31
DER FRÜHLING IN FLORENZ wollte sich in diesem Jahr einfach nicht einstellen; es war, dachte Mario Volterra und rieb sich die kalten Hände, als trauerte selbst die Natur. Niemand in der Villa der Medici in Careggi machte sich noch Illusionen über Lorenzos Gesundheitszustand; Il Magnifico lag im Sterben, und als er sich im März in das alte Landhaus seiner Familie zurückzog, folgten ihm seine Freunde dorthin. Mario selbst war von Pico della Mirandola um seine Anwesenheit gebeten worden. Pico hatte sich Savonarolas wegen endgültig mit den übrigen drei Platonikern zerstritten und hatte auf Marios Vorschlag hin einige Wochen in Santo Spirito verbracht, wo ihn die Nachricht von Lorenzos Aufbruch nach Careggi erreichte. Nun lag über dem alten Haus eine drückende Stille, die Mario mit der Zeit immer unerträglicher schien. Erst gestern hatte Lorenzo, der immer noch bei vollem Bewußtsein war, mit seinem gewohnt scharfen Witz gesagt: »Ihr seht, meine Herren, ein Fremder ist in mein Haus getreten, doch er hält es nicht für nötig, mich aufzusuchen.«
Mario blinzelte unwillkürlich und versuchte, das Brennen der aufsteigenden Tränen zu ignorieren. Nur Lorenzo de'Medici war imstande, sich noch über sein Warten auf den Tod lustig zu machen, und es war eine Gnade Gottes, daß er so sterben konnte, wie er gelebt hatte. Die zusammengefallene Gestalt des alten Marsilio Ficino drängte sich plötzlich an Mario vorbei, und der Mönch lehnte sich gegen die Wand des Zimmers, in dem sie alle warteten, um Ficino nicht den Weg zu versperren. Er spürte die rauhen Backsteine unter seinen Händen, und dachte plötzlich, wie seltsam es war, daß Lorenzo nicht nach Poggio a Caiano gegangen war, der Villa, die er selbst entworfen und die immer sein Lieblingsaufenthalt außerhalb von Florenz gewesen war. Das Haus in Careggi dagegen war verhältnismäßig klein und schon lange im Besitz der Medici – die Villa einer erfolgreichen Kaufmannsfamilie, die vor etwa hundert Jahren zu Geld gekommen war.
Oder doch nicht so seltsam. Der alte Cosimo de'Medici war hier gestorben, in Anwesenheit von Marsilio Ficino, wie sich Mario nun erinnerte. Wahrscheinlich war der alte Philosoph deswegen hinausgestürzt, weil er es nicht mehr ertragen konnte, noch einen geliebten Gönner zu verlieren. Vielleicht hatte Lorenzo am Ende zu seinen Ursprüngen zurückkehren wollen; Mario warf einen Seitenblick auf Piero de'Medici, der mit seinen Geschwistern neben Lorenzos Lager kniete. Am Vormittag hatte Lorenzo alle Anwesenden hinausgeschickt, um zwei Stunden lang alleine mit Piero zu sprechen, und danach hatte der junge Mann sich für einige Zeit entschuldigt. Er war erst vor ein paar Minuten zurückgekehrt und sah immer noch ein wenig mürrisch aus, was allerdings, wie Mario zugeben mußte, bei Piero keine Seltenheit war.
Neben ihm zuckte Pico della Mirandola zusammen, als Poliziano sich ihnen näherte. »Pico«, sagte der Dichter sehr ernst, »wäre es nicht Zeit, sich zu versöhnen – jetzt? Lorenzo hat mir gerade gesagt, er möchte uns beide wieder zusammen sehen.«
Im letzten halben Jahr hatte sich Pico in einen hageren Asketen nach Art Savonarolas mit fast kahlgeschorenem Haupt verwandelt. Mario konnte beobachten, wie der Gelehrte errötete und vernehmlich schluckte. Im Moment fehlte ihm allerdings das Mitleid mit Picos Seelenqualen. Wenn er sich noch nicht einmal an Lorenzos Totenbett zu einer Versöhnung überwinden konnte, dann war sein Ringen um wahres Christentum ohnehin umsonst. Mario bat Poliziano, sie kurz zu entschuldigen, zog Pico beiseite und sagte in beschwörendem Flüsterton zu ihm: »Weise jetzt Polizianos Hand zurück, und du wirst es dir dein Leben lang nicht verzeihen können!«
»Er hat Fra Savonarola einen machthungrigen Scharlatan genannt!«
Mario erwiderte nichts, sondern schaute Pico nur unverwandt an, bis seinem ehemaligen Mentor und Freund abermals das Blut in die Wangen stieg. Pico wandte sich ab, holte kurz Luft und trat dann auf Poliziano zu.
»Angelo«, sagte das ehemals jüngste Mitglied der Universität von Florenz, »verzeih mir.«
Poliziano umschloß seine Hand, und gemeinsam traten sie vor Lorenzo hin. Der Herr von Florenz schaute mit einem schwachen Lächeln zu ihnen auf.
