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RAINER WASSERMANN, seines Zeichens Richter der Stadt Wandlingen, machte nicht nur auf den äußerst angespannten und nervösen Bruder Ludwig einen unmutigen und unwilligen Eindruck. Wassermann war bald sechzig, und er hatte in seinem Leben noch keinen Hexenprozeß geführt. Eigentlich hatte er gehofft, seine Amtszeit in Ruhe beschließen zu können. Hexenprozesse waren ungewöhnlich, es gab keine festen Regeln, an die man sich halten konnte, und die neue Bulle des Papstes half in dieser Beziehung auch nicht viel weiter. Ach, die ganze Angelegenheit war so gänzlich unerfreulich, dachte Wassermann verärgert.

Der Inquisitor, mit dem er nun zu tun hatte, schien ihn außerdem für einen rückständigen Narren zu halten. Auf Wassermanns Einwand, man müsse für Hexen- oder Ketzereiprozesse doch erst die Genehmigung des Bischofs einholen, hatte Heinrich Institoris mit einer hochmütigen Geste geantwortet, als einer der beiden Inquisitoren für die deutschen Lande könne er den Bischof selbstverständlich übergehen.

Bruder Ludwig und Emmerich Kühn, der Schreiner, hatten ihre Klagen vorgebracht, und die Feinheit der Unterscheidung zwischen Ankläger und Denunziant, die beide als Zeugen galten, hatten ihm weiteres Kopfzerbrechen verursacht. In normalen Verleumdungsprozessen gab es so etwas nicht. Er war erleichtert gewesen, dem Notar schließlich nach Aufzeichnung der Anzeigen diktieren zu können: »Das ist verhandelt worden in Wandlingen, am dreiundzwanzigsten Tag des Monats April im Jahre des Herrn 1484, in meiner und des Notars Baumgärtels Gegenwart, unter Hinzuziehung eines anderen zur Stärkung des Amtes des Schriftführers, und der hierzu gerufenen und gebetenen Zeugen Frater Ludwig Maaßen, Bruder des Benediktinerordens, und Meister Emmerich Kühn, Schreiner zu Wandlingen.«

Nach Meinung des Richters war die Angelegenheit jetzt so gut wie erledigt. Man mußte nur noch Frau Artzt vorladen und sie befragen. Natürlich würde sie die Anschuldigung abstreiten, und damit würde das ganze unangenehme Geschäft im Sand verlaufen. Frau Artzt war eine Fremde, gewiß, doch hatte sie nicht viele Kranke geheilt, auch aus seiner eigenen Familie? Und besuchte sie nicht gottesfürchtig die Messe? Doch schon wieder gingen sein Rechtsempfinden und das des Inquisitors auseinander. Dieser forderte nämlich, daß Frau Artzt nicht nur vorgeladen, sondern daß auch sofort ihr Haus nach Zaubermitteln durchsucht werden sollte.

»Aber«, sagte Rainer Wassermann fassungslos, »bis jetzt haben wir doch noch überhaupt nicht festgestellt, ob der Verdacht gerechtfertigt ist. Wir müssen sie doch erst anhören, bevor wir ihr Haus durchsuchen lassen können. Bis jetzt haben wir nur zwei Denunzianten, keine Ankläger. Ich bin sicher, wenn Frau Artzt erst den beiden Zeugen gegenübersteht, wird sie sich rechtfertigen …«

»Mann!« donnerte Bruder Heinrich. »Ihr wollt diese beiden ehrlichen Männer in ihrer Gegenwart belassen?«

»Das ist bei Verleumdungsprozessen so üblich. Handelt es sich nur um üble Nachrede, so brechen die …«

»Dies«, schnitt ihm der Dominikaner das Wort ab, »ist kein Verleumdungsprozeß. Wir haben es mit einer mutmaßlichen Hexe zu tun. Wenn sie die beiden Zeugen zu Gesicht bekommt, könnte sie ihren Bann erneuern. Ja, Ihr dürft diesem Weib noch nicht einmal die Namen der Zeugen nennen, sonst würdet Ihr zwei gute Christen in tödliche Gefahr bringen!«

Der Richter machte einen immer verwirrteren Eindruck. Dies widersprach jeglicher Rechtspraxis. »Doch wenn sie nicht weiß, wen sie verhext haben soll, welches Ereignis gemeint ist, wie soll sie sich da rechtfertigen können?«

