schüssel mit kaltem Wasser.

Das schien zu helfen; der Sybille, die ihr nun aus dem Spiegel entgegensah, lagen zwar immer noch Schatten um die Augen, doch ihre Lider wirkten nicht mehr verquollen. Zögernd griff sie nach dem Wangenrot, das aus Italien stammte; sie kam sich immer noch ein wenig verrucht vor, wenn sie es benutzte, doch erstens schminkten sich mehr und mehr Frauen, und zweitens war sie nicht gesonnen, wie ein übernächtiges, bleiches Gespenst durchs Haus zu laufen.

Endlich stellte ihre Erscheinung sie zufrieden. Sie entschloß sich, die Feuerprobe gleich am Morgen zu wagen und der bettlägrigen Veronika ihren täglichen Besuch abzustatten; dann konnte der Tag nichts Schlimmes mehr für sie bereithalten. Sie frühstückte nichts, denn schon zu Beginn ihrer Ehe hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, Jakob, der am Morgen ebenfalls nichts zu sich nahm, am späten Vormittag eine kleine Mahlzeit in das Kontor zu bringen und dort mit ihm zu teilen. Anfangs war es Angestellten und Familie wie eine Ketzerei vorgekommen, doch Jakob begrüßte die Neuerung; es war auch eine Gelegenheit für sie beide, sich zu sehen und miteinander zu plaudern, denn ansonsten blieb nur das große abendliche Mahl im Kreise der Familie und die Nacht.

»Guten Morgen, Veronika«, begrüßte Sybille ihre Schwägerin mit fester Stimme. »Wie geht es dir heute?« Um der Wahrheit die Ehre zu geben, fügte sie schweigend hinzu, ich verstehe nicht, warum du noch länger hier liegst.

Veronika hatte selten ausgeruhter und besser ausgesehen. Andererseits, dachte Sybille, während sie Veronikas gleichgültige Antwort zur Kenntnis nahm, konnte man es einer Frau in ihrem Alter kaum verdenken, wenn sie es genoß, ihre Pflichten gegenüber Kindern und Ehemann endlich einmal hinter sich lassen zu können. Ulrich schlief, seit Veronika festgestellt hatte, daß sie erneut schwanger war, in einem anderen Zimmer, und, so flüsterte ein boshafter kleiner Geist in Sybilles Kopf, ich wette, dort bleibt er auch.

»Du scheinst mir etwas mager und abgehetzt zu sein, Sybille«, bemerkte Veronika betont freundlich. »Ist es zuviel für dich, allein alle Pflichten in diesem riesigen Haus übernehmen zu müssen?«

»Nein«, gab Sybille zurück, entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen. Vielleicht hatte es Veronika auch wirklich nur gut gemeint.

»Aber du bist so … unruhig«, stellte ihre Schwägerin fest.

Sybille zuckte mit den Achseln. »Ach, Veronika, du weißt doch, wir erwarten jeden Tag Richards Ankunft.«

Einige weitere Kissen hinter sich legend, stützte Veronika sich auf. »Ich verstehe nicht«, sagte sie mürrisch, »warum dein Neffe unbedingt zurückkehren mußte und mein Sohn in Venedig gelassen wird, bis die Welschen ihn völlig eingewickelt haben.«

»Aber, Veronika, daß Hänsle in Venedig bleibt, ist doch ein Vertrauensbeweis von Ulrich und Jakob, auf den du stolz sein kannst. Und Richard kehrt vor allem zurück, um sein Erbe entgegenzunehmen.«

»Ach ja«, sagte Veronika langsam, »das Erbe.« Sie musterte ihre Schwägerin. Widerwillig gestand sie ein, daß Sybilles übermäßige Schlankheit sich nur zu ihrem Vorteil auswirkte; ihr Gesicht hatte alles Weiche und Kindliche verloren, und was man vorher als den reizvollen Zauber der Jugend abgetan hatte, war jetzt die klare Schönheit einer erwachsenen Frau. Veronika wußte selbst nicht, warum, aber Sybilles Anblick verleitete sie jedesmal dazu, diese Makellosigkeit zerstören zu wollen.

»Dein Vater muß schon sehr überzeugt davon gewesen sein, daß er von dir keine Enkel mehr zu erwarten hat, um die Hälfte seines Vermögens dem Sohn seines verstoßenen Sohnes zu hinterlassen. Gab es da seinerzeit nicht einen Skandal?«

Nur die Hände, die bisher ruhig in ihrem Schoß zusammengefaltet gelegen hatten und sich nun zusammenballten, verrieten, daß Sybille sich getroffen fühlte. Ihre gelassene, höfliche Miene blieb unverändert, als sie entgegnete: »Meine Eltern billigten die Heirat meines Bruders damals nicht, doch inzwischen konnten sie sich, wie alle anderen auch, überzeugen, daß Richard der Stolz jeder Familie wäre. Er ist fleißig, klug und war dem Unternehmen in Florenz sehr nützlich.«

»So scheint es«, stimmte Veronika lauernd zu. Sie hatte ihre eigene Meinung über Richard Artzt – ein hinterlistiger Erbschleicher, genau wie seine Tante –, doch sie hatte nicht die Absicht, sich von einer einmal gefundenen Fährte wieder abbringen zu lassen.

