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Es WURDE FRÜHLING und die Situation in Rom immer angespannter. Mehrere Bedienstete der Orsini und der Borgia waren schon ›Unfällen‹ zum Opfer gefallen, doch noch war kein Familienangehöriger getötet worden, auch keiner der zahlreichen Borgia-Vettern, die von der Iberischen Halbinsel nach Rom strömten. ›Zehn Pontifikate‹, schrieb der florentinische Gesandte einmal ärgerlich an Piero de'Medici, ›würden nicht genügen, um diese Verwandtschaft zufriedenzustellen.‹
Piero war den Zahlungsforderungen des Papstes fürs erste nur durch ein geheimes Versprechen entkommen, das sein Bruder geleistet hatte und das Giovanni zu der Bemerkung veranlaßte, er sei froh, in einiger Entfernung von der Via Larga zu leben. »Piero ist so stolz darauf, mit einer Orsini verheiratet zu sein«, sagte der junge Kardinal zu seinem Beichtvater. »Schon das unbedingte Treuegelübde, das der Heilige Vater ihm abverlangt hat, war für ihn schwer zu schlucken. Aber daß ich auch noch versprochen habe, die Medici würden eine Heirat zwischen Ferrantes Enkelin und dem jüngsten Sohn seiner Heiligkeit vermitteln – ich kann Piero auf diese Entfernung hören. ›Eine Prinzessin aus dem Haus Aragon und der Bastard der Borgia‹, ›die Medici zu Kupplern herabgesunken‹, et cetera et cetera. Aber immerhin – wir müssen jetzt nicht mehr zahlen, oder?«
Mario war also einer der wenigen, die wußten, daß Alexander VI. sich nach zwei Richtungen hin absicherte – er verheiratete seine Tochter mit einem Sforza und seinen Sohn Joffre mit einer Vertreterin des Königshauses Neapel. Aber nur wenige Tage nach der Hochzeit von Giovanni Sforza mit der dreizehnjährigen Lucrezia Borgia erfuhr auch der Rest der Welt davon, denn der Onkel des Bräutigams, Kardinal Ascanio Sforza, durch seinen wohlmeinenden Kollegen Giuliano della Rovere auf die Heiratspläne aus Neapel aufmerksam gemacht, verursachte einen öffentlichen Skandal im Vatikan, als er türschlagend aus den päpstlichen Gemächern gestürmt kam und lauthals etwas von einem hinterlistigen Katalanen murmelte, der seine Bastarde an alles verhökere, was nur nach Adel rieche.
In Rom verbreitete sich ziemlich schnell die Nachricht, Kardinal della Rovere ließe seine Festung in Ostia weiter ausbauen, als deutliche Geste der Herausforderung dem Papst gegenüber. An sich war diese Neuigkeit längst nicht so interessant gewesen wie ein Streit zwischen den Borgia und den Sforza, doch Richard brachte sie auf eine Idee.
Ostia hatte auch heute noch einen kleinen Hafen, doch zu Zeiten des Römischen Reiches war diese Stadt der wichtigste und bedeutendste Stützpunkt der römischen Seemacht gewesen. Nicht nur die Getreidezufuhr, sondern der gesamte Handel, der nun, viele Jahrhunderte später, Venedig seine Bedeutung verlieh, war damals über Ostia gelaufen. Bestimmt gab es in Ostia noch Überreste der alten Hafenmetropole, und wer konnte wissen, worauf die Männer des Kardinals bei ihrem Festungsbau stießen?
Entschlossen machte er sich mit ein paar Begleitern auf den Weg. Es war nicht schwer, ein kleineres Schiff für die Fahrt den Tiber hinunter zu mieten; Zink ließ ihm bei den Ausgaben wesentlich mehr Freiraum als Eberding, zumal der Leiter der römischen Faktorei wußte, daß Richard die Mittel besaß, um im Zweifelsfall für einen Verlust selbst geradezustehen.
Es erwies sich als glückliche Idee, in Begleitung gekommen zu sein, denn der Kardinal hatte den Hafen von Ostia von seinen Soldaten besetzen lassen und ihnen offenbar die Anweisung gegeben, unliebsame Eindringlinge fernzuhalten.
