37
MARIO WAR NICHT UNGLÜCKLICH darüber, daß Giovanni de'Medici sich entschieden hatte, das Weihnachtsfest nicht in Florenz, sondern in Rom zu verbringen. Für Giovanni allerdings bedeutete der Entschluß für Rom eine Flucht. Die Atmosphäre im Palazzo in der Via Larga war unerträglich geworden. »Wenn Piero mir noch einmal befiehlt, was ich zu tun habe, schreie ich! Selbst Giuliano kommandiert er nicht so herum! Und von mir will er sich keinen einzigen Ratschlag anhören, dabei könnte er dringend welche gebrauchen. Wir haben Glück, daß Vetter Gianni Catarina Sforza schon geheiratet hat, sonst hätten wir nämlich, so wie Piero sich aufführt, überhaupt keine Verbindung mehr zu den Sforza. Demnächst stellt er Ferrante noch Soldaten zur Verfügung. Das muß man sich einmal vorstellen! Warum um alles in der Welt kann er sich nicht an das halten, was unser Vater gemacht hat?«
Die letzte Bemerkung rief in Mario eine gewisse unerwartete Sympathie für Piero wach. Es war nicht leicht, Lorenzo de'Medicis Sohn zu sein, und man konnte verstehen, wenn Piero sich von seinem Vater absetzen wollte. Aber unglücklicherweise wählte das neue Oberhaupt der Familie Medici dazu grundsätzlich den falschen Weg. Die Hinwendung zu Neapel war nur ein Beispiel, die Sache mit den Orsini ein anderes.
Piero hatte Virginio Orsini einen ungeheuren Kredit vorgestreckt, damit dieser von Franceschetto Cibo die umstrittenen päpstlichen Lehen erwerben konnte. Cibo, dachte Piero, war schließlich durch Heirat mit den Medici verwandt und konnte es sich gar nicht leisten, das Geld von ihnen einzutreiben, bei der Summe, die er der Bank noch schuldete. Doch als der Papst kurzfristig mit den Orsini zu einem Kompromiß gekommen war und die Kreditbriefe übernommen hatte, stand mit einem Mal ein Gläubiger vor der Tür, der auf Barzahlung bestand. Und die Bank steckte ohnehin schon in Schwierigkeiten. Deshalb war Piero, auch wenn er es nie zugegeben hätte, erleichtert gewesen, als Giovanni vorschlug, nach Rom zu gehen und mit dem Heiligen Vater zu verhandeln.
»Er hat natürlich ein Gesicht gemacht, als erwiese er mir einen Riesengefallen«, berichtete Giovanni Fra Mario. »Und um ehrlich zu sein, das tut er sogar. Wenn ich für uns hier die Kohlen aus dem Feuer hole, kann Piero mich nie mehr einen grünen Jungen nennen, und er schuldet mir so etwas wie eine Entschuldigung.«
Mario hatte seine Zweifel, ob sich Piero de'Medici je dazu durchringen würde, und es war mitnichten sicher, ob Giovanni mit seiner Mission Erfolg haben würde. Doch als sie schließlich in Rom ankamen, war Mario vor allem glücklich, Richard wiederzusehen.
Er brauchte nicht lange, um festzustellen, daß Richard sich schon wieder in Schwierigkeiten befand. Es war wie ein dunkler Mantel, ähnlich der Finsternis, die ihn umhüllt hatte, als Mario ihm zum ersten Mal begegnet war. Zunächst glaubte Mario, es hinge nur mit Saviya zusammen.