Bruder Heinrich schüttelte mitleidig den Kopf. »Man sieht, daß Ihr keine Ahnung von der Tücke der Weiber habt. Ist sie unschuldig, so wird sie sich schon erinnern an so merkwürdige Dinge, ohne Namen zu kennen. Ein Weib kennt tausenderlei Schliche, und ihr werden im Gegenteil viel zuviel Rechtfertigungsgründe einfallen!«

Wassermann klammerte sich an einen Strohhalm. »Aber des Kaisers eigenes Gesetz besagt doch, daß der Beschuldigte das Recht hat, seine Ankläger zu …«

»Es gibt keine Ankläger«, erwiderte der Dominikaner geschmeidig, »sondern nur Denunzianten. Denunzianten brauchen nicht genannt zu werden.«

Wassermann fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Gut und schön. Ihr seid der Inquisitor und habt Erfahrung mit solchen Prozessen. Aber ich werde sie dennoch erst vorladen und anhören, und wenn sie sich als unschuldig erweist, besteht kein Grund, ihr Haus zu durchsuchen.«

Bruder Heinrich schwieg einen Moment. »Nun gut«, sagte er schließlich mit einem unergründlichen Unterton. »Doch da Ihr, wie Ihr selbst bemerktet, keine Erfahrung mit Hexen habt, gestattet mir, an Eurer Stelle die Fragen zu stellen.«

Die Bitte war höflich formuliert, doch Wassermann wurde sich jäh wieder bewußt, daß er ein Mitglied der heiligen Inquisition vor sich hatte, und er verzichtete lieber darauf, noch einmal zu widersprechen. Schließlich, so tröstete er sich, war er der Richter, und bei ihm lag die Entscheidung. Mochte Bruder Heinrich nur die Fragen stellen. Außerdem hatte der Dominikaner recht. Er hatte wirklich noch kein derartiges Verhör geführt.

Der Knecht, der Zobeida die Vorladung überbrachte, fiel ihr durch seine neugierigen und unruhigen Blicke auf. Sie war ein wenig ärgerlich, denn an diesem Samstag warteten keine Patienten auf sie, und sie hätte ihn ganz mit ihrem Sohn verbringen können; überdies wußte sie noch nicht einmal, was der Richter von ihr wollte. Sie zerbrach sich den Kopf, doch ihr fiel auch kein Mensch ein, den sie pflegte und der vielleicht einen Prozeß am Hals hatte.

»Worum geht es eigentlich?« fragte sie den Mann, den der Richter zu ihr geschickt hatte.

»Weiß nich«, murmelte er undeutlich. »Geheime Sache. Darf nich drüber reden und weiß auch nich viel.«

Zobeida zuckte die Achseln, legte sich einen Umhang um die Schulter und folgte ihm.

Des Richters Amtszimmer war klein, in der Ecke loderte ein gemütliches Feuer, und die ganze Stube strahlte Ordnung und Sauberkeit aus. Selbst die Papiere auf Rainer Wassermanns Tisch, auf denen die noch kaum getrocknete Tinte glänzte, waren sorgsam gestapelt.

Der Richter selbst zerrte allerdings unbehaglich am Kragen seines Wamses, die zwei Männer vom Stadtrat, die neben ihm saßen, blickten sie mit demselben merkwürdigen Gesichtsausdruck an wie der Knecht, und der Stadtschreiber, der gleichzeitig auch den Beruf des Notars versah, räusperte sich bei ihrem Eintreten. Die Gestalt des Inquisitors löste sich aus einer dunklen Ecke des Raumes. Unbewußt ballte Zobeida die Hände zusammen. Der Frater wirkte freundlich und gütig, wie vor seiner Predigt, der sie beigewohnt hatte, doch sie hatte nicht vergessen, wie schnell er sich zu einem feuerspeienden Geißler der Menschheit verwandelt hatte. Nein, berichtigte sie sich in Gedanken, nicht der Menschheit, der Frauen. Überdies löste die Kutte der Dominikaner bei ihr instinktive Furcht aus.

