III
Die Blume der Hölle

15

DIE PFERDE WAREN NICHT gerade das, was man sich unter edlen Rössern vorstellt, aber die Ausdauer der Tiere, so versicherte Anton Eberding, machte die mangelnde Rasse mehr als wett. Überhaupt blieb wenig Zeit, darauf zu achten, so viele neue Eindrücke stürmten auf sie zu. Der Frühling hatte nach einem ungewöhnlich milden Winter bereits begonnen, Blüten und neue Sprößlinge aller Arten hervorzutreiben. Es schien, als habe sich die Erde geschmückt, um die Reisegruppe willkommen zu heißen, und sogar der Staub der Straße hatte einen Beigeschmack des Besonderen und Abenteuerlichen.

»Was ist das, Meister Eberding?«

»Dort wird Hopfen angebaut.«

Richard betrachtete die langen, aufragenden Stangen, die wie verlassene Überbleibsel eines Krieges wirkten, Lanzen, die man vergessen hatte.

Hänsle hatte gerade vergeblich versucht, sich an einen bestimmten venezianischen Ausdruck zu erinnern und seufzte nun tief.

»Es ist zwecklos – dieses Kauderwelsch ist zu hoch für mich.«

»Sei froh«, erwiderte Richard belustigt, »daß du nur die venezianische Mundart brauchen wirst, in Florenz und der Toskana sprechen die Leute nämlich ganz anders.«

Hänsle schnitt eine Grimasse und trieb sein Pferd etwas an. »Was will ich mit der Toskana! Du tust mir leid, weil du dorthin verbannt worden bist, Richard, wo doch jedermann weiß, daß Venedig für einen Mann das Paradies ist! Dort gibt es die besten Huren auf der ganzen Welt.«

»Du wirst kaum Zeit haben, sie zu besuchen, wenn du in der Faktorei etwas lernen willst.«

»Jawohl, Onkel Jakob!« Hänsle grinste.

Richard lenkte sein Pferd etwas näher an Hänsles heran und fragte ein wenig irritiert: »Was willst du damit eigentlich immer? Der Witz ist mittlerweile ausgeleiert. Ich bin nicht im geringsten wie Jakob.«

Hänsle blinzelte ihm zu. »Ach nein? Wer läuft denn den ganzen Tag mit einem Gesicht wie eine Maske aus Stein herum? Wer ist schier unchristlich arbeitswütig? Wer predigt mir eben über die Tugend der Selbstbeherrschung? Schwer zu sagen, nicht wahr, wer das sein könnte – Onkel Jakob oder du?«

Richard, der nicht weiter über dieses Thema nachdenken wollte, entschloß sich, darüber hinwegzugehen. Als sie an diesem Abend müde in die Betten ihrer Herberge fielen, machte sich der Umstand bemerkbar, daß sie keine tagelangen Ritte gewohnt waren. Sie konnten sich kaum noch bewegen. Hänsle stöhnte. »Oh, meine Beine … und mein Kreuz!« Richard ging es nicht besser.

Sie schliefen sehr schnell ein, doch am nächsten Tag, am frühen Morgen, wartete ein überwältigender Anblick auf sie. »Hänsle, sieh doch – die Alpen!«

Richard hatte das Gebirge noch nie gesehen. Für ihn waren die Berge unter Schnee und Fels begrabene Riesen aus längst vergessenen Urzeiten. Sie ließen die vorbeiziehenden Menschen winzig erscheinen. Die Schneereste, die überall noch lagen und sich von den dunklen Fichten abhoben, schienen von bläulichen Schatten durchzogen zu sein. Doch am schönsten waren die gefrorenen Bäche und Wasserfälle. Richard kam es vor, als hätte ein Wunder den Lauf des Wassers aufgehalten und die Zeit erstarren lassen. Er konnte sich kaum von dem Anblick des Eises, in dem die Sonnenstrahlen sich brachen, losreißen.

»Wie ein Regenbogen in einem gefrorenen Orkan!«

»Komm endlich, Richard!«

Er war nicht auf die riesigen Wälder gefaßt gewesen, die begannen, als sie Schongau hinter sich gelassen hatten. Das dunkle Grün und tote Braun, in dem sich gerade erst langsam die helleren Töne des Frühlings durchzusetzen begannen, ließen kein Ende erkennen. Manchmal kam es Richard so vor, als würden die Bäume mit ihren ausladenden Ästen, in denen sich der Wind fing, nach ihm greifen. Er hätte es nicht zugegeben, aber er war trotz aller Begeisterung für das Neue froh über Anton Eberdings Anordnung, eng beieinander zu bleiben, und vermutete insgeheim, daß auch die anderen mehr fürchteten als herumstreunende Räuber. Abends, wenn sie in einer Herberge Rast machten und irgend jemand eine Geschichte über Riesen und Waldgeister erzählte, konnte Richard darüber lachen und kam sich selbst albern vor. Doch in den undurchdringlichen Wäldern lag etwas, das ihn, der sein ganzes Leben in wohlgeordneten Städten verbracht hatte, seltsam berührte und zugleich beunruhigte, und es dauerte einige Zeit, bis er sich daran gewöhnte.