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, wisperte er mühsam. »Die beiden stursten Köpfe von Florenz. Zu schade, daß ich nicht öfter als einmal sterben kann. Ich wollte nur, der Tod hätte mich verschont, bis ich eure Bibliotheken vervollständigt hätte.«
Nun weinte Poliziano offen, und Mario biß sich auf die Lippen. Das ist nicht gerecht, dachte er und haderte mit seinem Gott wie ein rebellisches Kind. Das ist nicht gerecht. Lorenzo ist erst dreiundvierzig, und wir brauchen ihn. Wir brauchen ihn.
Aus dem benachbarten Raum drang Lärm und erregtes Gemurmel. Mario blickte zur Tür und erstarrte, als Fra Girolamo Savonarola hereinrauschte, unbekümmert um den Aufruhr, den er verursachte. Er faßte sich schnell und trat der schwarzen Gestalt in den Weg, als wolle er sie aufhalten. Er wußte nicht, wie oder warum Savonarola hierhergekommen war, und es war ihm auch gleichgültig.
»Bruder«, sagte er so höflich wie möglich zu dem Dominikaner, »dies ist nicht der Zeitpunkt für eine weitere Predigt über Tyrannei.« Dann brach seine mühsame Zurückhaltung zusammen, und er setzte erbittert hinzu: »Habt Ihr nicht schon genug angerichtet?«
Die Augen des Priors von San Marco verengten sich, als er Mario wiedererkannte. Mit einer hochmütigen Kopfbewegung wies er auf das Bett. »Er«, sagte Savonarola, »hat um meine Anwesenheit gebeten, und wie Ihr wißt, Bruder, haben wir nicht das Recht, einem Sterbenden unseren geistlichen Beistand zu verweigern, selbst wenn es sich um einen verbrecherischen Tyrannen handelt.«
Mario wollte gerade aufgebracht antworten, daß Lorenzos Beichtvater ihm bereits die Absolution und die letzte Ölung erteilt hatte, doch das Oberhaupt der Familie Medici selbst unterbrach ihn. »Fra Girolamo, seid Ihr das?«
Mit einer einzigen Handbewegung schob der Dominikaner Mario beiseite und trat an das Bett. Aus den Mienen der Medici-Kinder sprach Abneigung, bei Piero sogar Haß, doch sie machten ihm Platz. Er kniete nicht nieder, sondern blieb vor dem liegenden Lorenzo stehen, streifte langsam seine Kapuze herunter.
»Ihr habt mich gerufen.«
»Ich möchte in Frieden mit allen Menschen sterben, Padre, auch mit meinen Feinden.«
Savonarola mußte sich ein wenig vorbeugen, um Lorenzos geflüsterte Worte zu verstehen, und in Mario, der wußte, daß Il Magnifico zwar nicht nachtragend war, aber durchaus über einen etwas boshaften Sinn für Humor verfügte, tauchte plötzlich der Verdacht auf, daß Lorenzo absichtlich so leise sprach. Es sähe ihm ähnlich. Doch er schob den Gedanken schnell wieder beiseite. Lorenzo war in seinem Zustand gewiß jenseits aller Ironie, auch wenn Savonarola sich von Satz zu Satz ein wenig tiefer beugen mußte.
»Ich bin nicht Euer Feind, Lorenzo de'Medici«, entgegnete der Mönch mit einem Unterton von Empörung, »das wäre unchristlich. Ich mißbillige nur Eure Taten.«
»Dann gewährt mir Euren Beistand vor Gott, Padre.«
»Haltet fest am Glauben.«
»Das tue ich.«
»Bessert Euch.«
»Ich will es versuchen.«
»Begegnet Eurem Tod, wenn es soweit ist, mit Mut.«
»Ich bin bereit, wenn es Gottes Wille ist, daß ich sterben soll.«
»Dann werden Euch Eure Sünden vergeben.«
»Gebt mir Euren Segen, Vater.«
Die schwarze Gestalt, die sich über Lorenzo de'Medici beugte und das Kreuz schlug, erinnerte Mario an einen düsteren Unglücksvogel, doch er spürte auch, wie seine Achtung vor Savonarola wieder stieg. Ganz gleich, wie erbittert der Dominikaner Lorenzo bekämpft haben mochte, er hatte davon abgesehen, diesen Kampf bis an die Schwelle des Todes zu tragen, und sich auf die wichtigste Aufgabe eines Priesters besonnen: Mittler zu sein zwischen Gott und den Menschen und den Leidenden caritas zu zeigen, Nächstenliebe.
Mario hatte sich während der Tage in Careggi bemüht, die allgegenwärtige Trauer nicht an sich heranzulassen; er war hier, um zu trösten, nicht, um selbst in Klagen zu versinken. Aber als er Savonarola schließlich gehen sah und Lorenzos immer kürzer werdenden Atemzügen lauschte, wünschte er sich nichts so sehr wie die Freiheit, wie Angelo Poliziano, Pico oder die übrigen Medici um Lorenzo weinen zu können. Und nicht nur um Lorenzo, sondern um das Florenz seiner Jugend, das mit ihm starb, denn Mario wußte, daß nun nichts mehr so sein würde wie früher.