»Was wollt Ihr hier?« herrschte der Hauptmann der Wache, die Richard in Empfang nahm, ihn an. In seinem höflichsten Tonfall erwiderte Richard, er sei Kaufmann, Angestellter des Unternehmens Fugger und auf der Suche nach brauchbaren Überresten der altrömischen Hafenstadt. Einen anderen Grund anzugeben wäre sinnlos gewesen, da sie auf dem Rückweg gewiß noch einmal kontrolliert wurden.
»Überreste? Jeder Schatz, der hier gefunden wird, gehört seiner Eminenz!« knurrte der Hauptmann.
Gewiß, versetzte Richard; man sei auch nicht auf der Suche nach Gold oder Juwelen, sondern nach brauchbaren Steinen zur Verschönerung des Fondaco in Rom. Er setzte darauf, daß der Hauptmann die Meinung der meisten Römer, die in den antiken Ruinen einen besseren Steinbruch sahen, teilte. Wenn Giuliano della Rovere einen Mann mit Sinn für Kunst hier postiert hatte, wäre das allerdings Pech; doch Richard nahm an, daß der Kardinal weniger die Entwendung von Steinen und Skulpturen als Spione des Papstes fürchtete.
Mit einiger Überredungskunst und verhältnismäßig geringem Aufwand an Bestechungsgeldern gelang es ihm schließlich, die Genehmigung für die Ausfuhr von ›Steinen‹ zu erhalten, vorausgesetzt, er bezahle dafür eine gewisse Entschädigung.
Die Burg, die sich der Kardinal erst vor ein paar Jahren hier hatte bauen lassen, überragte die kleine Ortschaft. Richard erkundigte sich bei den Bewohnern, die allesamt an den Erweiterungsbauten arbeiteten, ob sie bei den Grabungen irgend etwas gefunden hatten, das nicht mehr zu verwenden gewesen sei.
Im Prinzip, beschied man ihm, sei alles, außer den Amphoren, die man habe zerschlagen müssen, zu verwenden, und Richard erfaßten böse Ahnungen.
Nach stundenlangem vergeblichen Wühlen in den Ruinen war er völlig verzweifelt. Doch dann stand sein gewohntes Glück ihm wieder bei. Als er einige spielende Kinder beobachtete, kamen ihm seine Streifzüge in Wandlingen wieder in den Sinn. Für ein Kind – das wußte er noch aus eigener Erfahrung – war ein gewöhnlicher Fund noch aufregend genug, um ihn als Schatz zu behandeln und nicht als Baumaterial zu sehen.
»Schwört Ihr, daß ihr nichts geschieht«, verlangte das kleine Mädchen, das schließlich, nachdem er seine letzten Melonen mit ihr geteilt hatte, bereit war, ihm Auskunft zu geben, sehr ernst.
»Ich schwöre es.«
Sie führte ihn – ohne seine Begleiter – schließlich zu einem kleinen Wäldchen bis zu einer Stelle, wo eine kleine Grube von Ästen und Zweigen abgedeckt war. Mehrere in Säcke gehüllte Gegenstände lagen dort, und Richard ertappte sich dabei, wie er die Hände hinter dem Rücken ineinander verschränkte, um nicht in Versuchung zu geraten. Das kleine Mädchen warf ihm einen listigen Blick zu.
»Denk daran, das ist alles meins«, sagte sie mahnend, bevor sie einen der grobgeflickten Säcke, die früher mit Getreide gefüllt gewesen sein mochten, öffnete und mühsam einen länglichen Gegenstand herausholte. Richard hielt den Atem an. Jetzt verstand er, wen das Mädchen mit ›sie‹ meinte. Zum Vorschein kam, immer noch mit Erdspuren bedeckt, ein makelloses Relief von einer weiblichen, seitwärts gewandten Gestalt.
Seine Gedanken überschlugen sich. Handelte es sich um eine Darstellung der Göttin Roma, deren Kult Augustus hier in Ostia erst eingeführt hatte? Um eine andere Göttin, eine der zwölf olympischen? Oder war es ein Teil einer Grabplatte?