»Aber du, Schwägerin Sybille … weißt du, ich meine es nur gut mit dir. Eigentlich ist es für jeden offensichtlich, warum du keine Kinder bekommst.«

Sybille erhob sich von dem Schemel neben Veronikas Bett, auf den sie sich gesetzt hatte. »Ich habe noch sehr viel zu tun, da ich zur Zeit, wie du mich sehr richtig erinnert hast, die alleinige Herrin des Hauses bin. Bitte entschuldige mich, Schwägerin Veronika.«

»Ulrich und ich haben Kinder, weiß Gott«, fuhr Veronika unbeirrt fort, »Georg und Regina können sich ebenfalls nicht beklagen – jeder Fugger hat immer reichen Nachwuchs gehabt. Trotzdem, ich glaube nicht, daß es an dir liegt.«

Sybille hatte ihr bereits den Rücken zugewandt, doch der letzte Satz ließ sie innehalten; sie hatte erwartet, daß Veronika ihr wie üblich Vorwürfe machte.

»Es liegt an Jakob«, sagte Veronika fast schnurrend. »Einen Mann zu heiraten, der einmal ein Mönch war, kann kein Glück bringen – es verstößt gegen die Gebote Gottes und seiner Kirche. Ein derart schuldiger Mann kann keine Kinder haben.«

Sie wartete, bis Sybille schon auf der Türschwelle stand, bevor sie ihr den letzten Hieb versetzte. »Aber es heißt in Augsburg, daß er es noch nicht einmal versucht. Verzeih, wenn ich das sage, meine Liebe, aber es heißt, das Geheimnis eurer Kinderlosigkeit liege darin, daß er immer ein Mönch geblieben ist.«

Sybille drehte sich um, und Veronika, die erwartet hatte, Tränen zu sehen, war überrascht und erschrocken über den leidenschaftslosen Haß, der sich auf dem jungen Gesicht von Jakobs Gemahlin zeigte.

»Veronika«, sagte Sybille leise, und ihre Stimme war seidig wie ein Band, das sie um den Hals ihrer Schwägerin legte und langsam immer fester zog, »du tust mir leid. In deinem ganzen Leben hast du an nichts anderem Freude gefunden als daran, über andere zu lästern wie eine Elster. Wenn du stirbst, dann wird man sich an dich nur erinnern, weil du Kinder hattest, und die hat eine Katze auch. Kannst du mir verraten, was dich überhaupt zu einem Menschen macht?«

Damit verließ sie die Kammer, und Veronika blieb nichts anderes übrig, als ihr nachzustarren. Eigentlich hätte sie sich als Siegerin in diesem Streit fühlen sollen, doch der Triumph, auf den sie so lange gewartet hatte, wollte sich nicht einstellen. Schließlich stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, daß sie weinte.

Sybille weinte nicht. Statt dessen stürzte sie sich auf ihre Aufgaben im Anwesen am Rindermarkt; sie hatte Veronika nicht belogen, es gab wirklich sehr viel zu tun. Doch um die gewohnte Zeit ging sie ins Kontor. Ludwig Schweriz, Jakobs Hauptbuchhalter, hieß sie mit einer knappen Verbeugung willkommen und entfernte sich dann, wofür sie ihn mit einem dankbaren Lächeln belohnte.

»War die Küche heute überfüllt?« fragte Jakob gutgelaunt, doch die Heiterkeit in seinen Augen erstarb, als er sie über das Tablett hinweg prüfend anblickte. »Was ist geschehen, Sybille?«

An und für sich hatte sie sich sehr gut in der Gewalt, aber Jakob blieben die Stimmungen seiner Mitmenschen nie verborgen. Es war ein Teil des Geheimnisses seines Erfolges. Also versuchte sie gar nicht erst, ihm etwas vorzumachen; außerdem fehlte ihr im Moment die Lust, für Veronika zu lügen.

»Eigentlich etwas ganz Alltägliches«, erwiderte sie deshalb und setzte sich mit ihrer vertrauten Respektlosigkeit seiner Arbeit gegenüber auf den wuchtigen Marmorschreibtisch mit den vier Löwen, nachdem sie einige Papiere zur Seite geschoben hatte. »Ein Streit mit Veronika. Ihr war heute einfach wieder danach, mich auf … meine Kinderlosigkeit anzusprechen.«

Sie wußte, daß Freunde wie Feinde ihren Gemahl für ein gefühlloses Wunder an Skrupellosigkeit und Geschäftskunst hielten, die einen mit Achtung, die anderen voll Haß, und daß kaum jemand auf den Gedanken kam, er könne Empfindungen wie jeder andere Mensch entwickeln. Daher erfüllte es sie gewöhnlich mit Stolz, daß Jakob ihr und ihr allein auch seine andere Seite zeigte, sich selbst verwundbar machte, indem er ihr zeigte, daß er sie liebte. Im Augenblick allerdings konnte sie verstehen, warum die meisten Leute es für zu gefährlich hielten, Jakob Fugger zum Feind zu haben.

»Ich werde mich um Veronika kümmern«, sagte er knapp, dann stand er auf, ging um den Tisch herum, umfaßte mit einem Arm ihre Taille und hob mit der anderen Hand ihr Kinn. »Aber versprich mir, daß du nicht mehr daran denkst – willst du das für mich tun?«

Jetzt hatte er erreicht, was Veronika und ihren Sticheleien nicht gelungen war; Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie konnte nicht antworten. Wütend versuchte sie, sie wegzublinzeln. Er küßte sie und murmelte gegen ihren Hals: »Sybille, es macht mir nichts aus, keine Kinder zu haben – in vieler Hinsicht ist das sogar besser. Was meinst du, warum ich damals darauf bestanden habe, daß der Gesellschaftsvertrag die normale Erbfolge ausschließt? Wir sind keine adlige Dynastie, und es wäre besser, wir fingen gar nicht erst an, uns wie eine zu verhalten.«

Sie erwiderte seinen Kuß, doch sie konnte ihm nicht recht glauben. Und was noch schlimmer war, sie konnte ihm nicht sagen, was sie dachte. Jakob mochte sich tatsächlich keine Kinder wünschen, keine Kinder brauchen; aber sie wünschte sich Kinder, wünschte sie sich verzweifelt.