Es dauerte nicht mehr lange. Als Lorenzo aufhörte zu atmen, knieten alle Anwesenden nieder, um zu beten. Danach zogen sich die Platoniker, Mario und die Diener, die sich im Raum befunden hatten, zurück. Pico fragte nach Fra Savonarola, erfolglos. Der Mönch hatte Careggi bereits wieder verlassen.
Auch Mario wollte sich am nächsten Tag wieder nach Florenz begeben, als er zu seiner Überraschung von Giovanni de'Medici aufgesucht wurde. Da Lorenzos zweiter Sohn mit sechzehn Jahren sein Kardinaliat angetreten hatte, kniete er ein wenig widerstrebend nieder, doch Giovanni winkte ab.
»Laßt nur, Fra Mario, ich weiß doch, wie lächerlich das wirkt. Ihr braucht auch nicht Eminenz zu mir zu sagen.«
»Jedenfalls fühle ich mich geehrt durch Euren Besuch«, sagte Mario freundlich und erhob sich wieder. Giovanni gehörte zu den liebenswerteren unter den Medici-Sprößlingen; trotz seiner frühen kirchlichen Würden hatte er nichts von der Arroganz seines Bruders Piero. Er war umgänglich und gebildet wie alle Medici, liebte Feste und Jagdausflüge, aber gemessen an den Extravaganzen mancher älterer und verdienterer Kirchenfürsten war diese Neigung durchaus harmlos.
»Ich habe gesehen, wie Ihr Euch gestern Fra Savonarola in den Weg gestellt habt«, erklärte Giovanni de'Medici, »und ich wollte Euch dafür danken. Und Euch ein Angebot machen. Es sieht nicht so aus, als ob Pico noch bei uns bleibt, und ich glaube nicht, daß er weiter mit Euch verkehren wird, wenn Ihr Euch nicht bedingungslos für Savonarola entscheidet.«
Damit hatte Mario nicht gerechnet. Hinter der Fassade des dicklichen, gutmütigen Jungen verbarg sich offensichtlich ein scharfer Beobachter. Mario seufzte.
»Ich wünschte, ich könnte Euch da widersprechen«, sagte er niedergeschlagen, »aber ich kann es nicht. Für Pico gibt es jetzt nur noch eine Autorität: Savonarola.«
Giovanni scharrte mit dem Fuß auf dem Boden, dann blickte er auf und sah Mario direkt ins Gesicht. »Und Ihr? Zu wem werdet Ihr halten?«
»Ich dachte«, erwiderte Mario mit leisem Vorwurf, »die Zeit der Vendetta sei in Florenz vorbei.«
Schlagartig wirkte Giovanni wieder so jung, wie er war. »Tut mir leid«, sagte er verlegen. »Ich wollte das ganze nicht wie einen Krieg darstellen. Es ist nur – Piero hat uns heute morgen zusammengerufen, und es kam beinahe zum Streit, als er uns sagte, was jeder von uns zu tun hätte. Nun, ich gehe nach Rom. Ihr wißt, daß der Heilige Vater ebenfalls im Sterben liegt, und Piero will unbedingt, daß ich dort bin, um meine Stimme abzugeben, bei der Konklave, meine ich. Und ich würde mich freuen, wenn Ihr mich begleitet.«
Mario setzte sich auf die einzige Truhe im Zimmer und versuchte seine Gedanken zu sammeln. »Warum ich?« fragte er schließlich. Giovanni setzte sich neben ihn, und der Anblick des Jungen, der die Füße von der Truhe baumeln ließ, erinnerte Mario wieder daran, wie jung dieser Kardinal doch war.
»Aus mehreren Gründen«, antwortete Giovanni offen. »Zum einen hat mein Vater viel von Euch gehalten, das weiß ich. Zum anderen werden mir in Rom zwar genügend römische Geistliche zugeteilt werden, aber ich brauche jemanden aus Florenz, einen Berater, dem ich vertrauen kann. Und«, schloß er mit einem kleinen Lächeln, »ich brauche einen gestrengen Beichtvater, der mich an meine priesterlichen Pflichten erinnert. Deswegen glaube ich, Ihr seid mein Mann.«
Giovanni, stellte Mario für sich fest, hatte von seinem Vater auf alle Fälle die Kunst geerbt, Menschen für sich einzunehmen. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr kam er zu der Überzeugung, daß es richtig war, Giovannis Angebot anzunehmen. Schließlich handelte es sich um keinen endgültigen Abschied von Florenz, im Gegenteil, Giovanni würde die Stadt regelmäßig besuchen, und der Junge hatte recht: Er brauchte vertrauenswürdige Leute um sich, besonders in Rom. Vielleicht bot sich hier die Gelegenheit, etwas Gutes für Gott und die Kirche zu bewirken.