In ihrer Kindheit hatte man sie gelehrt, daß von allen christlichen Orden die Dominikaner die Schlimmsten waren. Ein Vetter ihres Vaters, der aus Granada stammte, dem letzten spanischen Emirat, hatte in ihrem Beisein einmal düster erklärt: »Früher gab es die Tempelritter, gut und schön. Das waren wenigstens Kämpfer. Und diese Mönche in den braunen Kutten, die Franziskaner, das sind ein Häufchen rührender Narren. Aber hütet euch vor den Teufeln in den schwarzen und weißen Gewändern!«

Zobeida biß sich auf die Lippen und zwang sich, den Inquisitor anzulächeln. Ein Dominikaner konnte nicht schlimmer sein als der Sklavenaufseher, und sie war nicht länger eine Sklavin. Was es an Schrecken auch geben mochte, hatte sie hinter sich. Jetzt war sie eine freie und geachtete Bürgerin.

»Nun, Frau Artzt, seid gegrüßt«, sagte der Richter hastig und sah hilfesuchend den Inquisitor an.

Bruder Heinrich wandte sich an Zobeida. »Setzt Euch dort auf den Schemel, meine Tochter.« Zobeida kam der Aufforderung nach und erkundigte sich dann, weswegen man sie hergeholt habe.

»Um ein paar Fragen zu beantworten«, sagte Heinrich Institoris höflich. »Doch«, er trat näher und reichte ihr ein schweres Buch, »schwört zuerst auf die vier Evangelien, die Wahrheit für Euch und andere zu sagen.«

Das war ein üblicher Eid, und sie wiederholte ihren Schwur noch dreimal, jeweils mit der Hand auf einem der Evangelien.

»Woher kommt Ihr, wo seid Ihr geboren, wer sind Eure Eltern und wo befinden sie sich?«

Die Antworten, die Zobeida gab, beunruhigten alle Anwesenden, denn es fielen einige fremdartige Namen. Der einzige, der vertraut klang, war ihr Taufort. Der Notar gab sich redlich Mühe, die arabischen Namen niederzuschreiben, und mußte sich schließlich von dem etwas ungehaltenen Inquisitor helfen lassen.

Doch Bruder Heinrich war wieder die Freundlichkeit selbst, als er sich an Zobeida wandte: »Ist irgend jemand in Eurer Verwandtschaft je verbrannt worden?«

»Der Vater meines Vaters starb an der Pest«, entgegnete Zobeida verwundert, »und natürlich wurde er verbrannt.«

Der Inquisitor machte eine ungeduldige Handbewegung. »Keine Leichenverbrennungen«, sagte er kurz. »Habt Ihr in Eurer Heimat je von Hexenkunst sprechen hören, von Gewitterbeschwörung oder daß Vieh verhext wurde, daß den Männern ihre Manneskraft genommen oder sie im Gegenteil übermäßig erweckt wurde?«

Zwischen Zobeidas Augenbrauen stand eine steile Falte. Sie war argwöhnisch geworden, spürte Gefahr, doch worauf der Inquisitor hinauswollte, war noch nicht eindeutig.

»In meiner Jugend«, erwiderte sie vorsichtig, »lehrte mich mein Vater, daß all diese Dinge natürliche Ursachen haben, doch seit ich den wahren Glauben angenommen habe, hörte ich von einigen solchen Zaubereien.« Sie konnte nicht widerstehen, hinzuzufügen: »Aber noch nie hörte ich in solcher Ausführlichkeit davon wie bei Eurer Predigt im Kloster St. Georg, Pater.«

Heinrich Institoris erstarrte ein wenig. Er hatte die Doppeldeutigkeit verstanden, die in der Stimme mit dem leichten Akzent mitschwang, doch dies war nichts, was man näher ausforschen konnte. Dem Weib würde ihr Spott ohnehin bald vergehen.

»Glaubt Ihr, daß es Hexen gibt?« fragte er ein wenig unfreundlicher.

Zobeida faltete die Hände und sagte fromm: »Zu entscheiden, ob es Hexen gibt oder ob es keine gibt, überlasse ich Höheren.«

»Was meint Ihr damit?«

»Oh, Pater, eine einfache Frau wie ich, ohne den klaren Verstand eines Mannes, kann eine so schwierige Frage nicht entscheiden.«

»Wenn es keine Hexen gäbe«, forschte Bruder Heinrich, »dann hieße das doch, daß Menschen unschuldig verbrannt werden?« Er fragte das bei jedem seiner Prozesse, warum, wußte er nicht, vielleicht nur, um sich das Vergnügen zu gönnen, bei einer Zustimmung auf die Angeklagten einzureden, daß ihnen Hören und Sehen vergingen. Doch diese Frau war wahrhaftig mit den Listen ihres Geschlechts gewappnet.