Sie kamen am berühmten Kloster Ettal vorbei. Richard verspürte eine Mischung aus Neugier und Widerwillen und war froh, daß Eberding an diesem Abend unbedingt noch bis zur Fuggerfaktorei in Partenkirchen wollte. Sparsam wie ihr neuer Leiter war, störte ihn jeder Dukaten, den er in Herbergen ausgeben mußte, und die überall verstreuten Stationen der Fuggerschen Handelsplätze waren ihm deshalb eine willkommene Unterkunft.

Der Anblick der Städte und Dörfer hatte sich verändert. Entsprachen auf ihren ersten Stationen die Orte noch dem Bild, wie sie es von Augsburg gewohnt waren, so wirkten die Häuser jetzt viel kleiner und gedrungener. Oft schienen sie nur aus einfach behauenen Stämmen der umliegenden Wälder gebaut zu sein. Am merkwürdigsten kam ihnen jedoch vor, daß auf den Dächern große Steine lagen, und Eberding erklärte, dies hinge mit dem Wind und dem Schnee zusammen, mit dem die Bauern hier fertig werden mußten.

Die nächste größere Stadt, in die sie gelangten, war Innsbruck, wo sie in der dortigen Faktorei der Fugger Pferde tauschen und neue Vorräte bekommen sollten. Richard hatte gehört, daß sie einen Paß überqueren mußten, um nach Innsbruck zu gelangen, und sich darunter so etwas wie einen engen, schmalen Weg, der von Gipfel zu Gipfel führte, vorgestellt. Er wurde enttäuscht. Der Paß nach Innsbruck war breit angelegt, reichte noch nicht einmal in die Nähe der Gipfel und mündete erst beim Abstieg in enge Kurven, die aber dem Wagen des Zugs, auf dem sich die sperrigeren Handelsgüter befanden, keinerlei Schwierigkeiten bereiteten. Doch als sich die Türme und Dächer der Tiroler Hauptstadt schon deutlich abzeichneten, kam es zu einer seltsamen Begegnung. Auf der Straße, die zu den Stadttoren führte, zog ihnen eine merkwürdige Gruppe von Menschen entgegen. Die meisten führten einen Handkarren oder ein ähnliches Gefährt mit sich, auf dem wahllos Hausrat gestapelt war. Keiner von ihnen machte Anstalten, Anton Eberdings Zug zu grüßen.

Richard und Hänsle starrten verwundert auf die Männer, die ganz in Schwarz bekleidet waren, mit seltsamen Kopfbedeckungen und langen Locken, die ihr Gesicht rahmten. Die Einsamkeit und Andersartigkeit, die sie ausstrahlten, waren fast greifbar.

»Was sind das für Leute?« fragte Hänsle flüsternd Meister Eberding, als die Gestalten vorbeigezogen waren. Der große, bärtige Augsburger spuckte aus.

»Juden! Man wird sie aus Innsbruck vertrieben haben. Was für ein Glück.«

Hänsle und Richard warfen sich unbehagliche Blicke zu. In Augsburg gab es keine Juden mehr. Man hatte sie schon zu Zeiten von Hans Fugger, dem berüchtigten ›Weber aus Graben am Lech‹, verjagt, und es war eine bekannte Familiengeschichte, wie sich Hans Fugger diesen Umstand zunutze gemacht hatte. Er hatte durch einen Freund im Stadtrat von der beabsichtigten Vertreibung schon gewußt, ehe die Augsburger es erfuhren, und das Haus am Rohr zu einem Spottpreis von dem bisherigen Besitzer gekauft, der es eilig hatte, einen Wohnsitz im Judenviertel loszuwerden, den er ohnehin nur geerbt hatte.

Hans' Wahl hatte Hohn und anzügliche Bemerkungen hervorgerufen – bis bekannt wurde, daß der Stadtrat beschlossen hatte, alle Juden aus Augsburg zu verjagen. Damit war der Weber nun im Besitz eines Hauses in hervorragender Lage, das in den kommenden Jahren Sitz des Unternehmens wurde, bis Ulrich, Georg und Jakob, die Enkel des Webers, das Anwesen am Rindermarkt kauften.