Richard gab zu, sie hin und wieder zu sehen, aber nicht sehr oft, wie er hinzufügte. »Jedesmal, wenn wir miteinander sprechen, läßt sie mich spüren, daß ich sie verloren habe, daß sie nichts anderes mehr von mir will als Freundschaft. Das sollte mir genug sein, schließlich ist es meine Schuld, daß … Aber es ist mir nicht genug.«
»Riccardo«, fragte Mario unvermittelt, »hast du ihr je gesagt, daß du sie heiraten wolltest?«
Wenn es nicht so ernst gemeint wäre, hätte ihn die verdutzte Miene seines Freundes belustigt. »Nein. Es – ich meine, es war selbstverständlich – wir waren ja schon so gut wie verheiratet.«
Mario seufzte. »Du bist hoffnungslos.«
Aber die Geschichte mit Saviya war nur ein Teil der Last, die er bei Richard spürte. Mario brauchte einige Zeit, um ihm die Wahrheit über Vittorio de'Pazzi und die Orsini zu entlocken, über die geheime Welt der Katakomben, und ahnte nicht, daß Richard ihm immer noch einiges verschwieg, wie zum Beispiel die Angelegenheit mit Heinrich Institoris. Doch was er hörte, entsetzte ihn. Man sah es ihm an, und Richard fühlte sich sofort zu einer angriffslustigen Verteidigung getrieben.
»Es ist gut und schön, entsetzt zu sein, wenn man sicher in einer Klosterzelle sitzt, aber was hätte ich denn tun sollen? Die beiden anzeigen? Mich von ihnen beim nächsten Versuch erwischen lassen, und vielen Dank auch? Ich hatte keine andere Wahl, Mario. Schlag zu oder werde geschlagen.«
»Ich bin nicht ganz der wirklichkeitsfremde Träumer, für den du mich offenbar hältst«, gab Mario scharf zurück. »Also erzähl mir nicht, du hättest keine Wahl gehabt. Selbstverständlich hattest du eine. Du hättest aus Rom verschwinden können, meinetwegen zurück nach Augsburg gehen, wenn du unbedingt weiter für deinen persönlichen Luzifer dort tätig sein willst, oder nach Florenz, wo ich dir sicher geholfen hätte. Statt dessen hast du dich dafür entschieden, einen Mord zu begehen, der eine weitere Kette von Morden auslösen kann und wird, und behaupte nicht, daß du das nicht gewußt hättest! Mord ist Mord, ganz gleich, ob du dabei selbst die Klinge geführt oder andere dazu getrieben hast. Was ist aus dem Riccardo geworden, der Menschen retten wollte? Glaubst du denn, Vittorio de'Pazzi, ja, Vittorio de'Pazzi in seiner ganzen Bösartigkeit oder irgendeiner der Orsini hätte weniger Recht auf Leben als einige von denen, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden?«
Richard wollte etwas entgegnen, aber Mario hob die Hand und sagte eindringlich: »Mein Gott, Riccardo! Das sind nicht nur unschuldige Opfer. Du warst doch selbst bei einer schwarzen Messe dabei. Erinnerst du dich nicht mehr, damals hast du mich gebeten, Il Magnifico nichts von ihnen zu erzählen, und doch wußtest du, daß es sich bei diesem Haufen abergläubischer Narren auch um gefährliche Möchtegernmörder handelte. Verdienen solche Leute also nur Schonung, wenn sie Anschläge auf das Leben von Lorenzo de'Medici planen, aber nicht, wenn es um Riccardo Artzt geht?«
Dieser Hieb traf, und Richard lag eine schnelle, verletzende Antwort auf der Zunge, etwas über Marios unterschiedliche Maßstäbe, denn hatte Lorenzo nach dem Mord an Giuliano nicht auch zugelassen, daß ein Großteil der Pazzi von den wütenden Florentinern erschlagen wurde? Aber ihm war nur allzu klar, daß es darauf nicht ankam, daß er am springenden Punkt vorbeiargumentieren würde. Also nahm er sich zusammen.