Die schwarzen Augen weiteten sich, und mit unschuldiger Stimme fragte sie: »Wie kann das sein, wenn doch so weise Männer wie Ihr die Entscheidung treffen, Hexer und Hexen auf den Scheiterhaufen zu schicken?«

Der Dominikaner entschloß sich, zum direkten Angriff überzugehen. »Wißt Ihr, daß Ihr verhaßt seid, daß Ihr im schlechten Ruf steht, daß man Euch sogar fürchtet?« Es bereitete ihm Vergnügen, sie zusammenzucken zu sehen.

»Das ist nicht wahr!« protestierte sie heftig. Es schien, als wolle sie sich zur Bestätigung an den Richter wenden, doch der Mönch sprach schnell weiter: »Warum sind dann zwei Anzeigen wegen Hexerei gegen Euch ergangen?«

Das traf sie. Sie sah ihn ungläubig an. »Wer hat mich angezeigt?« fragte sie, durch die Eröffnung eher verwundert als entsetzt.

»Das braucht uns jetzt nicht zu kümmern«, entgegnete der Dominikaner streng. »Ihr solltet es selbst am besten wissen. Habt Ihr nicht einem Mann Liebestränke eingeflößt und einem anderen gedroht, er würde seine Manneskraft verlieren, was in der Folge auch passierte? Mir scheint dies eindeutig eine Verwünschung zu sein.«

Alle Männer im Raum beobachteten Zobeida aufmerksam. Sie hatten keinen Grund, ihr Böses zu wünschen, doch lag in ihren Blicken etwas von einem Jäger, der einem Wild nachstellt. Zobeida brauchte nicht lange, um zu begreifen.

»Wenn Emmerich Kühn«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne hindurch, »nicht mehr bei seiner Gemahlin liegen kann, so ist das für die arme Frau ein Segen, für den ich leider nichts kann. Es steht nicht in meiner Macht, diese …«

»Aha«, unterbrach Bruder Heinrich lauernd, »Ihr gebt also zu, daß Ihr Macht besitzt?«

»Die Macht, die einem Heiler zu eigen ist«, antwortete Zobeida unbeeindruckt, »oder einer Hebamme. Die Macht zu pflegen und die Menschen gesund zu machen, so Gott es will. Was Eure andere Beschuldigung betrifft – nie in meinem Leben habe ich einen Trank mit anderen als heilenden oder erfrischenden Kräutern zubereitet. Ich weiß, daß es Kräuter gibt, die die Begierde erwecken, doch ich habe sie nie benutzt. Wenn also jemand behauptet, in mich verliebt zu sein, so solltet Ihr lieber die Schuld bei ihm suchen!«

»Und warum?« Der Inquisitor war ihr inzwischen so nahe, daß er sie hätte berühren können, und er spürte ihren warmen Atem. »Hört, Weib, der Euch beschuldigt, ist gottesfürchtig und hat von jeher als fromm gegolten, während Ihr Euch, wie Ihr selbst gesteht, auf das Zubereiten von Kräutern versteht und als Frau voller wollüstiger Gedanken seid. Überdies kommt Ihr ständig mit den üblen Säften in Berührung, die Dämonen anziehen, und mischt Euch in Bereiche der Heilkunst, die nur Männer etwas angehen, wie man mir berichtet.«

Zobeida konnte nur mühsam ihren Zorn beherrschen. »Laßt diesen frommen, gottesfürchtigen Mann holen«, sagte sie scharf, »damit er mir ins Gesicht sagt, daß ich beschuldigt werde, ihn verführen zu wollen!«

»Damit Ihr Euren Zauber erneuern könnt?« schlug Heinrich Institoris zurück.

»Ich bin keine Hexe. Außerdem wüßte ich nicht, daß Verführungskünste aus einer Frau schon eine Hexe machen. Wenn dem nämlich so ist, dann sollte das Umgekehrte auch für den Mann gelten – damit wären Eure beiden Zeugen schon Hexer!«

Das Gesicht des Inquisitors verdunkelte sich. »Weib, wagt es nicht, Euch über mich lustig zu machen!« Er atmete schwer auf und rang um Ruhe. Dies war nicht der richtige Weg. Der Inquisitor hatte immer der Überlegene, Gelassene, Ruhige bei einem Verhör zu sein, das wußte er schon sehr lange.