»Darf ich sie einmal halten?« bat er das Kind mit mühsam beherrschter Stimme.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Du nimmst sie mir weg.«
»Ich würde sie in der Tat gerne haben, aber ich stehle nicht. Hier, so lange, wie ich sie halte, kannst du meine Börse als Pfand haben.«
Das schien sie zu überzeugen. Doch Richard war nicht so hingerissen von dem Fund, als daß er das Kind nicht aus den Augenwinkeln beobachtet hätte, während seine Hände andächtig über die klaren Linien des Reliefs strichen. Er entdeckte keine Inschrift, nur diese Frauengestalt mit ihrem leicht geneigten Kopf und dem strengen Profil, die Arme in einer seltsam verwundbaren Geste über der Brust gekreuzt. Mit Sicherheit war dies keine Göttin; seine Phantasie spiegelte ihm eine römische Senatorentochter vor, die einem Bildhauer kurz vor ihrer Vermählung für dieses Relief Modell saß, um es ihrem zukünftigen Mann zu schenken.
Widerwillig gab Richard das Stück zurück und erhielt seine Börse; grübelnd betrachtete er das Mädchen, dessen Oberkörper hinter dem Relief, welches sie umfangen hielt, fast verschwand.
»Du wirst sie nicht lange behalten können, weißt du … Wenn deine Eltern das herausfinden, bringen sie sie bestimmt zu den Leuten des Kardinals.«
Sie machte ein störrisches Gesicht. »Du hast versprochen, daß du nichts verrätst.«
»Ich will auch gar nichts verraten. Aber so etwas kommt immer irgendwann heraus. Zum Beispiel könnte dich jemand beobachten, wenn du hierherkommst.« Er ließ einige Zeit schweigend verrinnen, bis er hinzufügte: »Wenn du sie mir gibst, dann bekommst du auch etwas dafür.«
Es war ihm klar, daß der Reiz des Geldes für ein Kind nicht genügen würde; schon die ganze Zeit hatte er überlegt, was er ihr wohl außerdem anbieten könnte. Richard nahm einige Münzen aus seiner Börse und ließ sie im Licht der Nachmittagssonne glitzern.
»Die hier … und eine Reise.«
»Eine Reise?« fragte das kleine Mädchen überrascht.
»Du warst doch noch nie in Rom, oder? Ich könnte dich auf dem Schiff, mit dem ich gekommen bin, mitnehmen, und dann fährt es wieder mit dir zurück, ganz allein, nur für dich.«
Das war es; ihre Miene hellte sich auf, und schon bald war Richard nicht nur im Besitz des Reliefs, sondern das Mädchen wollte ihm auch, wenn er sein Versprechen wirklich eingelöst habe, noch verschiedene Stellen zeigen, wo, wie sie sich ausdrückte, ›zu große Sachen in der Erde liegen, um sie mitzunehmen‹.
Da Richard nicht wußte, ob und wann er wiederkommen würde, und vor Aufregung kaum noch still sitzen konnte, begann nun ein zähes Verhandeln mit dem Kind, dessen Fähigkeiten sich auch in Augsburg durchaus hätten sehen lassen können.
Die Rückfahrt nach Rom trat er mit einem Halbrelief, zwei Statuen und einem riesigen Flachrelief, das seine Männer ächzend unter den interessierten, aber verständnislosen Blicken der Ortsbewohner zum Hafen getragen hatten, an Bord an – begleitet von einem kleinen, sehr aufgeregten Mädchen.
Eigentlich hatte Richard mit Schwierigkeiten gerechnet, zumindest mit einigem Befremden der Eltern des Mädchens oder im Handelshaus, wo sie schließlich übernachten mußte, bevor das Schiff sie am nächsten Tag wieder nach Ostia brachte. Doch weder dort noch bei Zink, wo gleichzeitig mit ihm ein völlig abgehetzter Kurier aus Spanien eintraf, mußte er sich rechtfertigen.
»Wir haben natürlich das Lichtzeichensystem in Anspruch genommen und die Nachricht sofort übermittelt«, berichtete der Bote, »und die Kuriere ihrer Majestäten sind direkt hinter mir. Gewiß will Herr Fugger baldmöglichst wissen, wie der Heilige Vater entscheidet.«
»Was um alles in der Welt ist denn geschehen, Mann?«
»Erinnert Ihr Euch noch an diesen Genueser, den ihre Majestäten letztes Jahr mit drei Schiffen losgeschickt hatten? Er ist wieder da! Er hat tatsächlich den westlichen Seeweg nach Indien gefunden!«
Niemand dachte nach dieser Nachricht daran, sich an Richards kleinem Gast zu stören, und auch ihm selbst fiel es nicht ganz leicht, sich auf das Mädchen zu konzentrieren, bis es am nächsten Morgen glücklich und zufrieden wieder auf dem Weg nach Ostia war.