»Mario, ich möchte nicht mit dir darüber streiten. Du hast recht, es war Mord, aber ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut, daß ich es bereue. Es ist meine Schuld, das erkenne ich an, du hast sie mir vor Augen geführt, aber ich nehme sie auf mich, verstehst du? Ich will nicht, daß sie mir irgend jemand verzeiht. Also laß es dabei bewenden.«
Eine lange Zeit sagte Mario nichts. Richard, der ihn beobachtete, erschien es, als ob der Freund gealtert wäre. In das dichte schwarze Haar schlichen sich bereits graue Strähnen, und die Linien um Augen und Mund vertieften sich deutlich. Dennoch war sein Profil, das er Richard zuwandte, so ebenmäßig wie das einer der vielen alten Statuen in Rom, und Richard dachte plötzlich, daß Mario ein gutaussehender Mann war. Er blinzelte überrascht. Mario war immer Mario gewesen, zuerst ein Ärgernis, dann eine Herausforderung und schließlich ein Freund, aber Richard konnte sich nicht erinnern, jemals bewußt Marios äußere Erscheinung wahrgenommen zu haben. Es irritierte ihn, daß er es jetzt tat. Er war auf absurde Weise erleichtert, als Mario endlich sprach und seine Gedanken wieder auf etwas lenkte, über das sie streiten konnten.
»Mag sein, daß du dich in der Lage fühlst, deine Schuld zu tragen, Riccardo. Aber ich fühle mich ganz gewiß nicht in der Lage, sie dich tragen zu lassen!«
Richard hätte Mario gerne Hänsle vorgestellt; doch Hänsle hatte Rom verlassen, nicht nur Rom, sondern Italien; ein Brief von Jakob und seinem Vater hatte ihn zurück nach Augsburg beordert. Richard konnte sich zwar nicht vorstellen, daß Hänsle und Mario viel gemeinsamen Gesprächsstoff gefunden hätten. Aber sie waren beide seine Freunde, und Hänsle verkörperte auf eine höchst lebendige Weise Augsburg, die Fugger und seine Vergangenheit, die er Mario in Erzählungen nie ganz hatte vermitteln können.
In diesen Tagen beschäftigte sie aber vor allem die Gegenwart und die Zukunft.
Richard war sich durchaus bewußt, daß Mario mit jedem Angriff auf die Moral des Unternehmens und auf Richards Leben in Rom sein Gewissen treffen wollte, doch er war entschlossen, Mario zu beweisen, daß dieses Schwert zwei Schneiden hatte.
»Gut, mag sein, daß ich für jemanden arbeite, der skrupellos und geldgierig ist«, sagte er einmal, »aber das ist schließlich sein Beruf. Er ist Kaufmann, er hat das Recht dazu. Wie ist das mit deinem Herrn? Oh, ich meine nicht den kleinen Kardinal Giovanni, der ist harmlos, noch jedenfalls. Ich meine, wie ist das mit«, er betonte jede Silbe, »dem Heiligen Vater? Seine Heiligkeit der Papst? Der Mann, dem du dienst, und ein großer Teil des Kardinalskollegiums dazu, das sind alles Leute, die mindestens so skrupellos und geldgierig sind wie Jakob Fugger, und es würde mich auch nicht wundern, wenn sie dabei gelegentlich über Leichen gingen. Und verläßt du deswegen etwa die Kirche?«
»Die Kirche ist mehr als nur ein Papst oder auch ein paar Kardinäle«, antwortete Mario unerschütterlich. »Erinnere dich an den ursprünglichen Sinn des Wortes. Ecclesia, Gemeinschaft. Die Gemeinschaft der Gläubigen. Natürlich braucht sie Reformen. Aber sie wird noch leben, wenn die Gebeine von Rodrigo Borgia längst in der Erde vermodern, weil sie das Wort Gottes weitergibt. Du wirst kaum behaupten, daß Euer Unternehmen das tut!«
»Das Wort Gottes vielleicht nicht«, konterte Richard, »aber wohl das der Kirche. Ablässe, um genauer zu werden. Mit der gütigen Genehmigung des Papstes.«
Zu seiner Überraschung lachte Mario. »Damit wären wir wieder am Ausgangspunkt, nicht wahr, Riccardo? Wer ist schuldig – derjenige, der besticht, oder derjenige, der sich bestechen läßt? Die Henne oder das Ei?« Seine blauen Augen glänzten spöttisch, als er hinzufügte: »Du hattest natürlich nie das Bedürfnis nach Absolution, wie?«
»O nein«, sagte Richard. »Nicht noch einmal, Mario. Ich weiß genau, worauf du hinauswillst. Aber diesmal klappt es nicht. Ich werde nicht noch einmal beichten.«
Er war froh darüber, Mario in seiner Nähe zu haben. Anders wäre der Kontrast zum vergangenen Jahr, als die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr der Familie noch einmal die Gelegenheit geboten hatte, ihre ganze Anziehungskraft auf ihn auszuüben, wohl unerträglich kraß ausgefallen. Er hatte sich überlegt, ob er Saviya bitten sollte, sich in diesen Tagen aus ihrer Welt zwischen Katakomben und Palazzi, zwischen Aberglauben und höchst realen Gefahren zu lösen und zu ihm zu kommen, eine Woche nur, aber sein Stolz hinderte ihn daran. Er brachte es nicht über die Lippen. Statt dessen fragte er sie, ob sie sich mit ihm und Mario die Neujahrsfeier auf dem Petersplatz ansehen wolle.