»Es ist nicht so«, sagte er langsam und kalt, »als ob der Liebestrank der einzige Beweis für Eure zauberischen Kräfte wäre. Ihr wußtet auch den Namen des Mannes, ehe er ihn Euch genannt hatte. Doch zweifellos werdet Ihr auch dafür eine Erklärung haben. So kommen wir nicht weiter. Ihr schwört also, keine Hexe zu sein und niemals zauberische Handlungen begangen zu haben?«

Zobeida war ein wenig erschüttert über den plötzlichen Tonwechsel. Wenn er nur das hören wollte, warum hatte er ihr diese Frage nicht gleich gestellt, sondern erst all diese albernen Sachen vorgebracht? »Natürlich«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich schwöre es.«

Der Inquisitor wies mit dem Kinn zur Tür. »Ihr könnt gehen, Frau.«

Die Männer schauten ihr nach, dann starrte der Richter Bruder Heinrich an. Dieser wandte sich an den Notar. »Habt Ihr ihre Aussage aufgeschrieben und das ›verhandelt wurde etcétéra‹ daruntergesetzt?«

Der Angesprochene nickte, während er noch hastig die letzten Zeilen kritzelte. »Was … was nun?« fragte der Richter unschlüssig. Er wußte nicht, was er von diesem plötzlichen Ende halten sollte. »Meint Ihr, daß sie sich gerechtfertigt …« Ein Blick von Bruder Heinrich brachte ihn zum Verstummen.

»Ich«, sagte der Inquisitor und betonte sorgsam jedes Wort, »bin fester denn je überzeugt, daß sie eine Hexe ist. Doch mehr kann nur durch ein Verhör erlangt werden, dem dreierlei Dinge vorangehen. Erstens müßt Ihr sie verhaften lassen, zweitens ihr Haus nach Hexengerät durchsuchen und drittens im Ort bekanntmachen lassen, daß jeder, der etwas Nachteiliges über sie zu sagen hat oder beobachtet hat, wie sie hext, sich sofort und ohne Furcht der Inquisition anvertrauen soll – als Denunziant.«

Der Richter starrte ihn an. Selbst bei den Ketzerprozessen der vergangenen Jahrhunderte wurde seines Wissens ein derartiges Mittel nicht angewandt. Es öffnete der Denunziation Tür und Tor, lud geradezu zur üblen Nachrede ein, und als er in seiner Erinnerung nach vergleichbaren Fällen suchte, kam ihm nur eine fast vergessene Geschichte aus dem alten Rom in den Sinn – Sulla und seine Proskriptionslisten.

»Warum habt Ihr sie dann gehen lassen?«

»Da Ihr nun einmal darauf bestanden habt, sie erst vorzuladen, bevor Ihr den Durchsuchungsbefehl gebt, müssen wir uns nun auch an das Gesetz halten und ein paar Stunden verstreichen lassen, bevor wir von neuem jemanden zu ihr schicken, selbst auf die Gefahr hin, daß sie nun flieht. Ich bin schließlich kein Rechtsbrecher. Doch ich werde jemanden hinschicken, der sie beobachten soll und sie an einer Flucht hindern wird.«

Rainer Wassermann bekreuzigte sich. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte schließlich fast unhörbar: »Ich bin noch nicht davon überzeugt, daß eine Verhaftung gerechtfertigt ist.«

Der weißbärtige Mann vor ihm beugte sich über den Tisch. Der Richter sah in zwei wasserblaue Augen, die ihn an Eis im Winter erinnerten.

»Mich wundert es sehr«, sagte der Inquisitor gedehnt, »daß Ihr diese Hexe so in Schutz nehmt. In der Tat, ich bin verwundert, und ich frage mich, warum.«

Während Wassermann sein Gegenüber wie ein von einer Schlange gebanntes Kaninchen anschaute, stieg zum ersten Mal eine Vorahnung jener Furcht in ihm auf, die er noch nie gekannt hatte, doch die im Laufe der Zeit noch Hunderttausende wie ihn packen sollte: die Furcht, selbst angezeigt zu werden.

»Natürlich war es Bruder Ludwig«, sagte Richard. »Dieser Dreckskerl! Dieser Schweinehund! Ihr hättet mir gleich davon erzählen sollen, Mama.« Wenn er sich vorstellte, wie Bruder Ludwig versuchte, seine Mutter zu vergewaltigen, packte ihn die blanke Mordlust. Seine Mutter!