»Nun, falls es sich nur um eine edle Geste Eurer Eminenz handeln sollte«, meinte er, »dann seid gewarnt, ich habe nämlich die Absicht, Euer Angebot anzunehmen.«
»Gut!« Giovanni sprang von der Truhe herunter. »Dann habe ich gleich eine Aufgabe für Euch – als ich wegging, stritt Piero nämlich gerade fürchterlich mit Contessina, weil er will, daß sie den jungen Ridolfi heiratet, sowie die Trauerzeit vorbei ist. Ich finde es gemein von ihm, heute schon damit anzufangen, kaum daß Vater … Aber könnt Ihr mir verraten, wie ich ihm das sagen soll, ohne selbst einen Streit mit ihm zu beginnen?«
Richard konnte sich nicht entscheiden, ob er Rom nun ausnehmend schön oder ausnehmend scheußlich finden sollte. Allein die ungeheure Größe der Stadt machte ihm zu schaffen; Florenz war dagegen ein überschaubares Nest gewesen. Dann schien Rom auch viele Städte in sich zu vereinigen, und alle waren widerspruchsvoll – inmitten eines Straßenzugs armseliger, zum Teil schon verfallener Häuser konnte ein prunkvoller Palazzo auftauchen, und neben einer Kirche standen unbeachtet die Überreste eines antiken Tempels. Wenn etwas Rom kennzeichnete, dann war es wohl das Wort ›Überreste‹; er hatte noch nie so viele Ruinen gesehen, soviel Schutt, und beileibe nicht nur von antiken Bauwerken, sondern auch von Häusern, die wegen ihrer Baufälligkeit längst verlassen, jedoch nie abgerissen worden waren. Man ließ sie einfach einstürzen, und die Nachbarn holten sich, was sie an Steinen und Holz gebrauchen konnten.
Auch der ganz gewöhnliche Straßendreck ließ sich mit Florenz nicht vergleichen, noch nicht einmal mit Augsburg: Richard vermutete, daß der Abfall, den die Römer ohne jede Vorsichtsmaßnahme vor ihren Häusern auf die Straße kippten, eine ideale Brutstätte für allerlei Ungeziefer darstellte. Wenn er jemals eine schmutzige und vom Verfall gekennzeichnete Stadt erlebt hatte, dann war es Rom.
Und doch …
Das Kolosseum, die Triumphbögen, die Säulen mit ihren ionischen, dorischen oder korinthischen Kapitellen, der ägyptische Obelisk, der plötzlich vor ihm auftauchte – er konnte nicht anders, als dem Zauber der Vergangenheit erliegen, der hier so stark war wie in keiner anderen Stadt.
Nur daß er nicht hier war, um ehrfürchtig römische Bauwerke zu bewundern, dachte Richard und empfand erneut die Mischung aus Groll und Zuneigung, die Jakob stets in ihm auslöste. Er war hier, weil Jakob ihn halb überredet, halb bestochen hatte, in Rom für das Unternehmen zu arbeiten. Natürlich hatte er sofort nach seiner Ankunft versucht, im Vatikan Jakobs Brief über Heinrich Institoris loszuwerden, mußte aber die Erfahrung machen, daß dergleichen zur Zeit unmöglich war. Eine Anzeige gegen einen Inquisitor konnte nur vom Papst entgegengenommen werden, und der Papst lag im Sterben. Man erzählte sich, und in seinem ersten Brief nach Augsburg gab Richard diese Gerüchte in verärgerter Ausführlichkeit weiter, daß er nur noch von menschlicher Muttermilch ernährt werden konnte, daß sein jüdischer Leibarzt ihn mit dem Blut dreier zehnjähriger Kinder behandele, daß ihn nur noch ein Horn vom Einhorn heilen könne – kurz, das Geschwätz in der Stadt kannte keine Grenzen. Und der gesamte kirchliche Verwaltungsapparat stand so gut wie still, wartete, wartete auf seinen neuen Gebieter.
Richard wußte nicht, ob Heinrich Institoris tatsächlich Ablässe gefälscht hatte, und traute Jakob durchaus zu, eine derartige Anschuldigung fingiert zu haben, aber das war ihm gleichgültig. Es zählte nur, daß man dem Inquisitor die Fälschungen nachweisen konnte. Richard hätte sich nie träumen lassen, einmal in der Lage zu sein, dem Mann, der seine Mutter verbrannt hatte, durch etwas anderes als durch ein Buch einen Schlag zu versetzen, aber nachdem ihm Jakob einmal das Instrument dazu in die Hand gegeben hatte, saß der Wunsch nach Rache wie ein Stachel in seinem Fleisch.
Während er also auf den Tod des Papstes wartete, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit den römischen Gegebenheiten vertraut zu machen. Johannes Zink war anders als der bärbeißige Eberding, ein wendiger, listiger kleiner Mann, für Richards Geschmack fast zu geschmeidig. Da Zinks eigentliche Aufgabe die Pfründenvermittlung und das Ablaßgeschäft war, fühlte er sich durch Richards Interesse für Goldschmiede, Bildhauer, Maler, Bücher und antike Kunstgegenstände nicht im geringsten gestört. Im Gegenteil, er begrüßte es, daß ihm jemand neue Möglichkeiten eröffnete, ohne ihm weitere Arbeit aufzuhalsen.