»O ja«, sagte Saviya bester Laune. »Ich weiß schließlich, was wir dort erleben werden.«
Das verwunderte ihn, denn obwohl Gerüchte umgingen, daß der päpstliche Hof dieses Jahr eine Überraschung plante, mußten die genaueren Einzelheiten das bestgehütete Geheimnis von Rom sein. Aber, dachte er mit Erbitterung, wer als Hexe bei einem guten Teil des zaubersüchtigen römischen Adels aus- und einging, hörte wohl viele sogenannte strenge Geheimnisse.
»Mario«, sage er, Saviya im Sinn, bevor sie sich am Neujahrstag auf den Weg machten, »ich habe in den letzten Wochen sehr viel über etwas nachgedacht. Ein Buch gegen die Hexenprozesse zu schreiben, wie wir es getan haben, genügt nicht. Glaubst du, man könnte den Papst davon überzeugen, die Bulle seines Vorgängers zu widerrufen?«
Richard war enttäuscht, als Mario noch nicht einmal zögerte, sondern sofort den Kopf schüttelte. »Und was ist mit deinem Gerede über Reformen?« fragte er herausfordernd.
»Ich habe nicht gesagt, daß man es nicht versuchen sollte, aber du hast mich nach den Erfolgsaussichten gefragt«, gab Mario zurück. »Riccardo, ist dir bei all den Büchern, den Abhandlungen, den Protokollen, die wir zusammen studiert haben, nie der Gedanke gekommen, daß die Hexenprozesse gar nicht das eigentliche Problem sind?«
»Nein«, sagte Richard schnell, zu schnell, und Mario lächelte schwach, ein bitteres Lächeln.
»Das dachte ich mir. Ich habe mich auch lange gegen diese Schlußfolgerung gewehrt, aber seit Fra Savonarola nach Florenz gekommen ist, wird es mir immer klarer. Fra Savonarola war nicht der erste Prediger in unserer Stadt, der die Menschen begeistern konnte, Riccardo. Ein Jahr vor deiner Ankunft in Florenz predigte Fra Bernardino da Feltre im Duomo, aber er predigte nicht gegen Korruption, Luxus oder die Medici, wie Fra Savonarola, nicht gegen die Hexen, wie dein Inquisitor. Fra Bernardino predigte gegen die Juden. Genau siebzig Juden dürfen laut den Gesetzen der Republik Florenz in der Stadt leben, aber Fra Bernardino hatte kaum zu Ende gepredigt, da stürmten auf sein Geheiß hin bestimmt dreitausend Kinder und junge Leute los, um die Juden aus Florenz zu vertreiben.«
Richard begriff, worauf Mario hinauswollte, aber er wehrte sich dagegen. »Und was geschah dann?« fragte er bemüht sachlich.
»Die Signoria schickte die Stadtwache, und Lorenzo gab bekannt, daß die Bürger für jeden Schaden an jüdischem Leben oder Eigentum, den ihre Kinder anrichteten, bezahlen würden, notfalls mit dem Gefängnis. Das brachte die Eltern sehr schnell dazu, ihre Kinder wieder in die Häuser zu holen. Dann ließ Lorenzo Fra Bernardino von der Wache vor die Stadtmauern bringen und verbot ihm, Florenz je wieder zu betreten.«
»Ein glückliches Ende, und was weiter?« kommentierte Richard. Zum ersten Mal während ihres Gesprächs verlor Mario die Geduld.