»Ich habe noch nie Juden gesehen«, sagte Hänsle unsicher, und Anton Eberding antwortete harsch: »Seid froh darum! Blutsauger sind sie, Zinswucherer und Kindsmörder bei ihren verfluchten Ritualen!« Ehe Eberding es sich versah, platzte Richard heraus: »Das ist nicht wahr!«

Der Kaufmann wandte sich ihm zu. Es lag eher Verwunderung als Ärger in seinem Blick. »Was ist nicht wahr?«

»Daß sie Kinder bei ihren Ritualen schlachten.«

»Aber, Richard«, warf Hänsle ungläubig ein, »das weiß doch jeder.«

»Deswegen ist es noch lange nicht wahr.«

Richards Stimme war leise, aber unnachgiebig. Er wußte, daß er sich vielleicht das Wohlwollen Anton Eberdings verscherzte, doch hier galt es, eine Ungerechtigkeit aufzuklären.

»Als einmal die Bürger von Fulda zu Kaiser Friedrich II. kamen«, sagte er und Hänsle stöhnte, denn dieser Friedrich war eines von Richards Lieblingsthemen, »und die Juden ihrer Stadt anklagten, Kinder bei ihren Ritualen geschlachtet zu haben, befand der Kaiser die Juden nicht nur für unschuldig, sondern berief auch noch bekehrte, zu Christen gewordene Juden aus dem ganzen Reich zu sich, die prüfen und aussagen sollten, ob die jüdische Religion einen Ritualmord überhaupt gestattete. Und alle waren sich einig, daß eine solche Tat ein Greuel sei, und der Kaiser verbot bei schwerer Strafe, jemals wieder eine solche Anklage gegen die Juden vorzubringen.«

Eberdings Miene hatte sich während Richards Erzählung immer mehr verfinstert. Seine buschigen grauen Augenbrauen waren zusammengezogen, und die gerunzelte Stirn kündigte schwere Gewitterwolken an.

»Bekehrte Juden – ha! Als ob ein Jude jemals ehrlich würde. Die würden doch alles sagen, nur um ihre Haut zu retten. Überdies war der Kaiser, den Ihr da erwähnt, selbst ein halber Heide, und die heilige Kirche hat ihn nicht nur einmal, sondern gleich dreimal exkommuniziert. Was für einen Grund hättet Ihr, Euch für Gezücht wie die Juden einzusetzen, junger Herr?«

Richard hatte nicht bemerkt, daß er unbewußt die Zügel immer wieder um seine Hand gewickelt hatte, bis das Leder in die Haut einschnitt.

»Gerüchte verbreiten sich schnell und Lügen ebenso, und dann werden den Menschen Dinge vorgeworfen, die sie nicht getan haben«, erwiderte er fast unhörbar. »Es ist nicht gerecht, irgend jemanden für Dinge leiden zu lassen, die er nicht getan hat.«

Er hatte nie ausführlich über die Juden nachgedacht, doch der Anblick dieser vorbeiziehenden Menschen auf der Straße und die Rede Meister Eberdings hatten ihn allzusehr an Wandlingen und das Feuer erinnert.

Hänsle wollte vermitteln. »Mag sein, daß du recht hast, Richard, mit den Ritualen, aber Meister Eberding hat auch recht, denn es steht nun einmal fest, daß die Juden Wucherer sind und Christen durch Zins ausbluten lassen, wo sie nur können.«

»Der Landbesitz ist ihnen verboten«, entgegnete Richard heftig, »sie dürfen kein Handwerk ausüben, was sollen sie also tun?«

»Rührend«, spottete Eberding, »und das ist ein Grund, um bis zu fünfzig Prozent Zins zu nehmen, wie es meinem Onkel geschah, der durch einen Juden ruiniert wurde?«

Richard schwieg. Es hatte keinen Sinn. Eberding war nicht Konrad Pantinger, Anselm oder irgendein anderer, mit dem sich ein solcher Disput gelohnt hätte. Ganz gleich, was Richard sagte, Eberding würde bei seiner Meinung bleiben.