Kein Wunder, daß der korpulente Bruder ihm in den letzten Tagen ausgewichen war, wo er nur konnte. Er hatte sogar eine Geschichtsstunde ausfallen lassen, angeblich aus Krankheitsgründen. O ja, er war ganz offensichtlich zu beschäftigt gewesen, um zu unterrichten. Damit beschäftigt, seine Mutter anzuzeigen …

»Was wird nun geschehen?« fragte Zobeida mit gerunzelter Stirn. Richard überlegte fieberhaft. Kirchliches Recht war schon immer ein schwacher Punkt bei ihm gewesen, und Hexen hatten ihn auch nie interessiert. Überdies unterstanden Hexen, genau wie Ketzer, auch der weltlichen Gerichtsbarkeit, da die Kirche keine Todesstrafe – die zwar bestimmt nicht in diesem Fall notwendig war – verhängen konnte, so daß sich beide Rechtssysteme vermengten und man nie sicher sein konnte, welches Gesetz nun Anwendung fand.

»Vielleicht belassen sie es bei dieser Vorladung«, sagte er ohne viel Überzeugungskraft.

Er war fast sicher, daß die Angelegenheit noch nicht ihren Abschluß gefunden hatte. Andererseits genügte das, was gegen seine Mutter vorgebracht worden war, sicher noch nicht einmal, um sie für ein paar Jahre ins Gefängnis zu bringen, das wußte sogar er. Daß Gefahr für ihr Leben bestehen könnte, kam ihm überhaupt nicht in den Sinn.

Etwas ehrlicher fügte er hinzu: »Wahrscheinlich werden sie Euch noch ein paarmal verhören, Mama. So wie der Inquisitor gepredigt hat, könnte das ziemlich unangenehm werden. Aber macht Euch keine Sorgen. Ich beschütze Euch.«

Zobeida blickte auf ihren zwölfjährigen Sohn und unterdrückte mühsam den Drang, der Anspannung der letzten Stunden in einem hysterischen Gelächter Luft zu verschaffen. Doch sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihn zu verletzen.

»Überhaupt«, sagte Richard jetzt, »alle Leute in der Stadt wissen, was für eine gute Frau Ihr seid. Und wenn der Pfaffe zu gemein zu Euch wird, verlassen wir Wandlingen einfach. Es gibt schließlich noch andere Klosterschulen, und mir wird schon schlecht, wenn ich nur an Bruder Ludwig denke. Oder wir könnten jetzt schon unsere große Reise beginnen, Mama!« Zobeida lächelte schwach.

»Und was wird dann aus dem zukünftigen Studiosus? Glaubst du, du weißt schon genug für eine Universität, mein Sohn?«

»Nein, aber«, Richard zog eine Grimasse, »genug weiß man eigentlich nie. Soll ich Euch sagen, was der berühmteste Ausspruch des großen Philosophen Sokrates ist? ›Ich weiß, daß ich nichts weiß!‹« Er zwinkerte ihr zu. »Und dazu der wichtigste Ausspruch des großen Reisenden Richard Artzt: Ich weiß, daß ich noch viel wissen will!«

So versuchten sie, den Rest des Tages wie sonst auch zu verbringen, mit Scherzen und Erzählungen, und Zobeida neckte ihren Sohn damit, daß er trotz ihres Vorbilds nur die notwendigsten Begriffe von der Heilkunst gelernt habe, keine wirklichen Geheimnisse, doch weder sie noch Richard konnten völlig den Schatten aus ihrem Bewußtsein verdrängen, den Schatten, der sich so plötzlich über ihr Leben gelegt hatte.

Richard nahm sich vor, am Montag zum Abt zu gehen und ihm von den Machenschaften Bruder Ludwigs zu berichten. Der Abt war doch sicher mächtig genug, um die ganze Angelegenheit aufzuklären, dem Inquisitor zu sagen, daß er sich geirrt hatte, oder?

Es war an der Zeit, alle Lichter zu löschen und schlafen zu gehen, doch die Unruhe in ihrem Herzen und jene unbestimmte nagende Furcht ließen sie den Moment immer weiter hinausschieben. Ihre Furcht war ihr selbst unheimlich, weil sie sich auf nichts Bestimmtes, keine gewisse Zukunft richtete, und plötzlich entschied sie, Richard in dieser Nacht bei sich schlafen zu lassen.