»Es ist alles dasselbe, begreifst du das nicht? Die Hexen. Die Juden. Savonarola. Die Menschen brauchen einen Sündenbock. Gib ihnen jemand, der mit dem Finger auf etwas weist, ein Laster, ein Volk, ein paar unangenehme Frauen, und sie werden sich darauf stürzen!«
»Nein«, sagte Richard, »nein. Ich weigere mich, das zu glauben. Oder es hinzunehmen, wenn es so ist. Sündenböcke werden geschaffen, weil sie jemandem nützen. Deswegen kann sich dieser Prozeß auch umkehren.«
Er spürte, daß Mario ein wenig von seiner düsteren Sicherheit aufgab. »Vielleicht«, erwiderte Mario nach längerem Schweigen, »vielleicht. Aber nicht dieser Papst. Er hat ohnehin den größten Teil des Kardinalskollegiums gegen sich. Das Volk ist im Moment noch von ihm begeistert, aber das kann jederzeit umkippen. Ein solcher Papst führt keine Reformen durch, die den Klerus erschüttern würden. Und jetzt laß uns gehen, sonst sind wir heute abend noch nicht da.«
Als sie am frühen Nachmittag auf dem Petersplatz eintrafen, sah Richard sich vergeblich nach besonderen Vorbereitungen um. Es waren kreisförmige Tribünen für die Zuschauer aufgestellt worden, gewiß, aber er hatte so etwas wie einen gewaltigen Mummenschanz erwartet. Statt dessen war auf dem Platz lediglich Sand ausgestreut worden. Sollte die geheimnisvolle Veranstaltung sich letztendlich nur als simples Turnier entpuppen, als eines von den ritterlichen Spielen, wie sie König Maximilian so liebte? Er konnte sich vorstellen, daß der Papst es für sinnvoll hielt, den Römern die Stärke seiner neuen Schweizer Söldner vorzuführen, doch ein Turnier war kaum der geeignete Weg dafür. Oder war vielleicht geplant, die Orsini und die Colonna gegeneinander antreten zu lassen?
Die Menschen, die sich lachend und miteinander schwatzend auf die Tribünen drängten, wirkten auf alle Fälle entschlossen, das bevorstehende Volksfest zu genießen. Richard erinnerte sich an die ehrfürchtigen Zuschauermengen bei Maximilians Turnier in Augsburg und hielt Ausschau nach Lanzen, Knappen, nach dem Blinken einer Rüstung.
Doch in dem riesigen Stallwagen, der nun herbeigerollt wurde, befanden sich keine Pferde. Dort drinnen stand, schnaubend und sich wiederholt gegen die Gitterstäbe werfend, ein Stier. Kurz darauf zog der Papst samt Gefolge ein, und ein Herold verkündete, seine Eminenz der Kardinal von Valencia würde den päpstlichen Hof und die Bürger von Rom mit der Darbietung einer Corrida erfreuen.
Richard hatte noch nie einen Stierkampf gesehen, und die Römer, so schien es, auch nicht, denn die Ankündigung löste aufgeregtes Raunen aus, in dem die Ermahnung des Herolds unterging, auf keinen Fall die hölzernen Absperrungen zu mißachten. Mario runzelte die Stirn, und Richard konnte es sich nicht verkneifen zu wispern: »Keine Sorge, ich werde nicht fragen, ob das für einen Kardinal die angemessene Beschäftigung ist. Vergiß nicht, ich habe ihn kennengelernt.«
Cesare Borgia, wie er jetzt den Ring betrat, hatte in der Tat wenig Kirchliches an sich. Wieder war er in Schwarz gehüllt, mit Ausnahme des prächtigen purpurroten Mantelfutters. Der Winter war bisher sehr mild gewesen, doch heute fegte ein Wind durch die Straßen, der Cesares Umhang hob und senkte wie die Schwingen eines erregten Vogels. Er verbeugte sich in Richtung der päpstlichen Tribüne, dann gab er mit der Hand ein Zeichen. Das Gitter des Käfigs wurde von zwei Jungen gelöst, die hastig zur Seite und hinter die Absperrung sprangen, und Cesare Borgia stand allein dem Gebirge aus Fell und Muskeln gegenüber, das jetzt aus dem Käfig herausbrach. Selbst Richard, dessen Abneigung gegen den Sohn des Papstes noch lange nicht gänzlich verflogen war, mußte zugeben, daß der Anblick etwas Eindrucksvolles an sich hatte.