Er fragte sich, ob Jakob von der Expedition nach Westen gewußt hatte, als er die Heirat zwischen Maximilians Sohn und der Infantin arrangierte und sich nebenbei die Rechte in spanischen Häfen sicherte. Hatte Jakob auf den Erfolg dieses Unbekannten gesetzt? Es schwindelte Richard, wenn er an die Konsequenzen dachte. Wenn man tatsächlich von Spanien aus nach Indien gelangen konnte, dann würde ein großer Teil des Handels, der bisher über Venedig lief, uninteressant werden; um von den portugiesischen Stützpunkten in Afrika ganz zu schweigen.
Die portugiesische Gesandtschaft traf einen Tag nach der spanischen in Rom ein. Der König von Portugal nannte es schlichtweg unverschämt, daß Ferdinand und Isabella ganz Indien für sich beanspruchten, nur weil einer ihrer Kapitäne ein paar obskure Inseln, von denen noch kein Mensch vorher gehört hatte, entdeckt hatte, und verwies auf seine viel älteren Rechte durch die Ostroute. Immerhin hatten seine Kapitäne bereits die Südspitze von Afrika umrundet, auch wenn noch niemand gewagt hatte, den gesamten Weg zurückzulegen.
»Wem, glaubst du, wird der Papst wohl recht geben?« fragte Richard Mario, als sie wieder einmal in ihrer Lieblingstaverne saßen. Es bestand nicht die geringste Notwendigkeit, leise zu reden. Niemand in Rom sprach über etwas anderes. »Oder besser gesagt – was wird sich durchsetzen? Die spanische Herkunft oder das portugiesische Geld?«
Mario gestattete sich ein Schulterzucken. »Ich weiß es nicht. Die Portugiesen sind als Handelsmacht viel reicher, das stimmt, aber Ferdinand und Isabella haben eine hervorragende Armee, die sich zehn Jahre lang im Kampf gegen die Mauren bewährt hat.«
»Und was«, erkundigte sich Richard gedehnt, »hält Seine Eminenz, dein Kardinal, für das Wahrscheinlichere?«
»Das soll doch wohl hoffentlich kein Versuch sein, mich dazu zu verleiten, das Beichtgeheimnis zu brechen, Riccardo.«
Richard hob beide Arme. »Schon gut, schon gut, ich ergebe mich, San Mario. Natürlich wollte ich nichts aus der Beichte wissen. Glaubst du, mich interessieren die Seelennöte eines Siebzehnjährigen?«
»Selbstverständlich nicht, vor allem, weil du so viel älter bist.«
Mühsam unterdrückte Richard ein Grinsen, dann fuhr er fort: »Aber der eine oder andere Hinweis auf das, was im Haushalt des ehrwürdigen Kardinals so geredet … im Haushalt, Mario … ganz allgemein … kann doch nicht schaden, oder?«
»Das hat die Schlange zu Eva auch gesagt«, stellte Mario fest, und diesmal prusteten sie beide los. Es war eine Erleichterung, einmal nicht alles so ernst nehmen zu müssen und scherzen zu können wie früher in Florenz.
»Nein, wirklich«, sagte Mario, nachdem er wieder zu Atem gekommen war, »ich kann dir nichts verraten, Riccardo. Du wirst wie alle anderen warten müssen. Auf das eine oder andere. Oder beides.«
»Beides?«
Die Lösung, die Seine Heiligkeit, Papst Alexander, nach einer erstaunlich kurzen Zeit schließlich fand, war in der Tat salomonisch, auch wenn sie der portugiesische Gesandte als ›einen Kuhhandel zwischen zwei Katalanen‹ bezeichnete. Er entschied, daß Indiens und Asiens neuentdeckte Territorien entlang einer Linie zweihundertsiebzig Meilen westlich der Kapverdischen Inseln, von der südlichen Arktis zu der nördlichen Arktis zwischen Spanien und Portugal aufgeteilt werden sollten.
Richard hatte ursprünglich zumindest den Versuch unternehmen wollen, den Papst von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Hexenbulle zu widerrufen. Es wäre nicht allzu schwer gewesen, eine weitere Audienz zu erwirken. Doch seit dem Neujahrstag brachte er es nicht über sich, noch einmal in den Vatikan zu gehen. Er war sich nicht sicher, ob er sich würde beherrschen können, wenn er zufällig dem Sohn des Papstes begegnen sollte, und auch dessen Vater gegenüber traute er seiner Selbstbeherrschung nicht. Besser also, ein Gesuch zu verfassen.