Da ihr nur zu schnell wieder bewußt wurde, wie wenig Zeit er hatte, beendete sie die Angelegenheit jedoch mit einem Scherz über König Maximilians Schwierigkeiten, all seine ehelichen und unehelichen Nachkommen standesgemäß zu verheiraten. Bald plauderten sie so unbeschwert wie immer. Als Schweriz wieder hereinkam, sprang Sybille auf.

»Bei allen Heiligen, Schweriz, Ihr braucht nicht so grimmig dreinschauen. Ich werde unser aller Meister nicht länger von seiner Pflicht abhalten.«

Schweriz errötete ein wenig; nach all den Jahren war er gegenüber Sybilles Neckereien noch immer empfindlich. »Das, nun, war nicht der Grund, warum ich gekommen bin, Frau Fugger. Bitte gütigst zu entschuldigen, Frau Fugger, aber die Gruppe aus Italien ist eingetroffen, mit Eurem Neffen.«

Es erfüllte Sybille mit einer gewissen Verwirrung, daß sie im ersten Moment nicht in der Lage gewesen war, unter den Männern, die dabei waren, Pferde, Wagen und Waren in die Ställe zu bringen, Richard ausfindig zu machen. Dann wandte er den Kopf, und sie streckte ihm erleichtert die Arme entgegen. Er war noch gewachsen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, doch das allein machte die Veränderung nicht aus; sie konnte es sich selbst nicht erklären.

»Tante!« Er ergriff ihre Hände und hielt sie mit aufrichtiger Freude fest, und Sybille dachte resignierend, eines zumindest hatte sich nicht verändert – Richard scheute nach wie vor Umarmungen.

»Willkommen daheim«, sagte sie und erwiderte seinen Händedruck.

»Daheim«, wiederholte Richard mit einem seltsam fernen Gesichtsausdruck. »Ja, das ist wohl mein Zuhause. Ich habe nicht darüber nachgedacht, bis ich Euch vorhin sah, aber dann …«

Sybille lachte. »Kann es sein, daß man dir in Italien endlich die Kunst beigebracht hat, die Frauen mit Schmeicheleien zu umgarnen?« zog sie ihn auf und war erleichtert, als die starre Miene verschwand und einem kleinen Lächeln Platz machte. Auch damals, als Richard aus Wandlingen gekommen war, hatte sie nicht lange gebraucht, um zu entdecken, daß in dem zurückhaltenden Jungen derselbe irrlichternde Sinn für Humor ruhte wie in ihr.

»Jedenfalls habe ich in Italien niemand getroffen, der sich so gut wie Ihr darauf versteht, anderen Leuten Schmeicheleien zu entlocken«, gab er rasch zurück.

Sybille blinzelte ihm zu. »Das muß ich, Richard, das muß ich. Wie soll ich sonst in diesem Haushalt voller sparsamer Fugger auf meine Kosten kommen?«

Ich habe vergessen, wie entwaffnend sie ist, dachte Richard, während er seiner Tante von den Büchern erzählte, die er als Geschenk für sie mitgebracht hatte. Oder wie sehr allein schon das Anwesen am Rindermarkt, das nun, nachdem er die italienischen Handelshöfe erlebt hatte, auf ihn nur noch mittelgroß wirkte, an seinem festentschlossenen Gleichmut rüttelte. Und dann …

»Weil wir gerade davon sprechen«, warf er ein, bemüht, nicht zu drängend zu klingen, »ich hoffe doch, es geht … allen in der Familie gut?«

Sybille wußte sehr wohl, nach wem er eigentlich fragen wollte, und entgegnete mit tiefernster Stimme: »Wenn du von Ulrichs Magenbeschwerden absiehst, von Ursulas Liebeskummer, von Veronikas Bettlägrigkeit – Richard, er wartet im Kontor auf dich.«

Belustigt, weil seine verlegene Haltung sie mit einem Mal wieder an einen unsicheren Jungen erinnerte, fügte sie hinzu: »Und wenn du versprichst, mich nicht zu verraten, dann laß dir sagen, daß er beinahe so ungeduldig ist wie ich es war.«

Skeptisch zog ihr Neffe eine Braue hoch. »Ungeduldig? Er?«

»In der Tat, nur kann er es wesentlich besser verbergen als ich … oder du.«

Richard errötete. Er fühlte sich durchschaut, aber er wollte Sybille nicht den Eindruck vermitteln, als habe er es eilig, sie zu verlassen, und außerdem fiel ihm mit einem Mal siedendheiß ein, daß er völlig vergessen hatte, ihr sein Beileid wegen ihres Vaters auszusprechen. Daß er bei der einen Gelegenheit, bei der er seinen Großeltern vorgestellt worden war, keinen Anlaß gehabt hatte, seine Meinung über die Familie Artzt, mit Ausnahme von Sybille, zu ändern, und sich beim besten Willen nicht erklären konnte, warum der alte Mann ihn in sein Testament eingesetzt hatte, tat in diesem Zusammenhang nichts zur Sache.