»Es stimmt schon, die Kardinäle legen in der letzten Zeit immer mehr Wert darauf, ein paar Statuen und Gemälde ihr eigen nennen zu können«, sagte er, nachdem er Richards Erörterungen aufmerksam gelauscht hatte, »seit Kardinal Piccolomini damit angefangen hat, ist es in Mode gekommen, und schließlich will sich keiner vom anderen ausstechen lassen. Doch ich fand einfach nicht die Zeit, um mich damit zu beschäftigen. Und um ehrlich zu sein, mir fehlt auch der Blick, um unter diesem ganzen Gerümpel etwas Reizvolles auswählen zu können.«
Die Schwierigkeit für Nichtrömer in Rom, insbesondere aber für Neuankömmlinge, lag darin, daß die Mächtigen und Reichen, wie auch die Kirchenfürsten, anders als in Florenz, keine Kaufleute waren, sondern samt und sonders Angehörige der alteingesessenen Adelsfamilien, die sich zwar untereinander befehdeten, die jedoch allesamt jedem Fremden grundsätzlich zutiefst mißtrauisch gegenüberstanden.
»Um in Rom dazuzugehören«, erklärte Zink, der sich damit abgefunden hatte, sich nur in kirchlichen Verwaltungskreisen bewegen zu können, »muß man entweder ein Colonna oder ein Orsini sein, oder zumindest einen von ihnen kennen. Was so gut wie unmöglich ist. Die Colonna sprechen nur mit den Orsini, wenn sie einander nicht gerade umbringen, und die Orsini sprechen nur mit Gott.«
Da er aber ohne Verbindung zu Roms herrschenden Kreisen weder genügend Kunden für Kunstwerke noch die für Jakob wichtigen Informationen finden konnte, zerbrach sich Richard tagelang den Kopf nach einer Möglichkeit, von den Colonna oder den Orsini empfangen zu werden. Dann begegnete er in der Nähe des Vatikans einem Pagen mit einem Medici-Wappen, und ihm kam der rettende Einfall. Er erinnerte sich dunkel, daß die Medici durch Heirat mit den Orsini verwandt waren. Von dem Pagen erfuhr er, daß Giovanni de'Medici, der junge Kardinal, sich in der Stadt aufhielt.
Mit Zinks Hilfe fand er heraus, daß Giovanni beim florentinischen Botschafter in Rom untergebracht war, und Richard spürte, als er dessen Palazzo betrat und von allen Seiten den vertrauten toskanischen Akzent statt des schärferen römischen Tonfalls hörte, eine unerwartete Welle der Wehmut in sich aufsteigen.
Als er in den belebten Innenhof des Palazzo trat und eine vertraute Mönchsgestalt wahrnahm, glaubte er zuerst, einer momentanen Sinnestäuschung zu erliegen, einer Halluzination, die seine Erinnerung an Florenz heraufbeschworen hatte. Doch der schwarzhaarige Priester drehte sich um, und Richard mußte sich zusammennehmen, um nicht laut seinen Namen zu rufen. Das Bild von Marios Verhalten im Zusammenhang mit Saviya war noch frisch genug, um zu schmerzen, doch mittlerweile war Richard zu der Überzeugung gelangt, Mario habe zumindest versucht, es ihm zu sagen. Warum sonst alle diese Anspielungen und Doppeldeutigkeiten, besonders auf ihrer Reise nach Ferrara? Er mußte sich eingestehen, daß er Mario gar nicht die Chance gegeben hatte, sich zu erklären. Und nun war Richard in seinen widerstreitenden Gefühlen gefangen und wußte nicht, was er tun sollte.
Mario dagegen war Florentiner und kein zurückhaltender Deutscher. Als er Richard sah, kam er unverzüglich auf ihn zu und umarmte ihn kurz und heftig.
»Riccardo, du teutonisches Ungeheuer, was machst du hier?«
Richard hatte sich zunächst etwas gesperrt, doch dann sprang er über seinen Schatten. »Das gleiche könnte ich dich fragen«, gab er so unbekümmert wie möglich zurück. »Gibt es in Santo Spirito keine Arbeit mehr für Übersetzer?«
»Vom Standpunkt des Gelehrten aus«, sagte Mario mit gewichtiger Stimme, »ist keine Bibliothek reizvoller als die des Vatikans – und keine erfordert mehr Fleißarbeit, allein wegen der Katalogisierung.« Er grinste. »Aber ganz im Ernst, Riccardo, ich bin natürlich noch aus einem anderen Grund hier. Seine Eminenz, der Kardinal, hat mir die Ehre erwiesen, mich als seinen Beichtvater auszuwählen.«
»Wer?«
»Seine ehrwürdige Eminenz, Kardinal Giovanni de'Medici«, sagte Mario mit undurchdringlicher Miene, die noch einige Sekunden anhielt, bis die Heiterkeit in seinem Gesicht durchbrach. Er legte Richard einen Arm um die Schulter und zog ihn mit sich.
»Nun komm schon, Riccardo. Wir haben eine Menge zu besprechen, und außerdem hast du mir immer noch nicht verraten, was du hier in Rom tust.«
»Dasselbe wie in Florenz«, erwiderte Richard mit schiefem Lächeln. »Ich mache mich für das Unternehmen Fugger nützlich.«
Mario blieb stehen, was in dem dichten Gedränge einige Leute fluchend auf ihn prallen ließ. Man konnte beinahe spüren, wie die freudige Beschwingtheit ihn verließ.
