30
DIE WOCHEN GINGEN schnell ins Land, und Richard hatte sich mehr und mehr wieder in den Lebensrhythmus der Familie und des Unternehmens eingefunden. Er versuchte weiterhin, einen Drucker zu finden. Doch er mußte feststellen, daß keiner von ihnen dazu zu bewegen war, ein Buch dieses Inhalts zu verlegen.
Bei einer Schachpartie mit Jakob entschloß er sich schließlich, seinen Stolz hinunterzuschlucken und den einflußreichsten Mann der Stadt um Unterstützung zu bitten. Das Buch war wichtiger als persönliche Eitelkeiten, und er konnte sich nicht vorstellen, daß der Drucker auf Jakobs direkte Anweisung hin immer noch nein sagte. Die Schwierigkeit lag darin, Jakob überhaupt für ein derartiges Werk zu interessieren.
Die Gelegenheit bot sich, als Jakob ihn fragte, ob er sich schon entschieden hätte, was er mit seinem neuen Vermögen anfangen würde.
»Den größten Teil werde ich zweifellos bei einem schwäbischen Kaufmann anlegen«, erwiderte Richard und schlug mit seinem Läufer einen von Jakobs Bauern, der seinen Turm gefährdete. »Man sagte mir, sein Unternehmen habe Zukunft.«
Ein winziges Lächeln verriet, daß Jakob das sarkastische Kompliment durchaus zu würdigen verstand, doch seine Stimme blieb gleichmütig. »Und der Rest?«
»Ich habe ein Buch geschrieben, das ich gerne drucken lassen würde«, sagte Richard und überlegte, ob er es sich leisten konnte, seinen König ein Feld weiter zu bewegen, um so der möglichen Bedrohung durch Jakobs Dame auszuweichen, oder ob ihn ein derartiges Manöver verwundbar für einen Angriff von Jakobs Läufer machte. »Und außerdem werde ich nicht ewig in Augsburg bleiben.«
»In der Tat.« Jakob musterte nachdenklich den elfenbeinernen Pferdekopf, den er in der Hand hielt. »Ich dachte mir schon, daß du deine Reisen wieder aufnehmen willst. Wenn ich dir einen Ratschlag geben darf – es würde sich empfehlen, dein Buch über die Hexenprozesse erst kurz vor deiner Abreise drucken zu lassen.«
Mit diesen Worten schlug er einen von Richards Türmen. Ärgerlich sagte Richard: »Gibt es etwas, das Ihr nicht wißt?« Gleich darauf hätte er sich auf die Zunge beißen mögen. Durch die Frage hatte er sich eine Blöße gegeben.
»Nicht sehr viel«, entgegnete Jakob ungerührt, »und nicht, wenn schon einen Tag nach deiner Ankunft ein völlig verängstigter Drucker bei mir auftaucht und um meinen Rat bittet. Nicht, daß ich überrascht gewesen wäre.«
»Wärt Ihr bereit, dafür zu sorgen, daß dieses Buch gedruckt wird?« fragte Richard direkt. Jakob verblüffte ihn durch eine ebenso direkte Antwort.
»Wenn es anonym erscheint. Das wird zwar nur eine Zeitlang etwas nützen, aber ich war schon öfter in der Lage, Ablässe für derartige Vergehen zu erwirken. Allerdings nur, wenn der Betreffende sich außer Landes aufhält.«
»Und wohin«, erkundigte sich Richard, der versuchte, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen, »werde ich reisen?«
Jakob ließ sich mit der Antwort Zeit, und Richard, der auf das Schachbrett blickte, stellte resignierend fest, daß er wieder einmal verlieren würde.
»Nach den guten Erfahrungen, die du in Italien gemacht hast«, entgegnete Jakob schließlich, »würde ich annehmen, das du dorthin zurückkehrst.«
»Nach Florenz? Aber warum habt Ihr dann …«
»Nicht nach Florenz. Es tut mir leid, aber die Stellung des Fondacos dort, unsere Verbindungen zu den Zünften, das hängt alles zum größten Teil von Lorenzo de'Medici ab, und wenn er stirbt, dann sehe ich keine Zukunft für unseren Handel, solange dieser Mönch sich dort aufhält. In der Zwischenzeit kann Schmitz nach deinen Anweisungen weiterarbeiten.«
»Ihr haltet Fra Savonarola nicht für ein zeitweiliges Phänomen?« fragte Richard und starrte grübelnd auf seinen bedrängten König.
»Doch. Nur dauert mir die Zeit, die er weilen wird, zu lange, um dadurch mein Geld in Gefahr zu bringen.«
Ursula war zu alt, um noch alleine auf die Jahrmärkte gehen zu können, und als sie Richard um seine Begleitung bat, willigte er gerne ein. Der Wind wehte ihnen buntes Laub entgegen, und als sich ein Blatt in Ursulas Haar verfing, blieb sie stehen, und er löste es vorsichtig aus den widerspenstigen Locken.
»Dabei wäre es kaum aufgefallen«, sagte er mit einem Augenzwinkern, »schließlich hat es dieselbe Farbe wie deine Haare.«
Ursula lachte und versetzte ihm wie früher spielerisch einen Rippenstoß. Er ertappte sich bei dem Gedanken, daß es schade war, daß seine Mutter nur ein Kind zur Welt gebracht hatte. Er hätte gern eine Schwester wie sie gehabt.
»Du weißt nicht, wie froh ich bin, etwas aus dem Haus zu kommen«, sagte Ursula, ernst geworden. »Ich glaube, Mama denkt, wenn sie mich damit beauftragt, auf den kleinen Hieronymus aufzupassen, dann fällt es nicht so auf, daß sie als Großmutter noch einmal Mutter geworden ist – habe ich dir schon von Annas Kleinem erzählt? Jedenfalls, sie hat mir das Kind aufgehalst, aber ich denke nicht dran, ständig auf den kleinen Schreihals aufzupassen. Und wenn ich Papa nur sehe, muß ich mich zusammennehmen. Er war einfach abscheulich zu Philipp.«
Sie schlenderten an den Buden vorbei, die allerlei Tand verkauften, den Richard auf den ersten Blick als unecht erkannte; dennoch fehlte es den Verkäufern nicht an gutgläubigen Abnehmern.