Er entschloß sich, seine Bekanntschaft mit den Kirchenfürsten, denen er Skulpturen, Malerei oder Geschmeide vermittelte, weiter zu vertiefen, bis er einen von ihnen um den Gefallen bitten konnte, sein Gesuch zu überbringen. Giovanni de'Medici wäre wahrscheinlich schon jetzt dazu bereit gewesen, doch Richard war sich darüber im klaren, daß er einen einflußreicheren und gewichtigeren Fürsprecher als den kleinen Kardinal aus Florenz brauchte. Außerdem wollte er warten, bis ein Exemplar seines Buches aus Augsburg angekommen war, das er dem Gesuch beilegen konnte.
Inzwischen bemühten sich Richard und Saviya, wirklich Freunde zu sein, und da keiner von beiden krank oder abhängig vom anderen war, bewegten sie sich dabei auf einem neuen, wenn auch ständig gefährdeten Territorium. Aber langsam gewannen sie sicheren Boden, obwohl es Themen gab, die sie vermieden.
Richard stellte fest, daß Saviyas Neugier auf Bücher nicht nachgelassen hatte. Er machte sich auf die Suche nach anderen Bibliotheken neben der vatikanischen, die er bei aller Neugier nicht betreten konnte und wollte. Mario verwies ihn an die Klöster der Umgebung, die Richard eine Möglichkeit boten, immer wieder Zugang zur Welt des Wissens zu finden. Er schrieb sich viel mehr Stellen als vorher ab, um Saviya auch daran teilhaben zu lassen, und war überrascht, wieviel Zeit sie auf diese Weise harmonisch miteinander verbringen konnten.
Der Frühling ging fast schon in den Sommer über, als Richard bei einem Ausflug, den er mit Saviya machte, von der Vergangenheit wieder eingeholt wurde. Er hatte vorgeschlagen, einen Tag außerhalb von Rom zu verbringen, und Saviya, die zugab, sich mittlerweile oft von der Stadt bedrückt und eingesperrt zu fühlen, hatte begeistert zugestimmt.
Es war seltsam friedlich in dem kleinen Wäldchen, das sie schließlich fanden, und als Saviya ihre Schuhe auszog und über eine Lichtung auf den kleinen Bach zulief, der im Vergleich zu dem schlammigen, trägen Wasser des Tibers kristallklar wirkte, ließ sich Richard von ihr mitreißen, machte sich keine Gedanken mehr über Politik und Handel, spürte nichts als die reine Freude am Leben.
Sie sprachen nicht sehr viel, genossen einfach nur den Tag, und als Saviya anfing, mit der hohlen Hand Wasser zu schöpfen und Richard naßzuspritzen, waren sie bald wie Kinder in eine Wasserschlacht verwickelt, bis sie beide völlig durchnäßt im Bach landeten. Die Sonne stand in Saviyas Rücken und zeichnete ihre Linien mit der Schärfe eines Messers nach. Richard, der eben noch mit ihr gelacht hatte, sah sie an. In Saviyas Augen stand dieselbe staunende Gewißheit, daß dies wie durch ein Wunder ein neuer Anfang war. Sie öffnete ihre Lippen, streckte ihre Arme aus, doch noch ehe Richard sie berühren konnte, hörte er Hufgetrappel und eine wohlbekannte Stimme höhnisch sagen:
»Was für ein rührender Anblick! Ist das die Auferstehung alla tedesca?«
Beide schraken zusammen und blickten zum Ufer. Vor ihnen stand, hoch zu Roß und in Jagdkleidung, Fabio Orsini mit einigen Begleitern. Saviyas Hand fuhr unwillkürlich an ihre Taille, zu dem Dolch, den sie dort trug. Richard hatte im ersten Impuls dieselbe Bewegung machen wollen, doch er hatte sie unterdrückt. Fabio Orsini und seine Leute wären leicht mit einem Dutzend Männer fertig geworden. Innerlich verfluchte Richard den Zufall, der Orsini hierher geführt hatte – oder war es kein Zufall gewesen? Wie dem auch sein mochte, nichts hinderte Fabio Orsini, nun seinen vereitelten Mordversuch zu wiederholen.