Langsam löste Cesare den Umhang von seinen Schultern, breitete ihn aus und wendete ihn dem Stier zu. Erst als das Tier dem schreienden Rot entgegenlief, fragte sich Richard, mit was der Borgia eigentlich bewaffnet war. Schließlich entdeckte er einen der neumodischen Degen an der Seite des Mannes.
Die Römer stöhnten, während Cesare wieder und wieder in letzter Sekunde den Hörnern auswich, die in den flatternden Mantel hineinstießen, den er nur wenige Handbreit von seinem Körper entfernt bewegte. Als er merkte, daß er selbst den Atem anhielt, fragte Richard ärgerlich laut, nur um den Zauber zu brechen: »Was macht er da eigentlich?«
Saviya legte einen Finger auf die Lippen. »Er reizt den Stier. Weißt du, ich habe so ein Spiel schon einmal erlebt, als mein Stamm in Kastilien war. Meistens machen es aber mehrere Männer.«
Inzwischen hatte Cesare seinen Degen gezogen und verwundete den Stier, doch zu Richards Verblüffung zielte er dabei nicht auf das Herz oder die Schlagader, sondern nur auf Stellen, die dem Tier kaum gefährlich werden konnten. Nur einige dunkle Flecken auf dem Fell, das Brüllen und die Wut des Stieres verrieten, daß dieser unbezwinglich scheinende Koloß langsam Blut verlor.
Richard sah zur päpstlichen Tribüne hinüber. Einige der Kardinäle wirkten abgestoßen und empört. Die Mehrzahl jedoch schaute ebenso gebannt wie das Volk auf den Platz, und der Papst machte sich keine Mühe, sein Entzücken zu verbergen. Mit vornübergebeugtem Oberkörper saß er da und feuerte seinen Sohn an. Cesares Stöße veränderten sich; nun benutzte er seinen Degen wie einen Speer, und Richard entging nicht, daß die Gereiztheit des Stieres mit jedem Stoß zunahm. Mehr als einmal hätte Richard schwören können, daß die dunkle, auf dem riesigen Platz fast schmal wirkende Gestalt des Mannes im nächsten Augenblick von den gewaltigen Hörnern aufgespießt werden würde.
Während der Stier sich zu einem neuen Anlauf zurückzog, blickte Cesare zur päpstlichen Tribüne hinüber. Der Papst nickte. Noch einmal entfaltete der junge Mann das Purpur seines Mantels zu voller Weite. Dann hob er die Klinge langsam, sehr langsam in die Waagrechte. Der Stier stürmte heran, doch noch einmal schaute Cesare in den Kreis der Zuschauer. Richard erstarrte. Es war natürlich unmöglich, doch es schien, als nicke der Papstsohn ihm zu. Nein, nicht ihm. Aber jemandem, der unmittelbar neben ihm stand.
Richard wandte sich an Saviya, und was er sah, ließ ihn eins werden mit dem Stier, der mit seinem letzten Sprung sein Herz der Spitze des Degens aussetzte. Saviya beobachtete Cesare Borgia mit einem Ausdruck, der Richard nur allzu bekannt war. Es war nicht die Aufregung eines Zuschauers, auch nicht die Schwärmerei eines Mädchens, die ihn zwar in Wut versetzt hätte, die er aber hätte billigen können. Es war das halb spöttische, halb zärtliche Lächeln, das eine Frau ihrem Liebhaber schenkt, wissend und sehr vertraut.