»Was ist überhaupt geschehen?« erkundigte er sich. »Seit Wochen höre ich nur Andeutungen.«
Ursula zuckte mit den Schultern und meinte etwas zu unbekümmert: »Ach, Philipp hat endlich um meine Hand angehalten, aber Papa hat inzwischen einen Grafen von Eck im Auge, und eine solche Partie ist natürlich bedeutender als ein Freiherr von Stain. Also hat er Philipp gesagt, ein Ulrich Fugger von der Lilie würde seine behütete Tochter niemals dem leichtsinnigsten Verschwender von ganz Schwaben geben. Es hat ihm nicht genügt, Philipp abzuweisen, nein, er mußte ihn mit seiner Antwort auch noch beleidigen, und jetzt hat er mich schon seit Wochen nicht mehr besucht oder mir geschrieben – Philipp, meine ich.«
Richard berührte tröstend ihre Hand. »Vielleicht überlegt dein Vater es sich noch anders.«
»Selbst wenn er es tut«, sagte Ursula ärgerlich, »ich bin genauso wütend auf Philipp. Er verhält sich, als ob ich ihn beleidigt hätte. Aber reden wir nicht mehr darüber. Schau mal, Richard«, damit wies sie auf einen Winkel des Jahrmarktes, »da ist eine Zigeunertruppe! Oh, ich habe noch nie Zigeuner gesehen. Komm schon!«
Da ihm kein einleuchtender Grund einfiel, um abzulehnen, folgte er ihr. Es waren nur drei Zigeuner, die mit Fackeln jonglierten, und einen Moment lang war er so enttäuscht, als habe er wider alle Vernunft gehofft, Saviya auf diese Weise wiederzufinden. Die flammenden Stöcke, die durch die Luft glitten, erinnerten ihn an Saviya, und er hatte Mühe, gelassen neben Ursula auszuharren, bis sie genügend gesehen hatte und zu einem anderen Stand wanderte.
Aber auf dem Rückweg zeigte sich, daß er Ursulas Einfühlungsvermögen unterschätzt hatte. »Was war mit den Zigeunern, Richard?« fragte sie prüfend und ließ sich auch durch einige schnell vorgebrachte Ausreden nicht ablenken. Schließlich gab er nach.
»In Italien … kannte ich eine Zigeunerin«, sagte er ziemlich unwillig. Ursula zog eine Grimasse.
»Das dachte ich mir. Die Anzeichen sind unverkennbar. Oh, Richard, wir sollten uns zusammentun und ein Buch schreiben über die Schwierigkeiten, von der Liebe geheilt zu werden.«
»Das gibt es schon – Ovids ›Remedia‹«, antwortete er automatisch, und das Mädchen an seiner Seite kicherte. »Richard, das wandelnde Bücherwissen und der Schrecken aller Scholaren. Weißt du, Hänsle hat einmal behauptet, selbst wenn man sich über Rinderbraten unterhielte, fiele dir bestimmt noch etwas ein, das du darüber gelesen hast.«
Er konnte nicht widerstehen. »Plinius, De rerum naturae, glaube ich«, sagte er verschmitzt, und Ursula brach in Gelächter aus.
Wieder ruhig geworden, umarmte sie ihn. »Ganz im Ernst, Richard«, flüsterte sie, »es tut mir leid.«
Inzwischen standen sie kurz vor dem Anwesen am Rindermarkt, und Veronika Fugger, die gerade dabei war, in Begleitung ihres Gemahls zur Abendmesse zu gehen, sah zu ihrem Entsetzen ihre Tochter in den Armen des Erbschleichers Richard Artzt liegen.
»Ursula!« rief sie scharf. »Ursula! Komm sofort hierher!«
Ursula sah aus, als hätte sie gute Lust, sich zu weigern, doch die elterliche Gewalt war stärker, und sie gehorchte, nicht ahnend, daß Richard fast erleichtert darüber war. Zum zweiten Mal seit seiner Ankunft hatte er Ursula nicht als Verwandte, sondern als Frau wahrgenommen, und ein Hunger war in ihm wachgeworden, den er sich nicht erklären konnte.
Er hatte Ursula immer gern gehabt, gewiß, und hatte sie auch jetzt sehr gerne, aber er liebte sie nicht. Trotzdem war er eben nahe daran gewesen, sie zu küssen; ja, mehr noch, er hatte sich gewünscht, mit ihr das Bett zu teilen. Stundenlang wanderte er ruhelos durch Augsburg. Er hoffte, daß ihm der kühle Herbstabend bald derartig absurde Vorstellungen aus dem Kopf vertreiben würde, und mußte feststellen, daß er sich im Gegenteil immer mehr mit Ursulas wohlgeformtem Körper beschäftigte, mit Erinnerungen an seine glücklosen Begegnungen mit der üppigen Magd Barbara, und als er sogar Saviya nicht mehr zurückdrängen konnte, nicht Saviya als Person, sondern als Frau, die er geliebt und begehrt hatte, entschloß er sich, in der nächsten Schenke einzukehren.
Wo die Kälte nicht half, würde vielleicht ein Rausch Ablenkung schaffen. Er hatte sich noch nie absichtlich betrunken, doch dieser Abend war so gut wie jeder andere, um es einmal zu versuchen.
Der Wirt, sehr viel erfahrener als Richard, erkannte bald, was ihm fehlte, und gab einem der Mädchen, die bei ihm arbeiteten, ein Zeichen. Sie nickte und setzte sich rasch zu Richard, der verschlossen in seinen abgegriffenen Holzbecher mit Wein starrte. Er merkte erst, daß jemand neben ihm saß, als sie sich räusperte und fragte: »Gebt Ihr mir auch etwas davon ab? Es ist so kalt heute!«
Es war mitnichten kalt in der dunstigen Schenke mit ihren Gerüchen nach Gebratenem, nach verspritztem Fett und verbranntem Holz, nach Wein und Bier und den Besuchern, die mit dem fortschreitenden Abend immer zahlreicher wurden, doch Richard schob ihr bereitwillig seinen Becher hinüber. Während sie trank, sah er sie sich an.
Ihr Mund war etwas zu rot und ihr Busen etwas zu hochgeschnürt, aber ansonsten ließ nichts an ihr darauf schließen, daß sie in einer Taverne arbeitete. Das sanft gerundete Gesicht mit den blaugrünen Augen war noch unverbraucht, das flachsfarbene Haar fühlte sich weich an, als er zögernd darüber strich. Der Krug auf dem Tisch war bereits zur Hälfte geleert; auf diese Weise war er gelöst genug, um seine gewöhnliche Zurückhaltung zu verlieren, aber noch nicht betrunken genug, um nicht zu begreifen, warum sie sich neben ihn gesetzt hatte.