»Das Unternehmen Fugger«, sagte er leise, »beschäftigt sich in Rom, soweit ich weiß, hauptsächlich mit den übelsten Auswüchsen des kirchlichen Handelns.«
Bei aller Erleichterung darüber, Mario als Freund doch nicht verloren zu haben, war Richard noch nicht bereit, sich von ihm Vorwürfe machen zu lassen, und schon gar nicht in einem Punkt, der ihm selbst auf der Seele lastete.
»Gewiß«, entgegnete er kühl. »Unter anderem mit der Vermittlung von Pfründen, Bistümern und Kardinalshüten an Sprößlinge aus wohlhabendem Haus, die von ihren neuen Einkünften gewiß all ihre Angestellten bezahlen können. Was sollten wir darüber sagen oder doch lieber nicht sagen, Mario?«
Der Priester schwieg, obwohl es so aussah, als ob ihm eine Erwiderung auf der Zunge lag. Etwas versöhnlicher setzte Richard hinzu: »Im übrigen tue ich hier tatsächlich dasselbe wie in Florenz – ich beschäftige mich mit dem Goldschmiedehandel und versuche außerdem noch den Handel mit Kunstwerken zu beleben. Deswegen bin ich auch hier, weil nämlich …«
»Und das Wissen, Riccardo?« unterbrach ihn Mario bestimmt. »Was ist aus deinem Wissensdurst geworden?«
Richard schaute an ihm vorbei auf die Säulen der Loggia. »Vor meiner Abreise aus Augsburg«, sagte er langsam, als sei jedes einzelne Wort für ihn neu und müsse zuerst geprüft werden, »habe ich unser Buch veröffentlicht, Mario. Anonym, und es war nicht leicht, aber Jakob Fugger hat es mir ermöglicht, und deswegen …«
Mario schüttelte den Kopf. »Das Buch. Ist das denn alles, was Wissen dir bedeutet hat – Waffen gegen die Inquisition zu finden?« Er spürte sofort, daß er einen Fehler gemacht hatte, denn Richard machte sich mit einem Ruck los.
»Besser, Wissen zu erlangen, um Menschen zu retten«, sagte Richard, schneidend und unerbittlich wie eine Klinge, »als Wissen um des Wissens willen und sicher in seinem Skriptorium hocken und zulassen, daß andere durch ihre eigene Torheit verbrannt werden.«
Damit war es ausgesprochen, und Mario wußte, daß diesmal kein Weg an einem völligen Geständnis vorbeiführte, wenn er das empfindliche Freundschaftsband nicht erneut zerstören wollte.
»Also gut«, sagte er steinern. »Ich weiß, ich muß dir einiges erklären, aber nicht hier. Gehen wir hinein.«
Marios Zimmer in der überfüllten florentinischen Botschaft war zwar sehr klein, doch gemessen an seiner Mönchszelle in Santo Spirito ausgesprochen bequem eingerichtet, und er hatte auch Platz für die wenigen Bücher gefunden, die er mitgebracht hatte. Er forderte Richard auf, sich auf den einzigen Schemel im Raum zu setzen, und nahm selbst auf dem Bett Platz, dessen weiche Fülle ihm nachts ein gewisses schuldbewußtes Vergnügen bereitete.
Doch ehe er sich noch geräuspert und seine Erklärung begonnen hatte, flog die Tür auf, und ein erhitzter Giovanni de'Medici stürmte atemlos herein. Er mußte trotz seiner Körperfülle die Treppen hinaufgerannt sein und kam anscheinend direkt aus dem Vatikan, denn er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seine rote Kardinalsrobe abzulegen, obwohl er gewöhnlich weltliche Kleidung bevorzugte.
»Fra Mario, Ihr glaubt nicht, was eben … oh.«
Richard stand auf, und erst als Giovanni abwinkte, wurde ihm klar, daß er eigentlich niederknien und den Ring hätte küssen müssen.
»Ich kenne Euch doch«, sagte Giovanni, der ihn neugierig musterte. »Ihr seid der Tedesco, der meinem Vater das Leben gerettet … und diesen Streit mit Piero gehabt hat. Ich kann mich noch gut erinnern, Piero war noch tagelang wütend auf Euch.«
»Das tut mir leid … Euer Eminenz.«
»Mir nicht«, erklärte Giovanni gutgelaunt. »Wir fanden es ziemlich komisch, Giulio, Giuliano und ich. Aber was führt Euch nach Rom?«
»Der Handel, Euer Eminenz, und deswegen komme ich auch zu Euch. Die römischen Adeligen scheinen mir Fremdem gegenüber ein wenig … voreingenommen.«
Giovanni grinste breit. »Sagt lieber gleich, sie hassen alle Nichtrömer. Ich weiß es, glaubt mir – Florentiner sind hier nämlich fast so unbeliebt wie Katalanen. Ach, richtig!« Er wandte sich an Mario. »Das wollte ich Euch erzählen, Padre. Der Gesandte aus Mantua war dabei, also wird es in einer Stunde ohnehin in der ganzen Stadt herum sein, und so macht es nichts, wenn Euer Freund auch davon erfährt. Wir besuchten also heute alle den Heiligen Vater an seinem Krankenlager, und Kardinal Borgia bat ihn, die Schlüssel zur Engelsburg dem Kardinalskollegium zur sicheren Aufbewahrung zu übergeben. Ich finde das ziemlich vernünftig, denn was soll der Heilige Vater jetzt noch mit den Schlüsseln?«
Insgeheim fragte sich Mario, ob es Zufall oder Fügung war, daß Gott ihm noch einmal einen Aufschub gewährt hatte, aber er war in jedem Fall dafür dankbar und lauschte wie Richard aufmerksam dem immer noch ein wenig atemlosen Giovanni.