»Man könnte meinen, ich sei Äkteon«, sagte Fabio zu seinen Gefährten. »Reite nichtsahnend durch den Wald, und dann ein so reizender Anblick. Wie wär's, Messer Riccardo, wollt Ihr mir Eure kleine Begleiterin nicht vorstellen?«
»Ich sehe keinen Grund«, erwiderte Richard kühl und hoffte, daß Saviya ihn verstand. Orsini durfte sie nicht sprechen hören. Er mußte versuchen, Orsinis Aufmerksamkeit ganz und gar von ihr abzulenken. Richard entschied in plötzlicher Resignation, daß er diesen Tag wahrscheinlich nicht überleben würde, aber er konnte wenigstens versuchen, die Vorliebe des anderen für ein Katz-und-Maus-Spiel auszunutzen, um Saviya zu retten.
»Sie ist unwichtig, nur die Unterhaltung eines vielbeschäftigten Mannes«, sagte er laut.
Fabio Orsini schnalzte mißbilligend mit der Zunge. »Aber nicht doch, nicht doch, wie unritterlich. Wie barbarisch. Doch Ihr seid kein Mann von Stand, Ihr könnt nicht wissen, wie man bei uns eine Dame behandelt.«
Er schwang sich aus seinem Sattel und ging auf Saviya zu. Der Bach war nicht sehr tief, und mit ein paar Schritten hatte er sie erreicht. Richard machte eine Bewegung, und schon war ein halbes Dutzend Armbrüste auf ihn gerichtet. Die Begleiter Orsinis ließen ihn nicht aus den Augen.
»Ihr befindet Euch da in schlechter Gesellschaft, Madonna«, begann Fabio Orsini, dann stutzte er. Langsam hob er eine Hand, griff grob unter Saviyas Kinn und drehte es der Sonne entgegen. »Ich kenne Euch«, murmelte er, »und …«
Er schaute zurück zu Richard, und allmähliches Begreifen flackerte in seinen Augen auf. In diesem Moment zog Saviya ihren Dolch und hielt ihn Fabio Orsini an die Kehle. »Befehlt Euren Männern, sofort von hier zu verschwinden«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor, »oder Euer wohledles Blut verfärbt hier den Bach!«
»Das würdet Ihr nicht wagen!«
Richard trat zu ihr. »Ich würde nicht darauf rechnen«, sagte er knapp, »wenn ich Ihr wäre.«
Zum zweiten Mal in seinem Leben von Niedriggeborenen gedemütigt, befahl Fabio Orsini seinen Begleitern mit vor Wut erstickter Stimme, sich zurückzuziehen. Dann sagte er mit etwas mehr Selbstbeherrschung:
»Es ist Euch doch klar, daß Ihr niemals damit durchkommen werdet. Ich habe Euch einmal unterschätzt, zugegeben, aber jetzt weiß ich Bescheid, und für diese Beleidigung werde ich Euch beide tot sehen – und wenn es das letzte ist, was ich vollbringe!«
»Es könnte das letzte sein, was Euch droht«, gab Richard kalt zurück, »denn wer sagt Euch, daß wir der Welt nicht einen Gefallen tun und sie von Menschen wie Euch befreien werden?«
Das brachte Fabio Orsini zum Schweigen. Er ließ sich mit Saviyas Gürtelband die Hände fesseln und sagte kein Wort, bis sie mit ihm als Geisel wieder an den Stadtgrenzen angelangt waren.
»Nun?« fragte Saviya Richard sachlich. »Warum bringen wir ihn nicht um?«
»Weil wir uns damit auf seine Stufe begeben würden«, antwortete Richard. »Laß ihn laufen.« Etwas leiser setzte er hinzu: »Wir sind keine Mörder.«
»Das hat dir keine Sorgen gemacht, als du dieses Spiel angefangen hast, mit unserem Leben als Einsatz«, flüsterte sie wütend zurück. »Jetzt muß er sterben, und er verdient zu sterben.«
Richard schüttelte den Kopf, und sie verzog den Mundwinkel. »Oh, ich verstehe. Mario, stimmt's?«
Fabio Orsini blickte, soweit es ihm Saviyas Dolch gestattete, von einem zum anderen und entschied sich, seinen Appell an Richard zu richten.