Er sagte ihr, sie sei sehr hübsch, und sie meinte, er sei sehr freundlich. Viele Männer hielten sie ihrer Augen wegen für gefährlich, denn Grün gelte als Unglücksfarbe, leider. Aber ihm mache es doch nichts aus, oder?
»Nein«, entgegnete Richard und goß sich noch etwas Wein ein, den er sofort auf einen Zug hinunterkippte, »es macht mir nichts aus.«
Sie merkte sofort, daß sie etwas falsch gemacht hatte, und wechselte das Thema. Er wirkte so fremdländisch mit seinem dunklen Haar, den Augen und der gebräunten Haut, meinte sie; gehöre er vielleicht zu den vielen reisenden Kaufleuten, die nach Augsburg kämen?
»Genau das bin ich. Ein Reisender.« Er stellte fest, daß der Krug leer war, und rief nach einem neuen. Woher er denn komme, wollte sie wissen. »Italien. Florenz«, murmelte Richard, »die Blume der Hölle.«
»Dann vergiß Italien«, sagte sie energisch und fügte ein wenig heiser hinzu, wenn er vergessen wolle, könne sie ihm mehr bieten als der Wein. Er versicherte ihr mit dem tiefen Ernst eines Betrunkenen, das glaube er ihr, doch er suche nicht nur Vergessen, sondern Absolution.
»Dieser Wein ist mein Blut«, sagte er, und sie kicherte ein wenig unsicher. Sie sei ja an Gotteslästerungen gewöhnt in dieser Schenke, aber ihm wäre doch die ungewöhnlichste gelungen, die sie je …
»Absolution«, sagte Richard und stellte fest, daß er Schwierigkeiten hatte, das Wort noch klar auszusprechen. »Ich habe … habe alles falsch gemacht. Meine Schuld. In Wandlingen. Bei Saviya. Bei Mario. Meine Schuld.«
Nun war sie doch ein wenig ungehalten; er sah nicht nur gut, sondern auch zahlungskräftig aus, aber sie wollte nicht die ganze Nacht an diesem Tisch verschwenden.
»Wenn du Absolution willst, dann geh zu einem Priester oder, noch besser, kauf dir einen Ablaß«, riet sie ihm ungnädig. Zu ihrem Erstaunen setzte er sich plötzlich aufrecht hin. Einige Sekunden lang rührte er sich nicht, dann zog er sie an sich und küßte sie hungrig.
»Was hast du denn auf einmal?« fragte sie atemlos, als er sie wieder losließ. »Mir ist eine Erleuchtung gekommen«, sagte Richard und stand auf. Ihm war etwas schwindlig, aber er fühlte sich mit einem Mal glücklich, überlegen und in der Lage, die ganze Welt zu überblicken. »Jetzt ist mir alles klar. Ablässe. Die Söldner. Jakob. Der Papst. Einfach alles.«
Sie lächelte etwas unsicher. »Ich verstehe nicht.«
»Aber ich«, sagte Richard, sah sie an und spürte, daß sein quälender Hunger keineswegs vergangen war, »aber ich. Gibt es … gibt es in dieser Schenke oben Zimmer?«
Es hatte Sybille immer beruhigt zu sticken; während ihre geschickten Finger Faden um Faden durch den Stoff zogen, konnte sie ihre Gedanken sammeln und wieder treiben lassen, konnte die Ereignisse des Tages ordnen.
Deswegen hätte sie beinahe unwillig die Stirn gerunzelt, als Veronika ihr Zimmer betrat. Veronika war ihr seit Richards Ankunft aus dem Weg gegangen. Vor zwei Tagen war Jakob abgereist zum Hof des Königs. Bedeutete das für sie heute eine Fortsetzung von Veronikas Sticheleien? Sybille wappnete sich innerlich für einen neuen Streit.
Aber Veronika überraschte sie. Ulrichs Gemahlin ließ sich sehr vorsichtig und bemüht, keine überflüssige Geste zu machen, neben ihr nieder und schwieg ein paar Minuten, bevor sie zögernd sagte: »Sybille, ich muß mit dir über deinen Neffen reden.«
Eine derart ruhige, zurückhaltende Formulierung sah Veronika so wenig ähnlich, daß Sybille aufblickte und ihre Stickerei beiseite legte. Hastig fuhr Veronika fort: »Versteh mich recht, es hat überhaupt nichts mit dir zu tun, es ist nur … Es gefällt mir nicht, daß er so engen Umgang mit meiner Tochter hat.«
Sybille gestattete sich ein Achselzucken: »Sie sind doch zusammen aufgewachsen.«
»Aber Ursula ist kein Kind mehr, und es schickt sich für ein unverheiratetes junges Mädchen nicht … Es schickt sich eben nicht.«
Mittlerweile waren Veronikas Versuche, so taktvoll wie möglich zu sein, Sybille fast unheimlich, und so spürte sie beinahe Erleichterung, als ihre Schwägerin mit einem Anflug ihrer gewohnt spitzen Zunge meinte: »Außerdem kann ich mich noch gut erinnern, wie ich deinen Neffen im Bett mit dieser Magd gefunden habe. Er ist wohl kaum der richtige Begleiter für meine Tochter.«
»Veronika«, sagte Sybille entschieden, »ich bin sicher, daß Richard und Ursula nur so miteinander umgehen, wie es sich zwischen Vetter und Base ziemt. Im übrigen darf ich dich daran erinnern, daß Ursula längst mit Philipp von Stain verlobt wäre, wenn ihr beide, dein Gemahl und du, es nicht verboten hättet. Was erwartest du denn von Ursula? Soll sie vor dem Feuer sitzen und Trübsal blasen, in ihrem Alter?«
»Zweifellos hast du das nie getan«, begann Veronika aufgebracht, dann hielt sie jäh inne, als schnüre ihr jemand den Atem ab. »Nun gut«, brachte sie schließlich heraus, um Worte ringend, »nun gut. Ich möchte dich nur darum bitten, ein Auge auf deinen Neffen zu haben.«
Damit ging sie, und Sybille schaute ihr verwundert nach. Entweder jagte der Gedanke an Richard und Ursula Veronika tatsächlich Furcht ein, oder Jakob tat es. Sybille hatte keine Ahnung, was er zu Veronika gesagt haben könnte, doch wenn sie, die sonst nie eine Gelegenheit für ein paar Seitenhiebe ungenutzt ließ, sich bei einem derartigen Anliegen solche Zurückhaltung auferlegte, mußte die Drohung wahrhaftig gewaltig gewesen sein.