»Jedenfalls, der Borgia hatte noch nicht einmal ganz zu Ende gesprochen, als Kardinal della Rovere schon lauthals sagte: ›Heiliger Vater, Ihr werdet die Sicherheit unserer Stadt doch nicht einem Fremden anvertrauen, einem Katalanen, einem Marrano?‹«
Es schien, dachte Richard, als ob es für die Italiener immer noch die beliebteste Beschimpfung darstellte, jeden Abkömmling der Iberischen Halbinsel einen Marrano, einen getauften Juden, zu nennen. Abgestoßen und fasziniert zugleich hörte er Giovanni den Streit der Kardinäle vor dem sterbenden Papst beschreiben. Kardinal Borgia, berichtete Giovanni, habe erwidert, wenn sie nicht in der Gegenwart ihres Herrn, des Papstes, wären, würde er della Rovere zeigen, wer Vizekanzler der Kirche sei, worauf Kardinal della Rovere zurückgab, wäre nicht Seine Heiligkeit zugegen, dann würde er Borgia zeigen, daß er keine Angst vor ihm habe.
»Ich dachte wirklich, sie würden sich noch zum Zweikampf fordern«, schloß Giovanni fast enttäuscht, »aber dann griff Kardinal Sforza ein und erinnerte sie daran, daß sich derartig unwürdige Zänkereien für ihren Stand nicht schickten, und an diesem Ort schon gar nicht. Und das war es dann.«
Einmal mehr fiel Mario auf, daß Giovanni de'Medici bei aller Spontaneität sehr wohl darauf achtete, was er sagte. Der Streit zwischen den beiden Kardinälen war eine Sache, der Umstand, daß alle beide mittlerweile bei jedem Treffen des Kardinalkollegiums versuchten, durch Schmeicheleien, Versprechungen oder gar Drohungen so viele Stimmen wie möglich auf ihre Seite zu bekommen, eine andere, was Giovanni wohlweislich nicht erwähnte.
Richard legte eine ähnliche Mischung aus Unbekümmertheit und Selbstkontrolle an den Tag; er hatte sich bald mit Giovanni in eine Unterhaltung über die Kunstschätze des Vatikans und die Fremdenfeindlichkeit der Römer vertieft, steuerte auch einige Anekdoten über sein eigenes Ungeschick mit römischen Sitten bei, doch inmitten des Gelächters war das Ziel des Gespräches auch für Mario klar zu erkennen, und Richard verlor es nicht einen Moment lang aus den Augen. Schließlich erhielt er seine Einladung zu einem Abendessen, an dem auch einige Mitglieder der Familie Orsini teilnehmen würden. Bevor er sich in aller Form verabschieden konnte, sagte Mario hastig: »Euer Eminenz« – vor anderen gab er Giovanni stets seinen vollen Titel –, »ich habe Messer Riccardo lange nicht gesehen und hatte vor …«
»Schon gut«, sagte Giovanni nachgiebig, »schon gut. Ihr könnt ihn begleiten. Ich muß ohnehin noch meinen wöchentlichen Bericht an Piero schreiben.«
Während sie beide die enge, gewundene Treppe des römischen Palazzo hinuntereilten, warf Richard Mario einen nachdenklichen Seitenblick zu. Mario hätte jetzt die beste Gelegenheit gehabt, Pflichten vorzuschützen, um keine unangenehmen Erklärungen abgeben zu müssen, doch er hatte sie nicht ergriffen, im Gegenteil, hatte sie zurückgewiesen. Es mußte ihm wirklich an einer Aussprache gelegen sein. Dieser Eindruck vertiefte sich noch, als Mario zielstrebig den Weg zum Kolosseum einschlug und verbissen wie ein Soldat durch die belebten Straßen Roms marschierte, ohne einen Ton von sich zu geben. Auch Richard schwieg, und die Erinnerungen des letzten Jahres tauchten wie Treibhölzer eines untergegangenen Schiffs in ihm auf; einige drängten sich widerspenstig immer wieder zur Oberfläche, andere waren zu beschwert mit Schlamm und Algen, um emporgezogen zu werden.
Vor den Überresten des gewaltigen Amphitheaters kam Mario zum Stehen. »Die Römer«, sagte er zu Richard, »kommen kaum hierher – es heißt, daß es hier spukt. Also werden wir hier wohl ungestört sein.«
Richard erinnerte sich an die Nacht, in der er Mario gebeichtet hatte, auf der alten Bergfeste über dem Arno. Wenn Ihr es nicht über Euch bringt, Eure Geschichte einem Menschen zu erzählen, dann könnt Ihr sie dort der Stadt erzählen, Riccardo.