»Laßt uns Innsbruck erreichen«, sagte er, plötzlich müde, »ich möchte die Stadt sehen.«

Er klopfte seinem Pferd auf den Hals, spürte das rauhe Fell unter seinen Handflächen und dachte über Anton Eberding nach. Eberding war kein schlechter Mensch, im Gegenteil, er mußte absolut verläßlich und ein guter Kaufmann sein, sonst hätte Jakob ihn nicht mit dieser Aufgabe betraut. In den vergangenen Wochen war er Richard vielleicht ein wenig schroff, aber doch im Grunde angenehm erschienen, jemand, mit dem man Freundschaft schließen konnte. Doch derselbe Eberding war in seiner Abneigung gegen die Juden so blind, daß er in dieser Beziehung keinem vernünftigen Argument zugänglich war, und Richard hätte noch manche vorbringen können.

Anselm hatte ihm erzählt, daß die Juden tatsächlich hohe Zinssätze nahmen, aber deswegen, weil der Landesherr des Fürstentums, in dem sie sich befanden, die Schuld eines seiner Untertanen bei einem Juden jederzeit für nichtig erklären konnte. Es war eine großzügige Geste gegenüber dem Untertan und kostete den Lehnsherrn nichts, den Juden dagegen sehr viel, und der hohe Zins war ein Mittel, um sicherzugehen, daß er wenigstens etwas von seinem Geld wiedersah. Richard setzte zu dieser Erklärung an, unterließ es dann jedoch. Zwecklos. Aber wider besseren Wissens schweigen zu müssen, machte ihn wütend, und er versuchte, den Gedanken an die schwarze Schar vor den Toren Innsbrucks zu verdrängen. Eines Tages würde er nicht mehr schweigen.

Die Innsbrucker Faktorei war eine der wichtigsten des Fuggerschen Unternehmens, da sie den gesamten Tiroler Silberhandel regelte. Dort, in dem soliden Fachwerkgebäude, stapelten sich die Silberbarren, die aus den Gruben kamen, bevor sie mit hohem Gewinn entweder an die staatliche Münze in Hall, die ebenfalls unter Jakobs Leitung stand, weiterverkauft oder ins Ausland gebracht wurden, durchaus nicht immer zu dem Hauptumschlagplatz Venedig.

Die Tiroler Münzen hatten einen viel höheren Silbergehalt als diejenigen, die man jenseits der Tiroler Grenze prägte, und Jakob hatte die sich daraus bietenden Möglichkeiten schnell erkannt. Er hatte sich auch noch bei weiteren Staaten die Prägeerlaubnis zu beschaffen gewußt und konnte nun mit jedem Pfund Silber, das er über die Landesgrenze brachte, ungefähr anderthalbmal soviel Münzen prägen wie innerhalb des Herzogtums Tirol.

Der Leiter der Faktorei führte Richard und Hänsle stolz in eine der Lagerhallen und gab ihnen einen Silberbarren in die Hand. »Faßt es ruhig an«, ermunterte er. »Man muß das Metall in seiner rohen Form sehen, um zu begreifen, warum die Menschen dafür töten würden.«

Richard hätte um ein Haar gefragt, ob sie einen Stollen besichtigen könnten. Doch der Leiter sprach schon weiter. »Wenn Ihr noch eine Woche warten wollt«, erklärte er, an Anton Eberding gewandt, »dann könntet Ihr Euch einem Transport nach Venedig anschließen.«

Eberding schüttelte den Kopf. »Mit Silber zu reisen, verzögert nur alles und erhöht die Gefahr, und wir haben es eilig. Außerdem muß ich diesmal Kindermädchen spielen, wie Ihr seht.«

»Kindermädchen«, grollte Hänsle noch, als sie gemeinsam eine saftige Schweinshaxe verzehrten, »ich möchte wissen, für wen er sich hält. Für Methusalem vielleicht?«

Als sie Innsbruck wieder verließen, trug mittlerweile jedes Mitglied der Reisegruppe eine Lammfellweste gegen die zu erwartende Kälte.

»Es mag zwar Frühling sein«, warnte der Leiter der Innsbrucker Faktorei, als er sie verabschiedete, »doch denkt an die Lawinen, die gerade jetzt auf Euch warten!«

Richard hatte noch nie eine Lawine erlebt und nur eine sehr ungenaue Vorstellung davon, die er den Berichten anderer Reisender verdankte. Zunächst verlief ihre Reise fast enttäuschend ereignislos; sie nahmen die alte Paßstraße der Römer, den Brenner, die so breit angelegt war, daß selbst größere Wagen keine echten Hindernisse zu bewältigen hatten. Richard kamen die Befestigungen, welche die Straße gegen den Berg abstützten, zu neu vor, um noch von den Römern zu stammen, und er erkundigte sich bei Eberding danach.