Nachdenklich strich sie ein paar widerspenstige Haare zurück, die sich aus ihrer Haube gestohlen hatten. Sie hatte kein Mitleid mit Veronika, doch ihr gefiel die Vorstellung nicht, daß Jakob ihretwegen jemanden derartig bedrohte. Und vielleicht konnte es tatsächlich nicht schaden, Richard und Ursula im Auge zu behalten.
Richard hatte noch nicht die Gelegenheit gehabt, Jakob die Schlußfolgerungen, zu denen er in der Schenke gelangt war, darzulegen, und je mehr er darüber nachgrübelte, desto mehr beunruhigten sie ihn.
In jener Nacht war ihm auch etwas anderes klar geworden. Er erinnerte sich daran, daß Mario ihm einmal vorgeworfen hatte, sich nur deshalb in Saviya verliebt zu haben, weil sie die erste Frau gewesen sei, die entgegenkommend genug gewesen wäre, um ihn von der Vorstellung zu befreien, er sei zum Zölibat verurteilt.
In dieser Beziehung hatte Mario unrecht. Die Sehnsucht nach Saviya war durch die Nacht in der Schenke eher noch schlimmer geworden, nicht schwächer. Aber Saviya hatte ihn offensichtlich auch frei gemacht für jede Art von Begierde. Zu seiner Erleichterung war immerhin durch die Nacht mit dem Schankmädchen der quälende Reiz verschwunden, den Ursula unabsichtlich auf ihn ausgeübt hatte, und er konnte ihr wieder mit ruhigem Gewissen als ein Freund und Verwandter begegnen.
Als Jakob Anfang Dezember immer noch nicht zurückgekehrt war, begann sich nicht nur Richard, sondern ganz Augsburg zu fragen, was genau der Fugger für den König wohl zu tun hatte. Richard bemerkte immer mehr Angehörige des Welser-Unternehmens, die ›zufällig‹ etwas am Rindermarkt zu tun hatten. Ulrich Fugger verlor zusehends an Gewicht und erschien bei jeder Abendmahlzeit blasser und gehetzter. Als sein Bruder Georg aus Nürnberg einige Wochen früher als gewöhnlich eintraf, um die Weihnachtsfeiertage mit seiner Familie in Augsburg zu verbringen, begrüßte er ihn sichtbar erleichtert wie einen rettenden Erzengel. Georg war der einzige, auf den er einen Teil der Leitung des Unternehmens abwälzen konnte, ohne sich Jakob gegenüber schuldig fühlen zu müssen.
Da es in Augsburg keine platonische Akademie und keine jedermann zugänglichen Bibliotheken gab, arbeitete Richard wieder im Kontor und war daher anwesend, als Georg einigermaßen gereizt zu Ulrich sagte: »Ich hoffe nur, daß mir Ziegler und Kather in Nürnberg die Angelegenheit mit der Waffenschmiede richtig in die Wege leiten.«
Ulrich blies die Backen auf. »So wichtig ist das nicht – glaub mir, du wirst hier dringender gebraucht. Selbst wenn der gute Max herausfindet, daß seine neue Waffenschmiede auch zu unserem Unternehmen gehört und nicht irgendeinem Herrn Gotthardt – was weiter? Er müßte doch bei uns kaufen, er hat gar keine andere Wahl.«
»Sei dir nicht so sicher«, mahnte Georg. »Jakob meint, wir sollten den Bogen nicht überspannen und dem König das Gefühl lassen, er wäre zumindest teilweise unabhängig. Das macht ihn zugänglicher. Außerdem kann ich über die Gotthardt-Schmiede auch an Fürsten und Länder verkaufen, wo man uns Fugger sonst haßt wie die Pest.«
»Mag sein«, gestand Ulrich ihm zu.
Richard wußte nicht, ob den Brüdern seine Anwesenheit nicht bewußt gewesen war, oder ob sie ihn nun zum inneren Kreis zählten. Wie auch immer, das Gespräch über Waffen erinnerte ihn an Savonarola und seine Prophezeiungen von Feuer und Blut, und er fragte sich plötzlich, ob dieses Blut auf allen Seiten mit Waffen aus Georgs Nürnberger Schmiede oder weiteren fuggereigenen Werkstätten vergossen werden würde, Waffen, mit denen das Unternehmen Unsummen verdiente.
Am Abend, als er Ulrich und Georg dabei beobachtete, wie sie als wohlwollende Patriarchen über ihre Familien residierten, kam Richard diese Überlegung wieder in den Sinn. Die Brüder Fugger hielten sich gewiß für fromme Christen, aber sie wären entsetzt, wenn jemand vorschlagen würde, das Bibelwort von den Schwertern, die zu Pflugscharen umgeschmiedet werden sollten, zu verwirklichen. Und warum auch? An Schwertern verdiente man viel mehr.
Er war froh, als Ursula seine Gedanken in eine andere Richtung lenkte, lächelnd auf Georgs Gemahlin wies, die den kleinen Hieronymus im Arm hielt und bemerkte: »Ein Glück, daß Tante Regina hier ist. Sie kümmert sich gern um Kinder.«
»Und was willst du tun, wenn du einmal verheiratet bist?« neckte er sie. »Zumindest zur Welt bringen mußt du sie schon selber.«
Kopfschüttelnd gab sie zurück: »Ach was, muß ich nicht. Ich werde es so machen wie Tante Sybille. Ich erspare mir die Schwangerschaft und die Zeit, in der sie klein sind und nur schreien, und dann nehme ich einen netten, klugen Neffen als Kind an.«
Sie scherzte natürlich, doch Richard protestierte, ehe er es sich versah, gegen das, was sie da andeutete. »Sybille sieht mich nicht als Sohn an«, sagte er stirnrunzelnd und war überrascht, als Ursula nicht antwortete, sondern ihn aufmerksam ansah.
»Du bist dir tatsächlich nicht im klaren darüber, oder?« fragte sie prüfend.
»Im klaren über was?«
»Über Sybille und Jakob natürlich.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Richard irritiert. Ursula blickte zum Himmel und faltete in gespielter Verzweiflung die Hände.