»Geister, Unsinn«, erwiderte er mit einem halben Lächeln. »Du hast einfach eine Vorliebe für dramatische Orte, Mario.«
Der Mönch entgegnete nichts, und sie betraten das Innere der Ruine. Warum auch noch andere Dinge außer Geistern die Römer von ihr abhielten, war sofort zu erkennen; die Fuhrleute, die Rom täglich mit frischem Gemüse und Obst belieferten, kippten hier ihre unbrauchbare und überschüssige Ware ab. Der süße, würgende Geruch von Fäulnis hing in der Luft und wirkte fast lähmend, während die beiden jungen Männer auf eine der übriggebliebenen Stützmauern der verschwundenen Sitzbänke kletterten.
»Du hast den Prozeß deiner Mutter nicht miterlebt, daher kennst du den Ablauf nur aus Beschreibungen«, sagte Mario unvermittelt. »Ich kenne ihn aus der Wirklichkeit. Bei einem solchen Prozeß war ich der Adlatus des Inquisitors, in Pisa, während meines Noviziats. Die Hexe war Saviyas Mutter. Ich weiß nicht, warum sie es dir nicht erzählt hat, am Schluß, als ich es nicht geschafft, noch nicht einmal richtig versucht hatte, dich aus der Stadt fernzuhalten. Sie hatte keinen Grund mehr, mich zu decken, außer vielleicht den, daß sie es deinetwegen tat.«
Einmal ausgesprochen, schienen sich die Worte zwischen ihnen aufzubauen wie eine Mauer; er konnte Richards Gesicht kaum mehr erkennen, es war, als hätten die vertrauten Züge sich in die Maske eines Fremden verwandelt. Mario spürte nichts, noch nicht einmal Schmerz, nur dumpfe Erleichterung, weil die Axt endlich gefallen war. Monoton fuhr er mit seiner Rede fort, berichtete von dem einen Jahr mit Bernardo di Pisa, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, eine Zigeunerin zu verbrennen, erzählte auch von dem, was Saviya über Richards Zukunft gesagt hatte.
»Sie liebt dich, Riccardo«, schloß er. »Was auch immer zwischen euch vorgefallen sein mag, ich bin sicher, daß sie dich hebt.«
»Vielleicht hat sie das einmal getan«, sagte Richard ausdruckslos.
»Vielleicht war es auch nur eine Schwärmerei, die sich ein Kind in den Kopf gesetzt hatte. Wie auch immer, ich habe nur noch eine Frage an dich: Glaubst du, daß Saviya eine Hexe ist?«
Eine Ratte huschte zwischen ihnen vorbei, doch keiner der beiden beachtete sie. Mario lauschte in sich hinein, suchte vergebens nach einer Offenbarung, einer Inspiration. Er war sich nur zu bewußt, daß mit dieser Frage das in der Waagschale lag, was von ihrer Freundschaft noch geblieben war. Aber er konnte nicht lügen, nicht mehr: Halbwahrheiten hatten schon genug Schaden zwischen ihnen angerichtet.
»Ich glaube nicht«, zwang er sich schließlich zu sagen, »daß sie einen Bund mit dem Teufel geschlossen hat. Aber ich glaube, daß sie über mehr Kräfte verfügt, als dem Verstand, der Ratio, zugänglich sind. Wie man das nennen soll, wenn nicht eine Hexe, weiß ich nicht.«
Richard schwieg und starrte auf den langsam verrottenden Abfall unter ihnen. Er dachte an die Verachtung, die er seinerzeit in Wandlingen für Bruder Albert und den Abt empfunden hatte, wohlmeinende Männer, die es nicht verstehen konnten, daß man ihnen ihre Schwäche zum Vorwurf machte. Vielleicht hätte er damals über Mario genauso gedacht, doch inzwischen war zuviel geschehen. Er war kein Kind mehr, er hatte selbst gelernt, wie schwer ein unerbittlicher gerader Weg einzuhalten war, er hatte selbst Zugeständnisse an die Wirklichkeit machen müssen. Und verminderte das, was ihm Mario erzählt hatte, die Hilfe und Freundschaft, die ihm der Priester fast vom Tag seiner Ankunft in Florenz an entgegengebracht hatte? Saviya war natürlich keine Hexe, ebensowenig wie ihre Mutter, doch wenn Mario das eingestände, dann erklärte er damit seinen verehrten Bernardo und sich selbst zu kaltblütigen Mördern, und dazu war er einfach nicht fähig. Richard verstand das mittlerweile nur zu gut. Es gab auch für ihn Dinge, über die er nicht nachdenken und die er sich selbst nicht eingestehen wollte. Sein Aufenthalt in Augsburg und das Zusammentreffen mit Mario, der noch immer beunruhigend scharfsichtig in dieser Beziehung war, hatten ihm das erneut klar gemacht.
»Mario«, sagte er beinahe heftig, und der Priester zuckte unwillkürlich zusammen, »mir ist gerade der beste Einfall seit langem gekommen.«
»Welcher?« fragte Mario mit gerunzelter Stirn.
»Gehen wir in die nächste Schenke und betrinken uns«, sagte Richard.