»Eines der letzten Unternehmen, die noch unter Herzog Sigismund durchgeführt wurden, bevor er sich, hm, von der Regierung zurückzog. Ihm wurde damals geraten, den Weg für die Erztransporte nach Venedig zu erleichtern, und also ließ er die Römerstraße erneuern.«

Als das Eis der gefrorenen Bäche nicht mehr auf sie zustürzte, sondern mit ihnen ins Tal hinunterstrebte, wußte Richard, daß der Abstieg begonnen hatte und glaubte, daß die Alpen nun keine Überraschungen mehr für sie bereithielten. Er hätte sich nicht mehr irren können.

Eberding hatte eigentlich vor, weiter der alten Handelsroute zu folgen und über Brixen nach Bozen zu ziehen. Sie hatten gerade den Ort Sterzing hinter sich gelassen, als sich plötzlich ein fernes, leises Rauschen bemerkbar machte. Richard spürte es mehr, als er es hörte; die Luft schien sich zu verändern, zu zittern. Er blickte zu Eberding und sah, daß der Mann blaß geworden war.

»Allmächtiger«, murmelte er, »es ist soweit!« Er drehte sich um und schrie: »Alles sofort anhalten! Eine Lawine wird hier in der Nähe heruntergehen.«

Trotz der sich breitmachenden Panik konnte es sich Richard nicht versagen, zu fragen: »Woher wißt Ihr, daß sie nicht genau hier herunterkommen wird?«

»Das Geräusch«, entgegnete Eberding grimmig, »und außerdem weiß ich es nicht, ich hoffe es nur.«

Inzwischen hatte sich das Rumoren zu einem lauten Donnern entwickelt. Die Pferde begannen zu scheuen, und einige der Knechte gerieten in Panik.

»Es hat keinen Zweck, zurückzureiten«, schrie Eberding, »sie kann auch hinter uns liegen!«

Unverwandt blickte er zu dem Berghang hoch. Dort sah man nichts, doch inzwischen bebte die Erde. Das Tosen wurde lauter, lauter, bis es fast unerträglich war. Instinktiv warf Richard sich auf die Erde.

Dann herrschte mit einem Mal Stille, eine unheimliche, atemlose Stille. Er spürte den kalten Boden unter sich, richtete sich langsam wieder auf und bemerkte, daß die anderen es ihm gleichgetan hatten. Keiner sprach; man hörte nur das schwere, hastige Keuchen. Die Stille war vielleicht noch schrecklicher als das Toben der Elemente. Endlich sagte einer der Männer: »Gott hat uns verschont.«

Eberding bekreuzigte sich. »Amen. So ist es. Doch ich fürchte, der Paß ist verschüttet. Wartet hier; ich werde vorausreiten und nachsehen.«

Richard lief schnell zu seinem Pferd. »Meister Eberding, darf ich mit Euch kommen?«

Anton Eberding musterte ihn einen Moment lang. »Schön«, knurrte er schließlich, »warum nicht?«

Schon nach wenigen Minuten zeigte sich, daß Eberding recht gehabt hatte. Richard hielt den Atem an. Ungeheure Schneemassen türmten sich vor ihnen auf, und in ihnen eingeschlossen waren Felsblöcke, Tannen, Fichten manchmal von der Größe eines Hauses, die entwurzelt und mitgerissen worden waren, als seien sie bloße Grashalme.

»Es sieht aus wie das Jüngste Gericht!«

Eberding beschäftigten praktischere Überlegungen. »Wir würden Tage brauchen, um uns da mit unserem Wagen durchzuschaufeln«, schloß er. »Das beste wird sein, umzukehren und den Jaufenpaß zu nehmen.«

Der Jaufenpaß erwies sich als sehr enge, steinige und unzugängliche Straße. Richard, der geglaubt hatte, nun schon an die hohen Berge gewöhnt zu sein, wurde eines Besseren belehrt, als der Anstieg immer steiler wurde. Der Paß krümmte sich in immer engeren Kurven, und häufig genug mußten die Berittenen absitzen, um den anderen mit dem Wagen zu helfen. Als sie wieder einmal anhalten mußten, blickte Richard zurück, und plötzlich kam ihm ihre Gruppe so vor wie ein Haufen Ameisen, die sich um einen schlafenden Bären bemühten. Seit der Lawine nämlich sah er die Berge nicht mehr als tote Brocken aus Schnee und Fels, sondern hielt sie für durchaus lebendig und in der Lage, sich gegen unerwünschte Eindringlinge zu wehren.