»O Herr, warum hast du die Männer so blind geschaffen? Es ist doch offensichtlich. Sybille und Jakob haben keine Kinder. Was glaubst du, warum Jakob dich zurückgeholt hat, statt dir das Geld nach Italien zu schicken? Sybille sah während Mamas Schwangerschaft mehr und mehr wie ein Gespenst aus, und seit du wieder hier bist, sprüht sie nur so vor guter Laune.«
»Jakob«, konterte Richard, der selbst nicht wußte, warum ihn Ursulas Behauptung so störte, »hat mich einzig und allein aus geschäftlichen Gründen zurückgeholt.«
»Und das konnte er dir nicht schreiben?« fragte Ursula spöttisch. »Himmel, Richard, ist es denn so schwer zu schlucken, daß sie dich alle beide gerne wiedersehen wollten, Jakob ebenso wie Sybille, obwohl er es nie zugeben würde? In dieser Beziehung seid Ihr Euch ziemlich ähnlich, weißt du das?«
Richard verschränkte abwehrend die Arme. »Wir sind uns keineswegs ähnlich. Wenn man Jakob alle sieben Weltwunder auf einmal anbieten würde, unversehrt und in voller Schönheit, soll ich dir sagen, was er dann tun würde? Er würde fragen: Was bringt mir das für mein Geschäft, und wieviel kostet es?«
Er fand das nicht im geringsten komisch und konnte nicht verstehen, warum Ursula sich die Hand auf den Mund preßte, um mit allen Kräften einen Lachanfall zu ersticken. Ihr Gesicht rötete sich ein wenig, und schließlich gab sie den Kampf auf und prustete los.
»Du hast deinen Vater nie gekannt, oder?« erkundigte sie sich dann, halbwegs gefaßt.
»Was hat das denn damit zu tun?«
»Oh, nichts, gar nichts«, wehrte Ursula ab, die ihr Leben lang die Gelegenheit gehabt hatte, Väter und Söhne zu beobachten, aber genügend für Richard empfand, um nicht länger auf einem Thema beharren zu wollen, das ihm offenbar unangenehm war. »Überhaupt nichts«, schloß sie und küßte ihn flüchtig auf die Wange. »Vergessen wir es.«
Er war sehr dafür, es zu vergessen, zumal der Umgang mit seinen wirklichen Verwandten schon heikel genug für ihn war. Sybilles Mutter hatte sich bei näherer Bekanntschaft als eine ziemlich redselige alte Frau entpuppt, die bevorzugt in der Vergangenheit schwelgte. Doch damit konnte er fertig werden, schwieriger war, daß jeder Besuch in den Zimmern, die Sybille für sie eingerichtet hatte, ihr zu kurz erschien, und jeder Abschied ihr Anlaß zu Beschwerden bot.
»Dabei hättest du sie erleben sollen, als ich noch klein war«, sagte Sybille einmal traurig zu Richard. »Sie war die beliebteste Gastgeberin in Augsburg, brachte die Leute ständig zum Lachen und ließ sich immer etwas Neues einfallen. Ich kann mich noch an Anton Welsers Hochzeit erinnern, als sie den Einfall hatten, einen Weinkrug mit Münzen zu füllen und alle Anwesenden raten zu lassen, wie viele es waren. Du wirst es nicht glauben, keiner von all diesen reichen Kaufleuten, die zu den Welsern geladen waren, riet richtig, nur Emil Keutner, der Gelehrte, der damals noch ein dünner Scholar war.«
Sie seufzte und fügte abwesend hinzu: »Ich möchte nicht so alt werden, zumindest nicht auf diese Weise.«
Um Sybille seine Dankbarkeit für jahrelange unaufdringliche Fürsorge zu beweisen, besuchte Richard die alte Frau, die seine Großmutter war, also weiter. Sie hielt sich selten außerhalb ihrer Räume auf und zog es vor, dort ein Netz von verlorenen Träumen um sich zu spinnen. Einmal ertappte sich Richard dabei, daß er Sybille fragte: »War Euer Vater wirklich einmal der wichtigste Mann im Stadtrat nach dem Welser?«
»Um die Wahrheit zu sagen – nein«, erwiderte sie belustigt. »Aber mein Onkel saß ein paarmal auf dem Bürgermeisterstuhl, und glaube mir, der hat nie jemandem gestattet, das je zu vergessen!«
»Und … mein Vater?« hakte er zögernd nach. »Wie war er?« Dieses Bedürfnis, seine Wurzeln kennenzulernen, erstaunte ihn selbst, doch seit er Florenz verlassen hatte, begleitete es ihn. Sybille lag es auf der Zunge, ihn zu fragen, ob seine Mutter ihm nicht von Markus erzählt hatte. Doch wenn man es recht bedachte, hatte Markus noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, viel Zeit mit der Frau zu verbringen, für die er seine sichere Herkunft in Augsburg aufgegeben hatte.
»Als kleines Mädchen hielt ich ihn für einen großen Helden«, sagte sie daher versonnen, »mein großer Bruder, der ab und zu nach Hause kam und mir wunderbare Geschenke mitbrachte. Er war … ruhig, gelassen und sehr, sehr hilfsbereit.« Sie warf ihm einen verschmitzten Blick zu. »Nicht so fragedurstig und neugierig, aber es hat ihn wohl ebenso in die Ferne gezogen wie dich.«
»Ich bin wieder hier«, sagte Richard.
Sybille schüttelte den Kopf. »Und du möchtest wieder nach Italien zurück, stimmt das nicht?«
»Doch«, sagte Richard langsam. »Doch. Ich möchte wieder zurück.«
Ein paar Tage später traf Jakob in Augsburg ein. Er war jedoch nicht bereit, irgendwelche öffentlichen Erklärungen abzugeben außer der, daß er König Maximilian ein neues Darlehen gewährt habe, kaum eine unerwartete Neuigkeit. Zwei Tage brauchte er, um sich über die Geschäftsabläufe in den vergangenen Wochen zu informieren, dann bat er seine Brüder sowie einige der wichtigsten Angestellten zu einer Zusammenkunft in die goldene Stube.
»Wir werden«, begann er übergangslos, »unseren Seehandel von nun an nicht mehr nur über Venedig abwickeln müssen. Uns steht die gesamte spanische Küste zur Verfügung. Das Unternehmen wird daher verstärkt …«
»Aber dort herrscht Krieg«, unterbrach Ulrich ihn verblüfft. Unter den Angestellten brach erregtes Gemurmel aus. Jakob hob die Hand. »Ich weiß aus sicherer Quelle«, sagte er mit seiner leisen, präzisen Stimme, die jeden sofort zum Schweigen brachte, »daß die Kapitulation der Mauren in Granada unmittelbar bevorsteht. Damit haben die spanischen Könige freie Hand, um ihre Handelsflotte auszubauen, und der Weg nach Afrika ist frei. Das allein wäre schon ein guter Investitionsgrund, aber ich habe außerdem die Garantie, daß das Unternehmen frei über die spanischen Häfen liefern kann – ohne Zollgebühren.«
Diesmal starrten sie ihn alle nur stumm an. Jedem war klar, was das bedeutete, und auch, daß diese Unterredung absolut geheim bleiben mußte. Wieder war es Ulrich, der aussprach, was alle dachten.
