6

IN DEM RAUM, in dem der Abt im April Bruder Ludwig und dessen ungebärdigen Schüler empfangen hatte, hatte sich nichts verändert. Abermals saß der Abt an seinem Schreibtisch, und vor ihm standen ein Mönch und derselbe Junge. Doch diesmal erfüllte das Oberhaupt des Klosters St. Georg zu Wandlingen grenzenlose Bitterkeit.

Die Inquisition war nicht mehr hier, doch die Hexerei hatte in Wandlingen Einzug gehalten, ein Mönch war tot, und der Schüler, den er einmal zu einer Leuchte des Klosters zu machen gehofft hatte, war für immer der heiligen Kirche entfremdet.

In den Wochen, die seit der Verbrennung vergangen waren, hatten sie versucht, Richard wieder unter die Schüler zu mischen, das Leben da wieder aufzunehmen, wo es unterbrochen worden war, und waren vollkommen gescheitert. Während der Schulstunden und im Schlafsaal behandelten ihn seine ehemaligen Kameraden wie einen Aussätzigen, und Richard selbst hätte stumm und taub sein können, nach dem Maß seiner Beteiligung am Unterricht zu schließen. Auch die Nachricht von Bruder Ludwigs Ende hatte ihn nicht aufrütteln können. Am schlimmsten jedoch war die kalte Feindseligkeit, die er mit jeder seiner Gesten verriet.

Sie hatten sich, Bruder Albert allen voran, bemüht, mit ihm zu sprechen, aber Richard war allen Versuchen gegenüber so unempfindlich wie Stein gewesen. Wenn ihn einer seiner Mitschüler verhöhnte, schien er das nicht wahrzunehmen. Das ist kein Kind mehr, hatte der Abt in einer schwachen Minute einmal gesagt, das ist eine Marmorstatue.

Nein, Richard war für die Benediktiner verloren. Der Abt hob den Kopf und begegnete dem Blick des Jungen, und was er darin las, bestürzte ihn noch mehr. Es war nicht länger Haß, sondern Verachtung. Der Abt wäre mit Haß besser fertig geworden.

War es denn meine Schuld, dachte er gereizt, haben wir nicht alles getan, was wir konnten? Haben wir nicht große Gefahr auf uns genommen, indem wir uns der heiligen Inquisition gegenüber so abweisend verhielten und der Sarazenin sogar einen Verteidiger gaben? Ist das Ende meine Schuld?

Richard beobachtete ihn. O ja, sie verstanden alle nicht, was man ihnen vorwerfen konnte, diese ach so christlichen Mönche. Sie waren keine unmenschlichen Ungeheuer, das nicht. Sie fühlten Mitleid, wenn es angebracht war, und waren sogar bereit, im kleinen zu helfen – solange es nicht ihre eigene Sicherheit berührte. Feiglinge, Schwächlinge, einer wie der andere. Doch sogar Feiglinge konnte man noch ertragen, wenn sie sich ihrer eigenen Schwäche bewußt waren. Doch diese Mönche hielten sich für Helden, denen man Unrecht getan hatte.

»Nun, Richard«, sagte der Abt abrupt, »du kannst wohl nicht länger in Wandlingen bleiben, in der Stadt nicht und im Kloster auch nicht. Ich habe an deine Großeltern in Augsburg geschrieben. Heute kam eine Antwort, nicht von deinen Großeltern, sondern von der Schwester deines Vaters.«

Der Abt hielt einen Moment lang inne. Die hohe, geschwungene Schrift hatte ihn seltsam irritiert, und er war sich nicht sicher, ob die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, einer weltlichen Frau zustand. Doch im Großbürgertum neigten in den letzten Jahrzehnten einige Familien dazu, ihre Töchter diese Künste erlernen zu lassen.

»Sie wurde zu Anfang dieses Jahres mit Jakob Fugger vermählt«, er verzog ein wenig den Mund, »dem Kaufmann. Du wirst von ihm gehört haben. Dieser schwäbische Pfeffersack versteht es, sich bekannt zu machen, oder vielleicht sollte man besser sagen, berüchtigt.«

Er wußte, daß er sich in Nebensächlichkeiten verlor, doch diese Abschweifungen waren seltsam tröstlich und gaben ihm eine Art von innerer Sicherheit. »Wie dem auch sei, ihr Gemahl hat eingewilligt, dich in seine Familie aufzunehmen. In dieser Woche kommt ein Kaufmannszug der Fugger durch Wandlingen, dem du dich anschließen wirst.«

Er verstummte. Das Schweigen schien sich endlos hinzuziehen. Was gab es eigentlich noch zu sagen? Sollten sie nicht froh sein, einen undankbaren Jungen loszuwerden? Aber dann erinnerte er sich wieder daran, wie Richard früher gewesen war – so voller Lerneifer und Begeisterung.

»Du mußt verstehen«, sagte er auf einmal unbeholfen und achtete nicht auf die unwillkürlich abwehrende Geste des Jungen, »niemand hat ahnen können, daß Bruder Heinrich eine solche … eine solche Konsequenz zeigen würde. Ich fürchte, wir stehen am Anfang einer dunklen Zeit.«

Die Miene des Zwölfjährigen blieb kalt und unversöhnlich. Zeit, dachte Richard, er schwatzt hier von dunklen Zeiten und wendet alles ins Philosophische, anstatt zuzugeben, daß hier ein Mord geschehen ist! Noch vor kurzem war der Abt für ihn eine ehrfurchtgebietende Figur gewesen. Nun sah er nur noch einen ängstlichen alten Mann. Er hörte ihn seufzen.

»Du kannst gehen, Richard.«