»Wegen der Familie«, begann er vorsichtig, »ich – also – es tut mir leid, daß Ihr Euren Vater verloren habt.«

Sybille machte eine abwehrende Handbewegung und schaute an ihm vorbei. »Reden wir später darüber, Richard. Ich muß dir noch viel erzählen, nur glaube ich, daß es dafür angenehmere Orte gibt als einen staubigen Innenhof voller Menschen. Außerdem muß ich mich ohnehin darum kümmern, daß ihr, du und deine Reisegefährten, angemessen untergebracht werdet.«

»Einverstanden«, stimmte Richard erleichtert zu. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Oh – wie war das noch einmal mit Ursulas Liebeskummer und Veronikas Bettlägrigkeit? Das hängt doch nicht etwa miteinander zusammen?«

»Nein. Veronika – Veronika hat vor sechs Tagen ein Kind zur Welt gebracht.«

»Was ist es geworden?« erkundigte sich Richard mit dem Ausdruck äußerster Spannung. »Skylla oder Charybdis?«

Alles, was sich an Kummer, Zorn und Eifersucht in Sybille aufgestaut hatte, entlud sich in einem befreienden, schallenden Gelächter. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und umarmte ihren Neffen, der mit einer solchen Reaktion nun doch nicht gerechnet hatte, fest.

»O Richard«, sagte sie, während sie ihn an sich drückte, »ich habe dich wirklich vermißt!«

Seine italienische Traumwelt um ihn war zerbrochen wie ein gläserner Palast, aber die dämmrigen Gänge des Nordflügels, wo sich der zarte Duft des Ahornholzes mit dem nach Papier und vergossener Tinte mengte, wo alle Fäden in dem goldenen, unerbittlichen Herzen des Unternehmens zusammenliefen, hielten noch eine weitere Welt für ihn bereit, und Richard, der ihre Verlockung deutlicher als je zuvor spürte, hatte auch das dringende Bedürfnis, auf der Hut zu sein.

Jakobs ›Komm zurück‹ und Sybilles Brief, die ihn in genau dem Moment trafen, als er selbst die Bande zu den beiden Menschen, die ihm Italien zum Geschenk gemacht hatte, zerschnitten hatte, als selbst Florenz mit all seiner Gelehrsamkeit für ihn an Zauber verloren hatte, waren ihm wie zwei Strohhalme erschienen, nach denen er griff. Doch er war sich nur zu bewußt, daß es nichts umsonst gab. Jakob, der bei den italienischen Banken fast uneingeschränkte Kreditwürdigkeit genoß, hätte das unerwartete Erbe problemlos auch nach Italien transferieren können, statt Richard über die Alpen zu holen; das Erbe allein machte seine Reise nicht notwendig. Jakob mußte etwas von ihm wollen, und Richard versuchte, daran zu denken, als er das Kontor betrat.

Wie immer standen zwei Schreiber an den Pulten am Fenster, und Schweriz war an den Karteischränken beschäftigt. Jakob stand neben ihm und erteilte ihm in leisem, gedämpftem Tonfall seine Anordnungen.

Das Aufwallen heftiger Freude, welches er bei Jakobs Anblick spürte, verwirrte Richard. Es war verständlich, daß er glücklich darüber gewesen war, Sybille wiederzusehen; sie war nicht nur die einzige Verwandte, die er hatte, sondern auch einer der liebenswertesten und warmherzigsten Menschen, die ihm je begegnet waren. Aber die Tatsache, daß er an Jakob nicht nur durch materielle Abhängigkeiten, sondern auch durch Gefühle gebunden war, beunruhigte Richard und rief gleichzeitig mit der Freude auch Widerstand in ihm wach. Er war kein Junge mehr, dachte er, den Jakob, wie er es einmal selbst ausgedrückt hatte, durch das Ziehen einiger Fäden bewegen konnte wie eine Puppe.

Jakob wandte sich zu ihm und sagte in seiner gemessenen Stimme: »Ich bin froh, daß du hier bist. Setz dich, wir haben einiges zu besprechen.«

Richard entschloß sich, für diesmal den Vorteil des Angriffs wahrzunehmen und nicht auf Jakobs Eröffnungszug zu warten – eine Taktik, die ihm beim Schachspiel manchmal geholfen hatte.

»Was, wenn Ihr dem falschen Kardinal Schweizer Söldner vermittelt?« fragte er betont unbekümmert. »Wäre das für das Unternehmen nicht ein Verlustgeschäft?«

In den bernsteingelben Augen, die ihn beobachteten, blitzte Belustigung auf. »Nicht schlecht«, sagte Jakob Fugger anerkennend. »Aber in diesem besonderen Fall spielt es für mich gar keine Rolle, welcher Kardinal Papst wird. Sowohl Borgia als auch della Rovere haben den Ehrgeiz, sich der mächtigen Adelsfamilien in ihrer Umgebung zu entledigen, und das geht nicht ohne Soldaten.«

»Mit Waffen aus den ungarischen Erzbergwerken«, ergänzte Richard.

Jakob nickte unmerklich. »Aber wenden wir uns lieber der unmittelbaren Zukunft zu. Ich weiß nicht, ob du dir über den Umfang deines Erbes im klaren bist. Sybilles Mutter erhält den üblichen Witwenteil und allen Grundbesitz. Sybille selbst erhält meiner Vereinbarung mit ihrem Vater gemäß ein Viertel, da ihre Mitgift bei unserer Heirat bereits ein Teil ihres Erbes mit einschloß. Abzüglich einer Stiftung für die Sankt-Anna-Kirche fällt das gesamte restliche Vermögen an dich. Und das macht dich«, endete Jakob, während er sich langsam hinter seinem Tisch niederließ, »vollkommen unabhängig. Du bist nicht länger darauf angewiesen, für das Unternehmen zu arbeiten. Falls du noch immer studieren willst, so steht dir das jetzt frei.«

In Richard stritten Bewunderung und Groll. Er hatte nicht erwartet, daß Jakob sofort auf diesen Umstand zu sprechen kommen würde; was er hingegen erwartet hatte, war ein Hinweis, mehr oder weniger versteckt, auf den Vertrag bei den Augsburger Gilden, den er vor seiner Abreise nach Italien unterzeichnet hatte, und auf die unbestreitbare Tatsache, daß er, hätte ihn Jakob Fugger nicht aus Wandlingen geholt und ihm die Erziehung eines wohlhabenden Kaufmannssohns ermöglicht, wahrscheinlich nie die Gelegenheit zum Studium gehabt hätte, von einem eigenen Vermögen ganz zu schweigen. Doch derartiger Methoden bediente sich Jakob nicht. Man verlasse sich nie auf Jakob Fugger, dachte Richard. Wenn es zwei Möglichkeiten gibt, jemanden unter Druck zu setzen, findet er garantiert eine dritte.