»Bringt mich um«, sagte er nicht ganz so gelassen, wie er es sich gewünscht hätte, »und meine Familie wird dafür sorgen, daß Ihr noch vor Morgengrauen tot seid, Ihr und die Euren, wie die Gesetze der Vendetta es verlangen. Meine Begleiter kennen Euch jetzt beide. Euer jämmerliches Krämerloch wird sich nicht gegen unsere Leute verteidigen lassen, und was sie angeht …«
»An Eurer Stelle würde ich den Mund halten, Orsini«, schnitt ihm Richard das Wort ab. »Ich kann sonst nämlich Saviya nicht zurückhalten, und ich hätte auch nicht die geringste Lust dazu. Was Eure Vendetta angeht, Ihr scheint zu vergessen, daß ich auch eine Familie habe. Tötet mich und Saviya, und mein Onkel wird jeden Wechsel aufkaufen, den je ein Orsini unterschrieben hat, bis Ihr alle ruiniert seid.«
Diese Drohung war zwar völlig aus der Luft gegriffen, doch Fabio Orsini, von der römischen Gesetzeswelt der Familie und Vendetta geprägt, gab sich wortlos geschlagen, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
Richard sagte absichtlich gleichgültig: »Laß ihn gehen, Saviya.«
Einen Augenblick lang zitterte ihre Klinge noch über Fabio Orsinis Haut, dann zog sie ihren Arm zurück und gab ihm gleichzeitig einen erbitterten Stoß. »Also schön. Wie du willst, Riccardo.«
Fabio Orsini war von Richards guten Absichten offensichtlich weniger überzeugt als sie, aber er brauchte nicht lange, um sich aufzurappeln und wenig würdevoll davonzulaufen.
»Großartig, Gorgio. Jetzt kennt er auch noch meinen Namen. Wenn ich du wäre«, sagte Saviya zornig, während sie ihm nachschaute, »würde ich von jetzt an eure Handelshöfe nicht mehr verlassen. Und rechne nicht damit, daß ich dich dort besuche. Ich will nämlich überleben!«
Zu Richards Überraschung wartete Mario auf ihn, als er schlechtgelaunt zurückkehrte. »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden«, sagte der Mönch. »Giovanni will so schnell wie möglich nach Florenz zurück.«
»Was ist denn geschehen?« erkundigte sich Richard ohne allzuviel Anteilnahme, so daß Mario die Stirn runzelte. »Hast du noch nichts davon gehört? Ferrante ist tot.«
Normalerweise wäre Richard sofort klar gewesen, was das bedeutete, aber in Gedanken bei Saviya und der Möglichkeit, demnächst doch noch von den Orsinis ertränkt zu werden, fragte er nur: »Und?«
Diese Reaktion ließ Mario aufhorchen. Irritiert erwiderte er: »Das bedeutet beinahe sicher Krieg. Piero unterstützt den Anspruch von Ferrantes Sohn Alfonso, ebenso der König von Aragon, der schließlich Ferrantes Vetter war, und Lodovico Sforza hat bereits deutlich gemacht, daß er den französischen König für den rechtmäßigen Erben hält. Diesmal wird der Heilige Vater sich zwischen ihnen entscheiden müssen. Aber ganz gleich, wen er wählt, der andere wird versuchen, sich mit Waffengewalt sein Recht zu verschaffen.«
Richard sagte nichts, bis Mario fragte: »Was hast du, Riccardo?«
Dies war ganz gewiß nicht der Moment, um von einem Streit mit Saviya und vagen Befürchtungen wegen dieses Schurken Fabio Orsini anzufangen, dachte Richard, und wollte den Freund mit einem Achselzucken beschwichtigen.
»Du wirst es nicht glauben, ich dachte an Fra Girolamo Savonarola und seine Prophezeiungen. Er hat auf die Wahrscheinlichkeit gesetzt und gewonnen, nicht wahr? Der dritte Tyrann ist nun tot. Wie wird Piero eigentlich mit Savonarola fertig?«
Er war sich nicht sicher, ob Mario ihm diese Antwort abnahm. Die vertrauten blauen Augen, die viel zu gut und zu tief sahen, blieben grübelnd auf Richard gerichtet, während Mario sagte: »Das ist der zweite Grund, warum Giovanni sofort zurückwill. Savonarola hat auf die Nachricht von Ferrantes Tod seine alte Prophezeiung erneuert. Er gemahnt, daß nicht nur Florenz, sondern ganz Italien durch einen Strom von Feuer und Blut gereinigt werden wird, und als den rächenden Engel, der diesen Feuerstrom bringen wird, nannte er den König von Frankreich. Daraufhin hat Piero ihn nach Bologna verbannt, und …«
»Savonarola ist nicht gegangen«, vollendete Richard.