»Jesus, wenn das einer von den verdammten Welsern erfährt, die hier in der letzten Zeit herumgelungert sind, ist der Teufel los. Aber wie bei allen Heiligen hast du das geschafft, Jakob?«
Georg, der bisher stumm geblieben war und seinen jüngsten Bruder beobachtete, wünschte plötzlich, Jakob wäre ein wenig mehr wie Ulrich mit seinen polternden Launen. Dann könnte man ihm auf den Rücken schlagen, ihn zu diesem außergewöhnlichen Geschäft beglückwünschen und sich anschließend einen kleinen Bierrausch gestatten. Statt dessen standen sie alle wie Lehrlinge, die auf das Wort des Meisters warteten, um den marmornen Schreibtisch herum.
»Der König«, sagte Jakob knapp, »hat für seinen Sohn um die Hand der Infantin angehalten. Da Ferdinand und Isabella durch den Krieg zur Zeit hohe Ausgaben haben, waren sie dankbar, zu hören, daß Maximilian keine Mitgift erwartet, sondern im Gegenteil eine zur Verfügung stellt. In Höhe von zehntausend Dukaten. Daher wäre ich dankbar für eine Überprüfung, wo uns eine solche Summe in Silber zur Verfügung steht, und zwar möglichst nahe dem Königreich Aragon. Ich möchte die Kosten für die Söldner, die den Transport bewachen müssen, nicht ins Unermeßliche wachsen lassen, aber die spanischen Könige bestehen nun einmal auf Silber.«
Georg Fugger fand seine Stimme wieder. »Also deswegen warst du so lange fort«, stellte er überflüssigerweise fest. »Um die Heirat zu vermitteln.«
»Beide Seiten hatten gewisse Vorurteile gegeneinander, die behoben werden mußten«, sagte Jakob.
Richard hatte ausreichend Zeit gehabt, sich auf seine Unterredung mit Jakob vorzubereiten, doch er war nicht darauf gefaßt gewesen, daß ihn Sybille vorher noch inmitten der Weihnachtsfeiern beiseite zog und ihm einen erstaunlichen Vorschlag unterbreitete. Er hatte gerade einen Tanz mit Ursula beendet, die wieder einmal von ihrer Mutter zu sich gerufen wurde, und meinte mit einer kleinen Grimasse zu Sybille: »Ist das nicht schade – und ich dachte schon, Frau Veronika hätte mich endlich in ihr Herz geschlossen!«
Statt zu lachen, wie er es erwartet hatte, musterte ihn Sybille ernst und fragte plötzlich: »Warum heiratest du sie nicht?«
»Wen – Veronika?« gab der völlig überrumpelte Richard zurück, was ihm doch noch ein Lächeln einbrachte.
»Du weißt genau, wen ich meine«, sagte Sybille dann. »Warum heiratest du nicht Ursula? Sie ist hübsch, klug, und ihr habt euch doch offensichtlich sehr gerne. Es kann dich auch niemand mehr als mittellosen Freier bezeichnen, im Gegenteil, die Männer, die Ulrich bisher für sie in Aussicht hatte, hatten außer klingenden Namen weit weniger zu bieten als du. Wenn du um ihre Hand anhieltest, ich glaube, du würdest sie bekommen.«
Zuerst wollte er Sybille fragen, ob das ein weiterer Weihnachtsscherz wäre, den er unmöglich ernst nehmen konnte. Selbst wenn er um Ursula anhielte, Veronika würde eher sterben, als ihm ihre Tochter zu geben. Doch dann wurde ihm klar, daß es keinesfalls so absurd war. Veronika hin oder her, letztendlich lag die Entscheidung bei Ulrich, und es war sehr gut möglich, daß Ulrich ihn nicht mehr als mittellosen Habenichts sah, sondern als begüterten Freier, der seine Nützlichkeit für das Unternehmen bewiesen hatte.
Es war möglich, daß Ursula ihn gerne heiraten würde, trotz ihres Philipp von Stain. Wie Sybille richtig bemerkt hatte, mochten sie einander, und er hatte mitnichten vergessen, wie er sie noch vor ein paar Wochen begehrt hatte.
Was Sybille ihm vorschlug, schloß er einigermaßen fassungslos, war nicht mehr und nicht weniger als die endgültige Aufnahme in die einzige Familie, die er je kennengelernt hatte. Als Ulrichs Schwiegersohn hätte er sogar eine vage Aussicht auf die Leitung des Unternehmens, ganz gewiß ebenso oder sogar eher als der sorglose Hänsle in Venedig. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine goldene Zukunft, dargeboten in Gestalt eines begehrenswerten jungen Mädchens. Daß er Ursula nicht liebte, spielte dabei kaum eine Rolle.
Aber in allen Fasern seines Wesens spürte er, daß eine solche Entscheidung falsch wäre. Es wäre eine Lüge, eine verführerische Lüge zwar, aber immer noch eine Lüge, die ihn binden würde, wo er sich Freiheit wünschte. Schlimmer noch, er würde sich selbst damit verkaufen. Er suchte nach Worten, um bei Sybille Verständnis zu finden, und endete schließlich mit dem, was er dachte: »Es wäre falsch. Für sie und für mich. Das wäre grundfalsch.«
Sie wirkte nicht gekränkt, nur betroffen und nachdenklich. »Denk noch einmal darüber nach«, sagte sie verhalten. »Die Entscheidung liegt bei dir. Ich möchte nur, daß du weißt, daß ich dich unterstützen werde.«
»Tante«, sagte Richard zögernd, »da ist noch etwas.«
Da er Sybilles hohes Einfühlungsvermögen kannte, wunderte es ihn kaum, als sie feststellte: »Du liebst eine andere.«
Richard nickte, doch es fiel ihm schwer, seine Gedanken in Worte zu fassen. »Das spielt keine Rolle, soweit es Ursula betrifft, und außerdem ist es ohnehin vorbei. Ich werde sie nie wiedersehen. Aber ich kann sie einfach nicht aus meinen Gedanken verbannen … Sagt mir, wenn ich nun ein Mädchen geheiratet hätte, das keine Familie hat, kein Vermögen, meint Ihr, wir hätten hier glücklich werden können?«
»Das werde ich dir sagen, wenn du mir mehr von ihr erzählst«, erwiderte Sybille, die sich hütete, Richards Frage sofort zu verneinen. Sie hatte ein Geständnis dieser Art mehr oder weniger erwartet. Doch was sie zu hören bekam, waren, wie sie zu Recht vermutete, nur Bruchstücke der Geschichte.