Laut sagte er: »Ich hatte in Florenz bereits die Gelegenheit zum Studium.« Er fügte nichts hinzu und fragte nichts; sollte Jakob doch aus seiner Deckung hervorkommen.

»Ich weiß.« Ein leichtes Zucken der Mundwinkel verriet, daß Jakob Richards Taktik durchschaute. »Das erwies sich als sehr nützlich für das Unternehmen.« Ein leichtes, anerkennendes Neigen des Kopfes. »Du warst sehr nützlich – für das Unternehmen. Wir konnten viele deiner Hinweise verwenden, und der Rest war hervorragend geeignet für die Augsburger Nachrichten.«

Nun sag es schon, dachte Richard. Aber Jakob wechselte plötzlich das Thema. »Ich nehme an«, bemerkte er beiläufig, »du bist dir der Jahreszahl bewußt.«

»Der Jahreszahl?«

»Wir nähern uns der Jahrhundertwende«, sagte Jakob und beließ es dabei. Richard war klar, daß er schon wieder einer von Jakobs kleinen Prüfungen unterzogen wurde. Er hatte soeben einen Hinweis bekommen, aber er verstand ihn nicht. Die Jahrhundertwende? Sie war noch mehr als acht Jahre entfernt.

»Wie ich schon sagte«, meinte Jakob abschließend, »ich bin froh über deine Rückkehr. In Augsburg mangelt es entschieden an Leuten, die das Schachspiel beherrschen.«

Damit war er entlassen, und Richard erhob sich. Der Teufel soll ihn holen, dachte er aufgebracht. Jahrhundertwende? Eines Tages werde ich ihn im Schach besiegen, und dann werden wir sehen, wie er damit fertig wird. Wir werden sehen.

Doch so sehr er sich bemühte, es zu leugnen – auch er war froh über seine Rückkehr.

Sybille hatte ihm sein altes Zimmer herrichten lassen, und es verwunderte ihn, daß es im Gegensatz zu früher fast nicht genügend Raum für seine Habseligkeiten zu bieten schien. Er hatte nicht geglaubt, soviel Gepäck mitgebracht zu haben.

Auf einmal hielt er Saviyas Goldreif und ihre Haarlocke in den Händen, und der zornige Schmerz, den er so lange zurückgedrängt hatte, überfiel ihn mit einer beinahe körperlichen Intensität. Sie hatte ihre Wahl getroffen, stellte er erbittert fest und versuchte sich Saviya nur vorzustellen, wie er sie zuletzt gesehen hatte, nicht als die Frau, die er in den Armen gehalten, das Kind, dem er das Leben gerettet hatte. Es ist mir gleich, dachte Richard. Sie ist mir gleich.

Dennoch brachte er es nicht fertig, das wenige, das er von ihr hatte, wegzuwerfen oder zu verbrennen. Er verstaute beides wieder sorgfältig in der kleinen Schatulle, die er seit Wandlingen mit sich führte, und holte etwas anderes hervor, ein weiteres Bündel von Erinnerungen: das Buch über die Hexenprozesse, das er mit Marios Hilfe erst kurz vor ihrer Reise nach Ferrara beendet hatte.

Seit ihrem verhängnisvollen Besuch bei Salviati hatte er nicht mehr mit Mario gesprochen. Das Manuskript hatte ihm der Mönch durch einen Boten aus Santo Spirito schicken lassen, wo es durch Marios Hand die letzten Korrekturen erfahren hatte.

Daß Mario ihm nichts von Saviyas Schattenleben erzählt hatte, war ihm zuerst als ein unverzeihlicher Verrat erschienen. Später wäre Richard zwar bereit gewesen, sich Marios Gründe anzuhören, doch er konnte sich nicht dazu überwinden, den ersten Schritt zu tun. Warum hatte Mario nicht versucht, ihm alles zu erklären, brieflich oder mündlich? Sein Schweigen wirkte wie ein Schuldbekenntnis oder wie ein Vorwurf, und beide Möglichkeiten riefen in Richard nur neue Feindseligkeit wach.

Doch er hatte das Manuskript nicht der Erinnerungen wegen über die Alpen gebracht. Nachdem er sich in seinem Zimmer eingerichtet hatte, machte er sich auf den Weg zu dem Drucker, der regelmäßig für Jakob arbeitete.

Seit Gutenbergs bewegliche Lettern jedermann zugänglich waren, blühte das Geschäft mit kurzen Schriften, Pamphleten und Aufrufen, die häufig nur aus einer Seite bestanden und für alle erschwinglich waren, doch Jakob Fugger war der erste gewesen, der auf die Idee kam, mit Neuigkeiten, auf deren Geheimhaltung er keinen Wert mehr legte, auch Geld zu verdienen. Damit hatte er sich den Drucker, einen biederen Schwaben, der vorher hauptsächlich an allegorischen Holzschnitten und Predigten verdient hatte, auf ewig verpflichtet, und der Meister hatte seine Werkstatt nicht zufällig in der Nähe des Rindermarktes eingerichtet. Viele Neugierige umlagerten regelmäßig die Druckerei, doch deren Besitzer lieferte all seine Erzeugnisse zuerst an das Unternehmen, das ihn schließlich auch mit den Nachrichten versorgte.