Selbstverständlich beschränkte er sich nicht auf den engen, verhältnismäßig sicheren Bezirk der Handelshöfe. Dort war er nicht nützlicher als ein besserer Schreiber, und er hatte auch nicht die Absicht, sich von Fabio Orsini seine mühsam erworbenen römischen Geschäftsbeziehungen ruinieren zu lassen. Im übrigen waren die Orsini im Moment selbst zu sehr in Bedrängnis, um sich mit einem unwichtigen Kaufmann zu beschäftigen. Bei einem der geschwätzigeren päpstlichen Hofmeister mit einer Vorliebe für teures Geschmeide erfuhr Richard die neuesten Gerüchte.
»Gestern haben Kardinal Orsini, Virginio Orsini und einige der Jungen doch tatsächlich um eine Audienz ersucht. Ersucht, man beachte! Gewöhnlich kommen sie nur in den Vatikan, um Forderungen zu stellen.«
Der Hofmeister stammte wie sein Herr aus Aragon, war daher oft genug von dem römischen Adel herablassend behandelt worden und hegte keine übergroßen Sympathien für die Grafen Orsini, Colonna oder auch für die anderen einflußreichen Familien des Apennin. Folglich genoß er es sichtlich, ein wenig Klatsch über sie zu verbreiten.
»Der alte Virginio machte nach der Audienz ein Gesicht wie ein Feinschmecker, dem jemand einen alten Hering verkauft hat. Überhaupt laufen derzeit viele Leute mit unzufriedenem Gesicht in Rom herum, wie zum Beispiel unser verehrter Giovanni Sforza. Seid Ihr dem Grafen Pesaro schon einmal begegnet, junger Freund? Nein? Also, als Giovanni Sforza war er vielleicht eine erstrebenswerte Partie für Madonna Lucrezia, aber seit der Heirat hat sich einiges geändert, könnte man sagen. Einiges.«
»Es ist meine feste Überzeugung«, schrieb Richard in dieser Nacht an Jakob, »daß der Papst die Ansprüche von Ferrantes Sohn Alfonso bestätigen wird und daß einer der Gefallen, die ihm Alfonso dafür erweist, darin besteht, Virginio Orsini das Kommando über das neapolitanische Heer und den Orsini insgesamt seine Unterstützung zu entziehen, was diese ohne militärischen Rückhalt läßt und dazu zwingen dürfte, sich vorerst den Borgia zu beugen.
Ob Charles von Frankreich tatsächlich Krieg führen wird, um Neapel zu bekommen, dürftet Ihr besser wissen als ich, aber die Beziehungen zwischen den Sforza und dem Papst verschlechtern sich zusehends. Kardinal Ascanio Sforza ist aus dem Palazzo ausgezogen, den ihm der Papst nach seiner Wahl überlassen hat, und der Graf von Pesaro, Giovanni Sforza, wird dem Klatsch zufolge von seiner angeheirateten Familie mehr und mehr als überflüssig betrachtet.«
Es dauerte nicht lange, und seine Vermutung erwies sich als richtig. Als der Sommer mit seiner drückenden Hitze in Rom Einzug hielt, wies Alexander den Anspruch des französischen Königs, begründet auf seine Verwandtschaft mit Charles von Anjou, der vor fast zweihundert Jahren das Königreich Neapel als päpstliches Lehen empfing, als längst überholt zurück.
Richard fragte sich, wie sich wohl König Max zu der ganzen Entwicklung stellen würde. Einerseits haßte Maximilian Charles von Frankreich wie die Pest, andererseits war er mit einer Sforza verheiratet und hatte gewisse Bündnisverpflichtungen Mailand gegenüber. Es war genau die Art von verwickelter Situation, bei der der König fluchend den Rat seines wichtigsten Geldgebers in Augsburg einholen würde. Und was läge im Interesse des Unternehmens? Ganz bestimmt keine Konfrontation mit dem Papst. Es sei denn, der König von Frankreich würde Sieger auf ganzer Linie.