Das Wetter wurde freundlicher, und an manchen Tagen hätte man sogar mit offenem Hemd reiten können, was Eberding jedoch energisch verbot. Die Luft schmeckte klar wie der Schnee, den die Reisenden manchmal kosteten, um ihren Durst zu stillen. Richard hätte diese Reise gegen nichts in der Welt eintauschen mögen. Als sie in der kleinen Klause angelangt waren, die am höchsten Punkt des Passes lag, war er beinahe enttäuscht, denn der beschwerliche und abenteuerliche Teil der Reise schien nun endgültig vorbei zu sein. Nachdem er am Abend die seltsamen Schatten betrachtet hatte, die die untergehende Sonne auf die Spitzen der Berge malte, blieb nur ein Wunsch offen: ein heißes Bad, wie Richard es gerne regelmäßig genoß.

»Du bist verrückt«, meinte Hänsle kopfschüttelnd, »stundenlang auf die Berge zu starren. Ich möchte nur wissen, was du dort siehst!«

»Wenn du es wirklich wissen möchtest«, sagte Richard langsam und bemühte sich, sich nicht durch ein Grinsen zu verraten, »ich suche nach den Nachkommen der Elefanten, die Hannibal über die Alpen brachte – es müssen ihm doch ein paar entlaufen sein!«

»Wie bitte? Aber das war doch gar nicht …«

Hänsle begriff, daß er seinem Freund auf den Leim gegangen war. »Du Idiot!« sagte er aus tiefstem Herzen und stimmte dann in Richards Gelächter mit ein.

Es erwies sich, daß sie mit ihrer Ankunftszeit in der Klause Glück gehabt hatten. Über Nacht zogen sich Wolken zusammen, und am nächsten Tag brach ein Sturm los, der sie mehrere Tage an ihrem Zufluchtsort festhielt, was Eberding jedoch nicht übermäßig beunruhigte.

»Schließlich«, erläuterte er seinen Gehilfen, »hat der Jaufenpaß uns ohnehin einiges an Zeit erspart. Der Weg über Meran nach Bozen ist kürzer als der über Brixen, nur eben sehr viel beschwerlicher.«

Als das Unwetter sich verzogen hatte, war der Himmel immer noch verhangen und die Luft trüb. Trotzdem entschied Eberding, weiterzureiten. »In zwei bis drei Tagen können wir in Bozen sein!«

Als sie schon fast die Hütte erreicht hatten, die Wärme und Sicherheit versprach, machte Richard in der Ferne mehrere dunkle Punkte aus, die sich scharf gegen den Hintergrund abzeichneten. Körper, so schien es, als sie sich näherten, und ein größerer unförmiger Gegenstand. Leichen. Richard spornte sein Pferd an, ohne auf Eberdings Warnruf zu achten.

Er konnte es immer deutlicher sehen – dort lagen Männer und Frauen neben einem umgestürzten Wagen, dessen Abdeckplane zerrissen war. Er glitt aus dem Sattel. Augenscheinlich hatten hier Strauchdiebe ihr Unwesen getrieben. An den Ohren der Frauen, die wohl mit Schmuck behängt gewesen waren, klebte verkrustetes Blut.

Eberding war hinter ihm hergeritten und legte jetzt seine schwere Hand auf Richards Schulter. »Ihr seid der leichtsinnigste Kerl, der mir je untergekommen ist«, sagte der Kaufmann zornig. »Die Räuber können noch in der Nähe sein, und all dies hier«, er deutete mit einer weitausholenden Geste um sich, »hätte auch eine List sein können, um uns hierherzulocken!«

Richard machte sich wortlos frei. Offene, zu tonlosen Schreien erstarrte Münder, zu Grimassen verzerrte Gesichter lagen vor ihm im Schnee. »Wer mögen sie sein?« hörte er sich fragen.

Eberdings Stimme klang kaum besänftigt. Er wies auf die Kleider. »Zigeuner. Wer sonst trägt diesen Flitter?«

Jetzt bemerkte auch Richard, daß diese Menschen irgendwie ungewöhnlich aussahen – die dunkle Haut, die schwarzen Haare, die bunten, seltsamen Kleider, die so gar nicht zu der Umgebung und Jahreszeit passen wollten. Eberding zog ihn am Arm.

»Kommt jetzt endlich. Solche Dinge geschehen nun einmal, und besser die Zigeuner haben dran glauben müssen als wir. Sie sind ohnehin größtenteils ein Diebesgesindel, so daß es mich wundert, daß sie sich mit den Räubern nicht verbrüdert haben.«

Richard lag eine hitzige Entgegnung auf der Zunge, doch in diesem Moment entdeckte er etwas, das ihn seinen Zorn, der angesichts von Eberdings Kaltschnäuzigkeit vor den Toten in ihm aufgestiegen war, sofort vergessen ließ.