Richard hatte keine Schwierigkeiten, die Druckerei, an die er sich noch gut erinnerte, zu finden; der Drucker erkannte ihn nach einigen einleitenden Worten sogar wieder.

»Ei der Daus, wenn das nicht der Neffe der Frau Fugger ist, der hier immer herumgelungert hat! Hört, junger Mann, Ihr seid zur Zeit wirklich das Stadtgespräch von Augsburg, wißt Ihr das? Niemand wäre auch nur im Traum darauf gekommen, daß der alte Wilhelm … Nichts für ungut. Es war eben eine Überraschung. Was führt Euch denn hierher?«

»Ich habe ein Buch geschrieben«, begann Richard, »zusammen mit einem Freund, und ich wollte mich bei Euch nach den Kosten für eine Veröffentlichung erkundigen.«

Der Meister wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Nun, das kommt darauf an – auf den Umfang, und vor allem, wie gut sich Euer Buch verkauft. Ich möchte Euch nicht enttäuschen, aber philosophische Abhandlungen finden zur Zeit wenig Absatz.«

»Es handelt sich nicht um eine philosophische Abhandlung. Es geht um Hexen –«

»Das ist etwas anderes!« Der kleine Mann strahlte. Es war ihm angenehm, einem Verwandten seines wichtigsten Kunden behilflich sein zu können, der überdies dank seines neuen Reichtums selbst zu einem guten Kunden werden mochte.

»Seit die guten Patres von der Inquisition den ›Malleus Maleficarum‹ veröffentlicht haben, reißen sich die Leute um Bücher über Hexen. Da sehe ich überhaupt keine Schwierigkeiten.«

In Richard kämpfte der Ehrgeiz, sein Buch gedruckt zu sehen, mit dem schlechten Gewissen. Er konnte jetzt darauf verzichten, den Drucker über den wahren Charakter seines Werkes aufzuklären, doch erstens würde es der Mann, der wie jeder seines Handwerks etwas Latein verstand, spätestens beim Setzen herausfinden, und zweitens wollte er niemanden ohne Warnung in Schwierigkeiten mit der Kirche verwickeln.

Der Drucker griff bereits nach dem Papierbündel, das Richard unter dem Arm trug. »Ricardus Medicus et Marius Volterra, Processus Inquisitorii contra Maleficas, hm … Wie wäre es mit einem deutlicheren Titel? Ihr müßt wissen, der Titel ist sehr wichtig. Etwa ›De Crimene Sagarum‹ oder ›De Crimene Mague‹. Wie wäre es damit?«

Verlegen gab Richard vor, die Gehilfen des Druckers zu beobachten, während er antwortete: »Das ist unmöglich, Meister Eginhard, und zwar deswegen, weil es nicht eigentlich um das Verbrechen der Zauberei, sondern eben um die Prozesse gegen Hexen geht. Ich vertrete in diesem Buch die These, daß es bei der von der Inquisition angewandten Prozeßform nicht nur möglich, sondern auch sehr wahrscheinlich ist, daß Unschuldige verurteilt werden.«

Er hatte es mit Absicht so vorsichtig wie möglich formuliert – in der Tat endete das Buch mit der Feststellung, daß bisher wohl nur Unschuldige verurteilt worden waren –, doch es genügte, um den Drucker bleich werden zu lassen. »Aber … aber der Heilige Vater selbst hatte verboten, an der Existenz von Hexen zu zweifeln!« stieß der Mann entsetzt hervor.

»Ich weiß, und das tue ich in dem Buch auch nicht«, sagte Richard beruhigend. Ursprünglich war eben dies seine Ausgangsthese gewesen, doch Mario hatte ihn immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß er, wenn er das Buch veröffentlicht sehen wollte, nur die Prozeßpraktiken angreifen durfte, nicht die Existenz von Hexen an sich.

Seine Versicherung überzeugte den Drucker jedoch nicht. »Wollt Ihr mich bei der heiligen Inquisition in Verruf bringen? Nein, Herr Artzt, diese Art von Drucker bin ich nicht.«

»Es handelt sich doch nur um einige theoretische Überlegungen, die …«

»Nein!« Kleine Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn des Mannes. »Niemals. Ich bin doch nicht wahnsinnig geworden!«

Veronika Fugger gestand es sich nur ungern ein, doch wenn sie darüber nachdachte, dann mußte sie es zugeben, daß sie Angst vor ihrem Schwager Jakob hatte. Umsonst sagte sie sich immer wieder, daß es keinen Grund dafür gab. Nicht nur war sie die Frau seines Bruders, sondern noch dazu die Frau seines ältesten Bruders, und er war dazu verpflichtet, ihr stets mit Ehrerbietung zu begegnen; sollte Ulrich vor ihm sterben, würde Jakob bis an sein Lebensende für Veronika sorgen müssen, so war es in Ulrichs Testament festgelegt. Außerdem würde es Ulrich, der schließlich laut Gesellschaftsvertrag das Oberhaupt des Unternehmens war, gewiß nicht zulassen, daß Jakob Veronika je in irgendeiner Form etwas zuleide tat.

Nein, es gab keinen Grund, Jakob zu fürchten, und daher hatte sie sich auch all die Jahre Sybille gegenüber sicher gefühlt; doch sie dachte nicht sehr gerne an Annas Verlobung zurück, als Jakob sie so sehr eingeschüchtert hatte, daß sie sich noch wochenlang bemühte, ihm auszuweichen. Das war nun lange her, aber als Jakob sie jetzt am frühen Abend besuchte, bemühte sie sich, nicht zusammenzuzucken.