Als Richard geendet hatte, seufzte Sybille und musterte ihren Neffen, der nun so alt war wie sie bei ihrer Heirat. »Es wäre auf keinen Fall gutgegangen, Richard. Hier nicht und dort in Italien vermutlich auch nicht. Ich will nicht von unpassend reden, aber denke doch nur«, sie schöpfte kurz Atem, denn nun mußte sie auf etwas zu sprechen kommen, an dem sie bisher nie gerührt hatte, »an deine Mutter. Man hat sie immer als Fremde gesehen und ihre Ehe nie anerkannt.«
»Was Ihr meint, ist, daß ein Artzt keine Araberin heiratet, und eine Zigeunerin erst recht nicht«, unterbrach Richard schärfer als er beabsichtigt hatte. Sybille schüttelte den Kopf.
»Was ich meine, ist, daß sie unglücklich geworden wäre. Solange der junge Thurzo hier war, lief er herum wie ein Gefangener, und seit Anna mit ihm nach Ungarn ging, ist sie es, um die wir uns Sorgen machen. Im letzten Jahr hat Jakob mich an den Hof mitgenommen, und die Königin dort hat noch kein einziges Wort unserer Sprache gelernt, sie sitzt nur stumm neben König Max und sehnt sich wahrscheinlich ständig nach Mailand.«
»Saviya«, sagte Richard mit einer Mischung aus Sehnsucht und Zorn, »wäre bestimmt nicht damit zufrieden, stumm zu leiden. Sie ist so verdammt eigensinnig, daß sie sich lieber umbringen lassen würde, als nicht ihren Willen zu bekommen.« Mit einer gespielten Achtlosigkeit, die sie sofort durchschaute, setzte er hinzu: »Aber was soll's, das ist ohnehin vorbei, und ich bin froh darüber.«
»Wenn dem so ist«, gab Sybille, die der Versuchung nicht widerstehen konnte, ihn ein wenig zu necken, zurück, »dann wird es dir ja nicht weiter schwerfallen, noch einmal über Ursula nachzudenken.«
Als er sich später mit Jakob in einen ruhigen Winkel zurückzog, wo das Schachbrett schon auf sie wartete, war Richard noch immer etwas durcheinander. Wider Willen kehrten seine Gedanken bald zu Saviya zurück, bald zu der Vorstellung, Ursula zu heiraten, und er erkannte, wie stark diese Versuchung war. Während er sich vorbeugte, um die Figuren in Augenschein zu nehmen, umklammerte er mit den Händen die Tischkanten. Das feste, schneidende Holz gab ihm Halt und erinnerte ihn daran, daß er seine gesamte Aufmerksamkeit für Jakob Fugger brauchte.
Er drehte das Schachbrett herum, und Jakob hob fragend eine Augenbraue. »Ich werde diesmal mit Schwarz spielen«, sagte Richard. Bisher hatte ihm Jakob immer den Vorteil des Eröffnungszuges eingeräumt, doch er war entschlossen, diese Partie zu gewinnen, und zwar ohne jede Hilfe.
»Wieviel Gewinn erwartet Ihr denn«, erkundigte er sich, während er auf Jakobs ersten Zug wartete, »wenn der nächste Papst, wer auch immer er sein sollte, Euch den Ablaßhandel zur nächsten Jahrhundertwende im Heiligen Römischen Reich überträgt?«
Jakob setzte seinen Bauern. Als Richard zog, kommentierte er anerkennend: »Sehr gut«, und Richard wußte nicht, ob sich das auf das Spiel oder auf seine Erkenntnis bezüglich des Ablaßgeschäfts bezog. Im Grunde war das auch gleichgültig.
»Ich kann mir nicht vorstellen«, sagte Richard, »daß Ihr noch acht Jahre warten werdet.«
»Nein.« Der weiße Läufer in Jakobs Hand fing das Licht des Kaminfeuers ein. »Das Jubeljahr ist ein nützliches Datum, aber Ablässe kann ein Papst, und zumal ein Papst, der Geld, Kanonen und Söldner braucht, auch zu anderen Gelegenheiten erlassen. Zu einem Kreuzzug gegen die Türken beispielsweise. Seine Majestät der König wäre sehr bereit, einen solchen Kreuzzug zu führen.«
»Und deswegen braucht Ihr mich dazu?«
»Rom«, entgegnete Jakob, ohne seinen Blick von den Schachfiguren abzuwenden, »ist von allen Städten dieser Welt nicht nur die reichste, sondern auch die gefährlichste, und deshalb brauche ich dort mehr als sonst irgendwo – einen Übermittler von Wissen.«
Richard schloß kurz die Augen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, den er halb gefürchtet, halb herbeigewünscht hatte; der Zeitpunkt für seine erste Auseinandersetzung mit Jakob seit jenem Sommerabend in seinem zweiten Jahr in Augsburg. Er machte erst seinen Zug, dann sagte er: »Das ist zwar sehr schmeichelhaft für mich, aber ich werde nicht gehen.«
Scheinbar bedenkenlos schlug Jakob mit einem seiner Läufer Richards Springer und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sein Gesicht lag im Halbdunkel, und die Flammen zeichneten unregelmäßige Schatten darauf. Richard wartete darauf, daß Jakob ihn nach dem Grund fragte, doch er wartete vergeblich. Das Schweigen machte ihn nervös, obwohl er erkannte, daß Jakob genau dies beabsichtigte; die nächsten Züge wurden nur von ihrem Atem begleitet, und als Richard zum zweiten Mal hintereinander eine von Jakobs Figuren vom Spielfeld entfernen konnte, glaubte er mit aufsteigender ungläubiger Freude, tatsächlich gewinnen zu können. Das veranlaßte ihn, als erster die Stille zu durchbrechen und seine sorgsam vorbereitete Erklärung vorzubringen.