Er hatte vorgehabt, diesmal völlig gelassen und sachlich mit ihr zu sprechen, aber er fühlte mit jeder Sekunde mehr das Bedürfnis, sie anzuschreien und ihr die Hände um den Hals zu legen. Das hatte schon angefangen, als er Mario gebeten hatte, sie beide allein zu lassen.
»Aber warum denn«, hatte Saviya, die außer einer kühlen Begrüßung noch keine fünf Worte mit Mario gewechselt hatte, sarkastisch gesagt. »Unser verehrter Priester hier ist doch wohl an das Beichtgeheimnis gebunden. Er wird schon nichts verraten, falls du unbedingt vorhast, hier über die Welt dort unten zu reden.«
»Nein, das habe ich nicht«, hatte er mühsam beherrscht erwidert; Mario, Gott segne ihn, war taktvoll genug gewesen, trotzdem sofort zu verschwinden. Jetzt standen sie sich schweigend in dem kleinen Raum gegenüber, der Richards römische Schreibstube darstellte. Ihm fielen hundert Kleinigkeiten an ihr auf, die er vorher ignoriert hatte; der Umstand, daß sie ein Kleid trug, und zwar nicht nur irgendein Kleid aus Samt, sondern eines, das aussah, als wäre es für sie geschneidert worden, mit einem Grün, das genau ihren Augen entsprach. Kein fremdes, geschenktes oder gestohlenes Kleid. Jemand mußte es für sie in Auftrag gegeben haben. Die Kette um ihren Hals sah auch nicht wie der zugegebenermaßen oft wertvolle, aber grobe Schmuck aus, den er bei den Zigeunern beobachtet hatte. Ihre Schuhe – gewiß, es war Winter, aber früher hatte sie es gehaßt, Schuhe zu tragen, nur die bitterste Kälte hatte sie dazu zwingen können, und auch dann nur die nächstbesten klobigen Stiefel. Jetzt trug sie Schuhe, die wie für sie gemacht wirkten.
»Er scheint sehr großzügig zu sein«, sagte Richard schließlich, bemüht, nicht zu höhnisch oder zu bitter zu klingen und keine Schwäche zu verraten. Saviya schaute ihn verwundert an, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Wen meinst du, Riccardo?«
Er verschränkte seine Hände hinter dem Rücken, um ihr nicht zu zeigen, wie sie sich langsam öffneten und schlossen. »Laß uns mit diesem Spiel aufhören, Saviya. Du weißt genau, wen ich meine. Mißversteh mich nicht, ich bin nicht eifersüchtig. Wir haben einander klar gemacht, daß das zwischen uns vorbei ist. Aber du hast gesagt, wir sind immer noch Freunde, und als dein Freund … Saviya, um Himmels willen! Du bist doch keine Kurtisane, du brauchst dich doch nicht als Geliebte dieses … dieses«, er suchte nach einer adäquaten Bezeichnung für Cesare Borgia und endete schließlich ziemlich lahm mit, »dieses Kardinals aushalten lassen!«
Er hatte einen Wutausbruch erwartet, Ableugnen oder Beschuldigungen, aber ganz gewiß nicht die unheimliche Gelassenheit, die sie an den Tag legte und die ihn tiefer traf als jede Beschimpfung.
»Weiter«, sagte Saviya.