Er hatte das nicht mehr getan, seit er ein kleiner Junge gewesen war, doch heute würde es ihnen beiden helfen, nicht allein zu sein und dieses graue Etwas von Angst und Beunruhigung zu überstehen. Morgen, morgen würde alles ganz anders aussehen. Richard hatte recht, sie konnten Wandlingen jederzeit verlassen, wenngleich sie die Stadt, in der sie mit ihrem Sohn so glücklich gewesen war, vermissen würde.

Vorerst galt es allerdings, diese kommende Nacht zu überstehen. Es war ungewöhnlich warm für April, und Richard drehte sich ruhelos von einer Seite auf die andere. Er fühlte sich müde und doch zu wach, um zu schlafen, und in jenem dämmrigen Zustand kamen ihm Erinnerungsfetzen der letzten Zeit zugeflogen: Bruder Ludwig vor dem Abt, seine Mutter, die mit ihm am Flußufer nach Fröschen suchte (hervorragende Zeichenobjekte), der Inquisitor, der von der Kanzel herab auf eine gebannte Gemeinde einpredigte.

Er versuchte, an Angenehmeres zu denken, an seinen Geburtstag im Hochsommer. Alle anderen Jungen, die er kannte, wurden nur zu ihrem Namenstag beschenkt, seine Mutter dagegen hielt sich an die Sitte ihrer Heimat und feierte seine Geburtstage. Zobeida hatte ihren Arm um ihn gelegt, um ihn zur Ruhe zu bringen. Schließlich glitt er in die tieferen Regionen des Schlafes ab.

Dort vermischte sich auf seltsame Weise die Predigt des Bruders Heinrich mit dem Getuschel, das die Jungen im Kloster austauschten, wenn kein Mönch in der Nähe war. Die mächtige Stimme dröhnte in seinen Träumen: »Ihre Kehle ist glatter als Öl, ihr Busen ist ein wogendes Meer der Lust, ihre Hüften der Ursprung aller Sünde … eine Falle ist der Körper des Weibes … schöne Beine, schöne Schenkel, und Brüste, nicht wahr, Kuno, die Brüste … Fallen der Verdammnis … Haare wie Seide, und die Frauen, die Frauen …«

Er wachte jäh auf. Sein Körper erschauerte unter den Zuckungen seines Innersten. Scham und Angst erfaßten ihn, als er merkte, was geschehen war. Er hatte die anderen darüber reden hören, aber daß es ausgerechnet in dieser Nacht geschehen mußte …

Verzweifelt zerbrach er sich den Kopf, wie er es vor seiner Mutter verbergen könnte. Deo gratias, er hatte ihr den Rücken zugedreht, doch mit einem Mal war ihm das Gewicht ihres Arms, die fast unmerkliche Berührung ihrer Brüste in seinem Rücken schmerzhaft bewußt, und er hätte alles gegeben, um wieder in seinem eigenen Bett zu liegen.

Doch gerade als er überlegte, wie er aufstehen könnte, ohne sie zu wecken – und sie brauchte den Schlaf doch so notwendig –, hörte er das harte Pochen an der Tür im unteren Stockwerk. Er setzte sich auf, und als auch Stimmen dazukamen, rannte er nach unten, wobei er sich im Laufen noch hastig das Hemd griff, das er gestern unter seinem Wams getragen hatte.

Irgendwoher wußte er, daß, wer auch immer vor der Tür stand, er diesmal nicht gekommen war, um eine Hebamme zu holen. Doch als Richard am Fuß der Treppe angelangt war, hatten sie die Tür schon aufgebrochen.

»Was soll das bedeuten?« rief Richard empört.

Männer der Stadtwache, die Fackeln trugen, drangen ein, ohne auf ihn zu achten. Als ihr Anführer stellte sich ein Mann heraus, den Richard vom Sehen her kannte – Harald Epelstein.

»Geh aus dem Weg, Kleiner!« sagte er grob. »Wo ist deine Mutter?«

»Am heiligen Sonntag ist gut Hexen jagen«, feixte ein anderer, »und nichts zu befürchten.«

Über Richards Kopf hinweg erscholl eine andere Stimme. »Was«, wiederholte sie Richards Frage, »hat das alles zu bedeuten? Was wollt Ihr hier?«

Zobeida stand auf der obersten Stufe der schmalen Stiege. In der Dunkelheit wirkte sie bleich, doch ihre Wangen flammten, das Gewand, das sie sich hastig übergeworfen hatte, war nur unzureichend geschnürt, und ihre gelösten Haare bildeten eine nebelhafte Aureole. Richard schoß der Gedanke durch den Kopf, daß seine Mutter selten schöner ausgesehen hatte als in diesem Moment, da sie ihren Feinden entgegentrat.