»Ich nehme an«, sagte sie, und das heimliche Beben machte ihre Stimme schrill, »du kommst, weil sich deine Gemahlin über mich beschwert hat. Wirklich, Jakob, du hättest kein so junges Ding heiraten dürfen. Sie benimmt sich wie ein kleines Mädchen, das an den Zöpfen gezogen wurde.«

»Teuerste Veronika, du irrst dich«, entgegnete ihr Schwager freundlich. »Ich wollte nicht über Sybille mit dir sprechen, sondern über deinen Sohn Hans Ulrich.«

»Hänsle?« fragte sie verwirrt. »Was ist mit ihm?«

»Dein Sohn Hans Ulrich«, fuhr Jakob fort, als habe er ihre Frage nicht gehört, und schon allein der Umstand, daß er Hänsles vollen Namen verwendete, bereitete ihr Unbehagen, »scheint bedauerlicherweise der Ansicht zu sein, sein Aufenthalt in Venedig diene weniger dem Unternehmen als dem Zweck, ein möglichst angenehmes Leben zu führen. Hat dich sein Vater je über die Summen informiert, die er für Bestechung, Frauen, Feste und Kleider aufwendet?«

Veronika zerknäulte die Bettdecke unter ihren Fingern. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß es eigentlich höchst unziemlich von Jakob war, sie unter den gegebenen Umständen zu besuchen; krank oder nicht, eine bettlägrige Frau ihres Standes durfte außer von ihrem Gemahl nur von Frauen gesehen werden. Doch nichts in Jakobs regloser Miene ließ darauf schließen, daß er auch nur einen Gedanken an ihre peinliche Lage verschwendete.

»Das«, gab sie erbost zurück, »liegt nur an den Welschen. Stimmt es nicht, daß man mit ihnen nur Geschäfte machen kann, wenn man sie fürstlich bewirtet?«

Jakob lehnte sich gegen die Tür des Schlafgemachs. »Das ist, wie so vieles, eine Frage der Verhältnisse. Die Einnahmen müssen die Ausgaben rechtfertigen. Leider rechtfertigen die Einnahmen, die das Unternehmen deinem Sohn verdankt, überhaupt nichts, und inzwischen hat er reichlich Zeit gehabt, sich den örtlichen Gepflogenheiten anzupassen. Es könnte sein, daß wir ihn eher als geplant aus Venedig zurückholen müssen. Es könnte sein, daß wir ihn nie wieder innerhalb des Unternehmens beschäftigen werden. Und da seine Brüder ihm nachzueifern scheinen, könnte es auch sein, daß keiner deiner Söhne je in Augsburg etwas darstellen … oder erben wird.«

Obwohl es nicht kalt im Zimmer war und eine Magd ihr erst vor einer halben Stunde eine Bettpfanne gebracht hatte, fröstelte Veronika. Insgeheim häufte sie Flüche auf das Haupt ihres Ehemannes. Warum hatte er sich nur von Georg beschwatzen lassen und Jakob aus Herrieden zurückgeholt? Warum hatte er seinen jüngsten Bruder nicht als Mönch dort vermodern lassen, wo er nie jemandem hätte gefährlich werden können? Er hat uns den Teufel ins Haus geholt, dachte Veronika und widerstand dem Drang, sich zu bekreuzigen, Gott helfe uns.

Die Worte, die sie schließlich hervorbrachte, kamen nur noch als ein leises Krächzen über ihre Lippen. »Was willst du?«

»Höflichkeit, Veronika«, sagte Jakob und beobachtete sie wie die Katze die Maus, »nur etwas Höflichkeit.«

Er brauchte nicht mehr zu sagen. Veronika senkte ihr Haupt und wünschte sich, nie etwas von den Gebrüdern Fugger gehört zu haben. Schließlich hätte sie einen Welser heiraten können. Zumindest bestand einmal die Aussicht darauf.

»Ich verspreche es«, flüsterte sie. Jakob blieb gerade lange genug, um sie das Ausmaß ihrer Abhängigkeit von ihm fühlen zu lassen, dann verabschiedete er sich mit besten Wünschen für ihre Gesundheit und ging. Ihr war wieder kalt, und sie rief nach ihrer Magd, um eine weitere Bettpfanne zu bekommen.

Abgesehen von Veronika waren alle in Augsburg lebenden Fugger vollzählig beim Abendmahl versammelt; Richard wollte sich gerade einen Platz suchen, als ein hübsches rothaariges Mädchen, das ihm vage vertraut vorkam, aufsprang und ihm um den Hals fiel. »Richard, du meine Güte! Warum hast du Hänsle nicht mitgebracht? Oder ist er inzwischen zu venezianisch für uns geworden?«

»Ursula?« fragte er, immer noch leicht verwundert, um dann wesentlich begeisterter fortzufahren: »Wo sind deine Sommersprossen geblieben? Du siehst aus wie eine Hofdame, weißt du das? Aber es ist schön, dich wiederzusehen.«

»Das will ich hoffen«, lachte sie.

Er hatte Hänsles zweite Schwester immer gerne gemocht und konnte sich nicht erklären, daß er sie nicht sofort erkannt hatte. Allerdings hatte sie sich in der Tat verändert. Sie war von einem Kind zu einer jungen Frau geworden. Plötzlich wurde er sich bewußt, daß er sie noch immer in den Armen hielt, spürte den leichten Druck ihrer Brüste und die Wärme ihrer Haut. Abrupt ließ er sie los.