»Ich bin durchaus bereit, weiter für das Unternehmen tätig zu sein, aber nicht in Rom und nicht, wenn es um Geschäfte wie den Ablaßhandel geht. Denn Ihr sollt wissen, daß ich den Verkauf von Ablässen zutiefst mißbillige.«
Einmal ausgesprochen, klang es unerwartet selbstgerecht. Jakob nickte nur und sagte: »Sprich weiter.«
Die Gestalt von Fra Savonarola, wie er von der Kanzel des Duomo predigte, kam Richard überraschend zu Hilfe, und er wiederholte, was er den Mönch hatte sagen hören: »Das Geschäft mit Seelen ist ein Grundübel der Kirche, wie überhaupt die Verbindung zwischen Kirche und Handel. Und wenn ich mich daran beteilige, mache ich mich mitschuldig an dem, was ich verurteile.«
»Sprich weiter.«
»Und daher kann ich nicht nach Rom gehen«, schloß Richard so heftig wie möglich und bemerkte, daß Jakob ihm mit dem nächsten Zug seine Dame nehmen konnte. Er biß die Zähne zusammen und wartete auf das Fallbeil.
»Ohne die Aufrichtigkeit deiner Beweggründe anzuzweifeln«, sagte Jakob, zog, griff nach Richards Dame und hielt sie hoch, als betrachte er sie prüfend, »würde ich sie kaum als logisch bezeichnen. Fangen wir mit dem schwerwiegendsten an. Du mißbilligst also den Ablaßhandel, den Verkauf von Absolution gegen Geld, wenn ich dich richtig verstehe. Tatsache ist, daß hier eine große Nachfrage besteht. Die Menschen brauchen Vergebung und Erlösung, fürchten sich aber häufig davor, beides durch Beichte und Buße zu erlangen.«
Er blickte Richard durchdringend an: »Du solltest das am besten wissen, nicht wahr? Wie auch immer, wenn das Unternehmen sich am Verkauf von Ablässen beteiligt, bietet es Glück und Hoffnung gegen Geld, für die meisten Leute eine realere Ware als der Tand, für den sie oft Unsummen auf Jahrmärkten bezahlen.«
Beim Klang der aufschlagenden Dame, die Jakob achtlos auf den Tisch fallen ließ, zuckte Richard zusammen. Er wollte protestieren, entschied sich dann aber zu warten, bis Jakob seine Ausführungen beendet hatte. Hatte ihm Jakob nicht selbst einmal gesagt, wer protestiere, statt darzulegen, sei schon in der schwächeren Position?
»Und nun kommen wir zu dir. Ich habe keineswegs vor, dich als Vermittler von Pfründen, Ablässen oder Reliquien einzusetzen. Das macht Johannes Zink, und du wärest dafür auch gar nicht geeignet.«
»Warum nicht?« Obwohl es absurd war, fühlte sich Richard durch die Unterstellung, er sei für einen Ablaßhändler nicht kompetent genug, brüskiert. Er entschied, sich nun vor allem auf das Spiel zu konzentrieren und zu versuchen, Jakob mit seinem Läufer und dem verbliebenen Springer anzugreifen.
»Ablässe«, sagte Jakob, der Richards widerstreitende Gefühle sehr wohl durchschaute, »sind nach Gesichtspunkten der Ästhetik betrachtet kaum sehr reizvoll. Du kannst nur handeln, wo du dich begeisterst, und du kannst dich nur begeistern, wo du liebst. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß du dich in einen Haufen kirchlicher Dokumente verlieben könntest.«
Da er eine Chance für einen seiner Bauern erkannte, entschloß sich Richard, im Gespräch etwas nachzugeben, um Jakobs Aufmerksamkeit vom Schach abzulenken.
»Ich sage nicht, daß ich gehe – aber was soll ich denn dann in Rom für Euch tun?«
»Was du auch in Florenz getan hast.«
»Genau das?«
»Genau das.«
»Unmöglich«, entgegnete Richard und achtete darauf, während der folgenden Züge nicht zu schnell zu sprechen, damit die Absicht, abzulenken, nicht allzu deutlich wurde. »Zunächst einmal kenne ich dort niemanden. In Florenz bin ich durch einen Glücksfall in der Lage gewesen, zu den Medici und den übrigen wichtigen Familien Zugang zu finden, aber so etwas wiederholt sich nicht.«
»Ich glaube«, meinte Jakob gedehnt, »du unterschätzt dich. Du hast ein Talent, nützliche Bekanntschaften zu machen.«
»Aber ich habe kein Talent zur Bestechung in wirklich wichtigen Fällen, und das ist doch sicher in Rom unumgänglich.«
Diesmal mußte Richard darauf achten, nicht selbst von der Falle, die er aufbaute, abgelenkt zu werden, denn die Trauer, die ihn plötzlich überfiel, war unvermutet heftig.
»Ich meine nicht alltägliche Gefälligkeiten, sondern gefährliche Auskünfte. Das einzige Mal, als ich so etwas versuchte, starb dabei jemand durch meine Schuld.«
Der Tag, an dem Lauretta sich umgebracht hatte, lag nun schon mehr als zwei Jahre zurück, aber das Bild des Massengrabs außerhalb der Stadtmauern stand in unverminderter Deutlichkeit vor Richard, und er preßte die Lippen zusammen.
»Dann sorge dafür«, entgegnete Jakob unbeeindruckt, »daß so etwas nicht mehr geschieht.«
»Schach«, stieß Richard etwas benommen hervor. Es war ihm gelungen, den weißen König einzukreisen, ohne daß Jakob eine entsprechende Gegenwehr aufgebaut hatte. Er konnte es selbst kaum fassen, aber da stand sein Läufer, da sein Springer und dort Jakobs König. Zum ersten Mal während des Spiels gestattete er sich, Jakob direkt anzusehen, und wurde mit einem winzigen Aufflackern der Verblüffung belohnt. Gleich darauf schaute Jakob jedoch so merkwürdig zufrieden drein, daß Richard sofort wieder auf der Hut war.
»Ehe ich es vergesse«, meinte Jakob lächelnd, »es gibt natürlich noch einen weiteren Grund, warum du nach Rom gehen solltest. Als redlicher Kaufmann kann ich nicht zulassen, daß jemand Ablässe fälscht, und mir ist zu Ohren gekommen, daß ein hoher Würdenträger der Kirche genau das tut.«
Richard zuckte die Achseln. »Das beeinträchtigt selbstverständlich Euer Geschäft, aber inwiefern betrifft das mich?«
Jakob legte seinen König um, zum Zeichen, daß er sich geschlagen gab. »Es ist mein Weihnachtsgeschenk für dich. Der Name des Mannes lautet Heinrich Institoris. Ich glaube, du kennst ihn?«
Er stand auf, und Richard, der ihn anstarrte, ohne ihn wirklich wahrzunehmen, spürte flüchtig, wie er ihm die Hand auf die Schulter legte. »Es freut mich wirklich, daß du das Spiel gewonnen hast«, sagte Jakob Fugger.