»Meister Eberding – da, dort drüben, da hat sich etwas bewegt. Es lebt noch jemand!«

Auch Eberding lief nun ohne zu zögern auf die Stelle zu, auf die Richard gewiesen hatte. Halb versteckt hinter dem umgestürzten Wagen lagen dort ein alter Mann und ein Kind, das Richard auf etwa zehn Jahre schätzte. In dem Bart des Alten sickerte Blut, und er hatte schwere Wunden auf der Brust, doch seine Hand bewegte sich etwas, und das Kind stöhnte.

Während Eberding neben dem Mann niederkniete und ihn flüchtig untersuchte, versuchte Richard, das Kind aus den Armen des Alten zu lösen. Es hatte dichtes, schwarzes und kurzgeschnittenes Haar, ein spitz zulaufendes, mageres Gesicht, und als Richard seine Schulter berührte, hob es die Lider.

Richard blickte in Augen von einem strahlenden, reinen Grün, wie er es noch nie erlebt hatte. Das Kind murmelte irgend etwas, das er nicht verstand, dann senkten sich die Lider wieder, und er merkte, daß seine Hand blutig war.

»Wir müssen ihnen helfen!«

Eberding richtete sich auf und sagte seltsam mitleidig: »Der alte Mann wird sterben, wahrscheinlich schon innerhalb der nächsten Stunde.«

»Das könnt Ihr nicht mit Gewißheit sagen, und selbst wenn es wahr ist, dann müssen wir zumindest versuchen, wenigstens das Mädchen zu retten!«

Die letzte Aussage brachte ihm einen verdutzten Blick des Kaufmanns ein. »Das Mädchen? Woher wollt Ihr wissen, daß dieses Kind ein Mädchen ist?«

»Ich weiß es eben.«

Er konnte es sich auch nicht erklären. Das Kind trug Hosen und ein weites Hemd, das seinen Körperbau verbarg, doch von dem Moment an, als es ihn angesehen hatte, war er sicher gewesen, einem Mädchen in die Augen geblickt zu haben.

Schließlich einigte er sich mit Eberding darauf, das Mädchen und den Alten vorsichtig zur nächsten Hütte zu bringen. Richard hob das Mädchen hoch. Wenn er nicht ihre schwachen Atemzüge gehört hätte, wäre er sicher gewesen, sie sei tot.

Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis sie die Hütte erreichten, doch als sie abgesattelt hatten und bereits eifrig ein Feuer geschürt wurde, wandte sich Eberding an Richard. »Wie ich gesagt habe – der Alte ist tot, und das Kind wird bestimmt auch sterben, wenn es nicht völlig ruhig liegt. Wir müssen es hier lassen.«

Richard hatte das Mädchen gerade auf einem eilig bereiteten Lager hingelegt und wollte Wasser holen, um ihre Wunden zu reinigen und sie zu verbinden.

»Natürlich bewegen wir sie nicht weiter«, sagte er verwundert, »wir werden hier warten, bis sie soweit ist, daß sie mit uns weiterziehen kann.«

Eberding explodierte fast.

»Ach, gebt Ihr jetzt die Befehle hier? Laßt Euch gesagt sein, Herr Richard, daß ich meinen Zug nicht wochenlang wegen eines Zigeunerbalgs gefährde und …«

Hänsle mischte sich begütigend ein. »Sprechen wir doch später darüber«, sagte er ruhig, »sollten wir nicht erst den alten Mann beerdigen und die anderen?«

Widerwillig stimmte Eberding ihm zu. »Es sind zwar Zigeuner, doch es ist unsere Christenpflicht.«

Richard hatte gehofft, der Alte würde überleben, doch nun hielt er es für wichtiger, sich um das Mädchen zu kümmern. Als er ihr zögernd das Hemd über den Kopf streifte, um sie zu waschen, entdeckte er, daß sie doch älter sein mußte, als er gedacht hatte. Mindestens dreizehn. Er setzte sich hastig so, daß sie von den Blicken seiner Begleiter abgeschirmt war. Nachdem er die Reinigung beendet hatte, verband er ihre Wunden mit sicheren Griffen, als habe er nie etwas anderes getan. Sie hatte eine böse Verletzung an der Schulter und eine am linken Unterschenkel, doch das war alles, was man mit dem bloßen Auge erkennen konnte. Allerdings sprach sie im Wundfieber wirres, unverständliches Zeug, und als er ihr die Hand auf die Stirn legte, war sie glühend heiß.