Ursula schien nichts zu bemerken; sie erzählte ihm atemlos den neuesten Familienklatsch, während sie ihn an den Tisch zog, und überhäufte ihn mit Fragen nach Italien. Erst später fiel ihm ein, daß Sybille etwas von ›Ursulas Liebeskummer‹ erwähnt hatte, und es kam Richard in den Sinn, daß für Ursula ihre übersprudelnde Fröhlichkeit vielleicht nur das war, was für ihn seine eigene Zurückhaltung bedeutete – ein guter Deckmantel.

Dennoch verwirrte sie ihn. Er fragte sich, ob es wohl ein rein Weibliches Geheimnis war, das die Frauen in die Lage versetzte, sich binnen kurzer Zeit so schnell zu verwandeln, und das Bild von Saviyas kindlichem Körper, wie er sie zuerst im Schnee gefunden hatte, tauchte in ihm auf. Ärgerlich drängte er es zurück. Er wollte nicht an Saviya denken, und ganz besonders nicht im Zusammenhang mit Ursula.

In den deutschen Landen war der Sommer schon sehr bald in einen kühlen Herbst übergegangen, und als Richard sich nach Aufhebung der Tafel zu Sybille gesellte, stellte er fest, daß er das wärmende Kaminfeuer als angenehm empfand. Seine Jahre in Florenz hatten ihn einen kühlen, feuchten Herbst vergessen lassen. Sybille kam ziemlich bald auf das zu sprechen, was sie schon lange bewegte.

»Richard, ich werde morgen meine Mutter besuchen, und ich würde mich freuen, wenn du mich begleitest. Gewiß, sie wird ohnehin bald hier wohnen, wenn die Auflösung ihres Haushalts geregelt ist, aber …«

Er verstand, was sie sagen wollte, doch er fand es unerwartet schwer, ihr die gewünschte Antwort zu geben. Als er von seiner unerwarteten Erbschaft las, hatte er aus einem ersten Impuls das Geld zurückweisen wollen; die Familie hatte von seiner Mutter nichts wissen wollen, und er war nicht auf ihre Almosen angewiesen. Dann hatte ihm der gesunde Menschenverstand die Vorteile eines solchen Erbes gezeigt; dazu kam die überraschend starke Sehnsucht, Augsburg, Sybille und Jakob wiederzusehen. Dabei war ihm klar gewesen, daß einige Höflichkeitsbesuche bei der alten Frau, die er nicht als seine Großmutter betrachten konnte, unumgänglich waren. Doch um was Sybille ihn bat, wenn sie es auch nicht direkt aussprach, war mehr als hohle Freundlichkeit, war verwandtschaftliche Wärme.

Ursula erlöste ihn von der Notwendigkeit, sofort zu antworten, als sie sich auf einen Fußschemel neben Sybille setzte und neckend zu Richard sagte: »Also weißt du, wenn ich daran denke, daß du uns jahrelang eine so wunderbare Geschichte verheimlicht hast – fast jeder in Augsburg wußte eher als wir, daß wir den verstoßenen Sohn beherbergten, dessen Mutter eine sarazenische Prinzessin war. Die Leute sprechen im Moment von nichts anderem.«

»Eben darum haben Richard und ich uns darauf geeinigt, nichts zu erzählen«, meinte Sybille trocken. »Nicht jeder ist gerne der Gesprächsstoff der Stadtklatschbasen.«

Ursula war nicht im geringsten verlegen, doch Richard, der gerade etwas Wasser getrunken hatte, verschluckte sich und fing an zu husten.

»Entschuldige«, brachte er schließlich hervor, »aber das erinnert mich an ein florentinisches Sprichwort: ›Das einzige, was schlimmer ist, als Gegenstand aller Gespräche zu sein, ist, wenn überhaupt nicht über einen geredet wird.‹«

»Eben«, meinte Ursula zufrieden. »Nun sag schon, Tante Sybille, wie war das damals mit deinem Bruder und Richards Mutter? Ich stelle es mir wie in einem Lied vor.«

Ein Schatten zog über Sybilles Gesicht. »So habe ich es mir auch vorgestellt, aber das hatte wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Meine Eltern«, dabei schaute sie Richard direkt an, »haben ihren Sohn geliebt, doch sie waren sehr stolz, und seine Heirat brach ihnen das Herz. Es war falsch von ihnen, Markus zu verstoßen, doch ich finde, man sollte es ihnen verzeihen.«

»Bestimmt sollte man das«, sagte Ursula und fügte nicht ganz überzeugend heiter hinzu: »Ich verzeihe meinen Eltern auch andauernd – sogar das mit Philipp.«

Aber, dachte Richard, niemand hätte es je gewagt, Zobeida Artzt als Hexe anzuzeigen, wenn sie in Augsburg als geachtetes Mitglied einer so mächtigen Familie gelebt hätte – oder doch? Mario hatte ihm Beispiele genannt, wo die Inquisition auch vor den Mächtigen nicht haltgemacht hatte. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß Mario eigentlich von Anfang an, noch bevor sie sich gemeinsam auf die Suche nach einschlägigen Werken gedacht hatten, ausnehmend gut über alles informiert gewesen war, was mit Hexen zusammenhing, so als hätte er sich selbst schon lange damit beschäftigt.

Doch das spielte jetzt eigentlich keine Rolle mehr. Sybille blickte ihn erwartungsvoll an, und in Richard keimte mit einem Mal Beschämung. Dies war das erste Mal, daß er etwas für seine Tante, die ihn nie wie einen lästigen armen Verwandten behandelt hatte, tun konnte, und er benahm sich, als verlange sie ein ungeheures Opfer von ihm.

»Ich werde Euch sehr gerne morgen begleiten – zu meiner Großmutter«, versprach er.