»Sieh da, die Hexe«, rief einer, und Epelstein sagte: »Frau Zobeida, Ihr kommt besser mit uns, ohne Euch zu wehren.« Er wandte sich an seine Männer.

»Durchsucht das Haus! Der Pater hat euch gesagt, wonach ihr Ausschau halten sollt! Und wehe, ihr laßt mir etwas aus. Wenn ich nachher nur eine Truhe verschlossen finde …«

»Das könnt Ihr nicht tun«, sagte Richard und merkte erst eine Sekunde später, daß er nur leise gemurmelt hatte. »Das könnt Ihr nicht tun!« wiederholte er, fast schreiend.

»Wenn du nicht endlich aus dem Weg gehst …«

»Ihr faßt meine Mutter nicht an!«

»Hör zu, du Balg, wir haben keine Anweisungen, was dich betrifft, aber ich zeige dir gerne, wie ich mit frechen Kindern umgehe!«

»Versucht es doch, Ihr …«

»Richard!« Zobeida kam langsam die Treppe herunter. »Richard, nicht.« Sie sah Epelstein an. »Ich werde mit Euch gehen, keine Sorge«, sagte sie bitter, »nur laßt meinen Sohn in Ruhe. Ihr gestattet vielleicht auch, daß ich mich vorher etwas schicklicher herrichte.« Der Blick des Anführers wanderte unverhohlen von ihrem Gesicht über ihre ganze Figur.

»Aber warum denn«, entgegnete er spöttisch. »Für eine Hexe ist das genau passend. Immerhin …« Er deutete auf Richard. »Er kann Euch einen Umhang holen. Aber Ihr rührt Euch nicht vom Fleck.« Richard stand bewegungslos und musterte Epelstein. Zobeida erkannte, was er vorhatte, und sagte leise und beschwörend: »Bitte, Richard, hole mir meinen Mantel.«

Richard löste seinen Blick von Epelstein, schluckte, nickte stumm, drehte sich um und tat, was sie ihm aufgetragen hatte. Fieberhaft versuchte er, klar zu denken, zu überlegen, eine Lösung zu finden. Er wollte sich auf Epelstein stürzen, auf jeden dieser Männer, die anscheinend nun fündig geworden zu sein glaubten, denn man hörte erfreute Rufe, doch er wußte selbst in diesem Zustand, daß es überhaupt nichts nützen würde. Er hatte keine Chance. Nicht mit zwölf Jahren gleich mehreren erwachsenen Männern gegenüber. Es mußte einen anderen Weg geben … Der Abt! Der Abt würde seiner Mutter helfen, bestimmt würde er das, und je eher er von dieser Verhaftung erfuhr, desto besser!

Bruder Albert, Bruder Franz, all seine Lehrer, die immer so stolz auf ihn gewesen waren, mit denen er sich gut verstand – sie würden ihn und seine Mutter bestimmt unterstützen. Ja, es waren nur Bruder Ludwig und der Inquisitor, die eine Bedrohung darstellten, aber die Kirche stand hinter Zobeida und ihm.

Mit zitternden Händen legte er ihr den Umhang um die Schultern und flüsterte ihr hastig auf Arabisch zu, er würde Hilfe holen.

»Sprich gefälligst deutsch!« fuhr ihn Epelstein an. »Oder sind das etwa schon Zauberformeln?«

»Gehen wir jetzt endlich?« unterbrach Zobeida kühl, um Ruhe bemüht. »Ich ziehe nämlich jeden Ort Eurer Gegenwart bei weitem vor.«

»Bei Gott!« Epelstein blieb der Mund offenstehen. »Unverschämt wird das Weib auch noch …«

Es war das letzte, was Richard ihn sagen hörte, ehe er durch die Tür verschwand. Niemand achtete auf ihn. Schließlich war nicht er das Wild, nach dem sie gejagt hatten. Früher hätte er die Gegend blind gekannt, aber nun stolperte er durch die Dunkelheit, als sei jeder Stein, jedes Haus, jede Gasse neu für ihn. Und in gewissem Sinn war es das auch. Alles Vertraute hatte sich in eine grauenhaft veränderte Alptraumlandschaft verwandelt, in der er nun rannte, nicht im geringsten sicher, ob das Kloster überhaupt noch in dieser Welt war.