Eberding hatte zwei der Bewaffneten befohlen, vor ihrer Unterkunft Wache zu halten, falls sich noch Räuber in der Nähe befanden. Nun näherte er sich Richard, der einen der Mitreisenden um Rat fragte, welche Arzneien für das Mädchen zur Hand seien.

»Hört, Richard«, sagte Anton Eberding nicht unfreundlich, »Ihr seid noch sehr jung, und Eure Fürsorge ist verständlich und ehrt Euch. Doch Tatsache ist nun einmal, daß wir hier nicht den Köder für jeden Spitzbuben spielen können, der in der Nähe herumlungert, ganz zu schweigen von der Verspätung, die wir aufzuholen haben. Trotzdem kann Euer Schützling im augenblicklichen Zustand nicht nach Bozen gebracht werden, wo sie sicher wäre. Ihr habt sie fürs erste versorgt und Eure Pflicht getan. Warum laßt Ihr sie jetzt nicht mit ein paar Lebensmitteln hier?«

Wäre Eberding wieder grob geworden, so hätte Richard sofort widersprochen. Doch so sah er ein, daß der Kaufmann keineswegs feindselig, sondern sogar höchst vernünftig argumentierte.

Er schwieg lange Zeit bedrückt. Schließlich hob er den Kopf und sagte: »Meister Eberding, Ihr habt natürlich recht, aber gestattet mir einen anderen Vorschlag. Ich werde mit dem Mädchen hierbleiben, bis man sie ohne Gefahr nach Bozen bringen kann, und danach werde ich versuchen, Euch einzuholen. Falls es mir nicht gelingt, komme ich eben später als Ihr in Florenz an.«

»Das ist wirklich das Dümmste«, donnerte Eberding, »was ich je gehört habe. Selbst wenn Ihr allein nach Bozen und von dort aus weiter Euren Weg findet, was ich bezweifle – wie wollt Ihr hier überleben?«

»Mit Euren Vorräten selbstverständlich«, erwiderte Richard mit schwachem Lächeln, »und wenn sie nicht reichen, werde ich eben mein Glück auf der Jagd versuchen. Schließlich haben wir Frühling.«

»Habt Ihr schon einmal gejagt?« fragte Eberding scharf.

Richard biß sich auf die Lippen. »Ich war bei einer Jagd dabei … als der König Augsburg besuchte.«

»Das ist ganz und gar nicht das gleiche.«

Eberdings Stimme klang beißend. »Und einen Kampf habt Ihr auch noch nicht bestanden … Großer Gott, Ihr seid ein Zuckerlecken für jeden Banditen hier in der Gegend, und ich bin für Euch verantwortlich!«

Schlagartig veränderte sich Richards Miene. Sein Gesicht wurde zu jener Maske, deretwegen Hänsle ihn oft geneckt hatte, und mit kühler, sachlicher Stimme sagte er: »Ihr seid keineswegs für mich verantwortlich. Ich bin ein Mann und bestimme mein Schicksal selbst. Ich werde Euch einen Brief für meinen Onkel mitgeben, in dem ich alles erkläre, damit Ihr Euch keine Sorgen zu machen braucht, falls mir etwas zustößt. Doch das wird nicht der Fall sein.«

In der Nacht schlich sich Hänsle zu Richard, der neben dem verwundeten Mädchen saß. »Richard«, sagte er unvermittelt, »bist du sicher?« Richard nickte, ohne seinen Blick von dem Kind abzuwenden. Hänsle hüstelte.

»Was habe ich nur getan, daß ich mit einer Familie von Starrköpfen geschlagen bin? Im Ernst, Richard … ach, ich sehe schon, es hat keinen Zweck.« Er stockte. »Ich würde ja gerne bei dir bleiben, aber …«

»Ich verstehe schon«, sagte Richard beruhigend. »Außerdem bekäme der arme Eberding dann wohl einen Wutanfall, den er nicht mehr überleben würde. Besser, du gehst mit ihm, Hänsle. Grüß mir Venedig.«

Sie unterhielten sich leise noch etwas, und als Hänsle sich zu seinem Lager zurückgezogen hatte, umfaßte Richard wieder die Hand des Zigeunermädchens. Sie hatte ein schmales, zartes Handgelenk, und er konnte ihren Pulsschlag fühlen. Er betrachtete die schwarzen, kurzen Locken, das Gesicht mit dem energischen Kinn, der breiten Stirn, auf der Schweißtropfen glänzten. Sie war so mager, daß sie bereits lange vor dem Überfall gehungert haben mußte. Er preßte ihre Hand fester, versuchte, ihr etwas von seiner Lebenskraft abzugeben.

»Du wirst leben!«