Er durfte sich das Gespräch nicht aus der Hand gleiten lassen. Richard atmete einmal tief durch und fuhr dann so ruhig wie möglich fort: »Es ist nicht nur sein, nun, sein geistlicher Stand, wenn man das bei ihm überhaupt so bezeichnen kann. Ich habe ihn kennengelernt, Saviya. Der Mann ist gefährlich. Er würde einen Menschen mit ebensowenig Skrupel erledigen wie diesen Stier heute, und ich meine nicht nur Gegner, sondern auch Menschen, die ihm einfach lästig sind. Und wenn er dich einmal satt hat, wird er dich fallenlassen wie eine tote Fliege oder dich vielleicht sogar an seine Kumpane weiterreichen. Möchtest du das?«
»Weiter.«
Diese Aufforderung, weiterzusprechen, irritierte ihn mehr und mehr; außerdem erinnerte sie ihn an sein weihnachtliches Gespräch mit Jakob, und das war kein gutes Omen. »Mach, was du willst«, sagte er daher knapp, »und liebe, wen du willst, aber nicht Cesare Borgia. Ich kann dir nur raten, die Verbindung mit ihm sofort abzubrechen, und das meine ich ehrlich, als dein Freund.«
Saviya trat näher, bis er den Duft ihrer Haut riechen konnte. Farn und Thymian. Zumindest hatte sie sich von ihrem neuen Liebhaber nicht eines dieser moschusartigen Parfüms aufdrängen lassen, die in Rom gerade so beliebt waren.
»Also schön, Riccardo. Erstens, um das klarzustellen, er hält mich nicht aus. Du hast mich ausgehalten und versucht, mich in dieser Herberge einzuschließen, bis du geruht hast, aus dem Fondaco zu kommen, aber hier kann ich gehen, wann und wohin ich will, und ich verdiene mein eigenes Geld, und niemand nimmt mir das übel und sagt, es wäre falsch. Zweitens wird er mich nicht ›fallenlassen‹ und ›weiterreichen‹, weil ich mich nicht weiterreichen lasse, ich bin frei, aber das hast du ja nie verstanden. Drittens …«
»Und was«, unterbrach er sie zornig, »fängst du mit deiner Freiheit an? Ich wette, du hast sofort nach deiner Ankunft in Rom nichts Besseres zu tun gehabt, als nach dem freigebigen Herrn zu suchen, der dir damals eine Goldkette um den Hals gehängt hat!«
Er sah den Schlag kommen, aber er wehrte ihn nicht ab. In gewissem Sinn war er froh, sie so in Wut gebracht zu haben, froh, sie aus ihrer Reserve gelockt zu haben. Sie stieß einen Wortschwall in ihrer eigenen Sprache hervor und wechselte mitten im Satz in die toskanische Mundart über.
»… was du dir vorstellen kannst! Du und dieser Mönch, mit dem du befreundet bist, ihr tut so, als wäret ihr die letzten Gerechten auf Erden! Und mit wem warst du im Bett, seit wir uns getrennt haben, Riccardo? Aber natürlich, du hast wie ein Heiliger gelebt, nicht wahr? Gorgio, laß mich dir eines sagen – dieser Mann ist vielleicht alles, was du gesagt hast, aber er ist zumindest kein Heuchler!«
Mit einem Mal war das Bedürfnis, sie anzuschreien, völlig verschwunden. Es machte einer tiefen Traurigkeit Platz, und in diesem Moment hätte er alles darum gegeben, damals in Florenz, als sie mit ihm aus der Stadt fliehen wollte, mit ihr fortgeritten zu sein.
»Es tut mir leid, Saviya«, sagte er leise und sah sie dabei nicht an, »aber ich meine es wirklich ernst. Nicht dieser Mann. Es wäre am besten, du würdest ganz aus Rom fortgehen. Du hattest solche Angst vor Florenz, fühlst du nicht, daß diese Stadt hier hundertmal gefährlicher ist als Florenz?«
Sie schwieg, aber er spürte ihre Hand nach der seinen greifen. Als er ihre Finger umschloß, immer noch fest, fast rauh, nicht die weichen, sanften Finger einer Dame, bemerkte er, daß sie seinen Ring noch trug. Doch er sagte nichts; es war, als ob jedes falsche Wort jetzt den dünnen Faden, der sie beide noch zusammenhielt, zerreißen könnte. So standen sie beieinander, verbunden nur durch diesen Händedruck, bis Saviya ihn schließlich auf die Wange küßte und flüsterte: »Danke, Riccardo.«
Dann löste sie sich von ihm und verließ den Raum. Richard blieb zurück, nicht sicher, ob er gewonnen oder verloren hatte.