8
HÄNSLE MUSTERTE RICHARD neugierig, während sie gemeinsam durch Augsburg schlenderten. Er wurde nicht recht klug aus seinem neuen Vetter, der so plötzlich aufgetaucht war. Seine Mutter hatte zwar gemeint, daß diese Heirat von Markus Artzt damals eine höchst unerfreuliche Angelegenheit gewesen sei.
»Es hat seinen Eltern das Herz gebrochen. Wir wollen hoffen, daß der Leichtsinn nicht in der Familie liegt, wenngleich es oft den Anschein hat. Mich wundert es überhaupt nicht, daß Sybille diesen Jungen zu sich genommen hat.«
All das klang sehr nach Abenteuer und Geheimnis, aber Richard erzählte nie aus seinem früheren Leben. Er erzählte überhaupt nie etwas wirklich – wie sollte man es ausdrücken – Geheimes, Wichtiges. Sie wurden gemeinsam unterrichtet und waren auch sonst oft genug zusammen, und Richard konnte nach den ersten Tagen auch nicht mehr als schweigsam bezeichnet werden.
Er unterhielt sich mit Hänsle, mit Ursula, mit jedem der jüngeren Fugger, mit Anselm und mit den vielen Kaufleuten, die im Dienst des Unternehmens standen, er scherzte mit ihnen und benahm sich auch sonst wie jeder andere, aber irgend etwas stimmte nicht.
»Ich bin froh, daß Anselm uns unterrichtet statt irgendwelche alten Mönche, du nicht?« fragte Hänsle, um eine Theorie zu überprüfen, die er sich zurechtgelegt hatte. Richard zuckte die Schultern und sprach von etwas anderem, und Hänsle hätte beinahe genickt. Das war es. Richard redete nie über Gefühle, und er zeigte nie eine Schwäche. »Weißt du, daß du Ähnlichkeit mit Onkel Jakob hast?«
Endlich war es ihm gelungen, Richard zu verblüffen. »Wieso? Inwiefern?«
Jetzt war es an Hänsle, sich geheimnisvoll zu geben. Er breitete die Arme aus. »Wenn du es nicht weißt …«
Eigentlich hätten sie beide schon wieder im Haus am Rindermarkt sein müssen. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Hänsle warf einen Blick zum Himmel und runzelte die Stirn.
»Wir müssen bald umkehren, wenn wir nicht zu spät zum Essen kommen wollen. Schade, ich wollte dir unbedingt noch die Schenke ›Zum grünen Faß‹ zeigen.« Er näherte seinen Mund Richards Ohr und flüsterte: »Es heißt, daß dort zur Zeit eine echte Hexe ihre Zauberkunststücke vorführt. Überleg dir das mal!«
Richards Reaktion war vollkommen unerwartet. Er stieß Hänsle mit einem Ruck von sich, daß der Jüngere beinahe hingefallen wäre, und brachte mit verzerrtem Gesicht hervor: »Du bist wirklich der leichtgläubigste Dummkopf, den ich kenne! Es gibt keine Hexen!«
Hänsle war eher gekränkt als verärgert. Er schniefte. »Natürlich gibt es die. Du …«
Doch Richard hatte sich schon wieder gefangen. Er bot Hänsle seine Hand. »Es tut mir leid. Du hast selbstverständlich recht.«
Hänsle zog eine Grimasse. »So hört sich Onkel Jakob an, wenn er gerade dabei ist, bei meinem Vater seine Meinung durchzusetzen. Siehst du jetzt, was ich meine? Glaub nur nicht, daß ich darauf hereinfalle.«
Doch er sagte es ohne Bösartigkeit, und nach einer Weile gingen sie wieder versöhnt nebeneinander her. Hänsle pfiff ein wenig vor sich hin, bis ihn Richard fragte: »Sag mal, weil du schon von Jakob redest – wie ist er eigentlich an das Tiroler Silber gekommen? Oder ist das geheim?«
Hänsle grinste. »Mitnichten. Aber du vergißt, ich bin ein Fugger. Wie wäre es mit einem Geschäft? Ich erzähle dir von dem Tiroler Silber, du erzählst mir, was du gegen Hexen hast.«
In der Dämmerung konnte er Richards Gesicht nicht mehr genau erkennen, doch er wunderte sich, als dieser ohne zu zögern antwortete: »In Ordnung. Das ist nur gerecht. Quid pro quo.«
Hänsle stolperte aus Überraschung über seinen raschen Sieg, und Richard mußte ihn auffangen. Richard war nicht größer als er, doch daß Sybilles Neffe älter war, spürte man an der Bewegung, mit der er Hänsle rasch und mühelos festhielt. Wie hatte er das Stolpern so schnell wahrnehmen können?
»Also«, begann Hänsle und verlor bald jede Unsicherheit, denn diese Geschichte war vertrautes Gebiet, »alles weiß ich auch nicht, ich meine, wieviel und welche Mittelsmänner, aber ich weiß das meiste. Jeder weiß das, es wurde ja dann rasch genug bekannt. Jakob hatte damals die Idee, Sigismund von Tirol Geld zu leihen, obwohl der seine Silbergruben längst an seine eigenen Untertanen verpachtet hatte und also nicht mehr über sie verfügen konnte. Jeder erklärte ihn für verrückt, Onkel Jakob, meine ich, nicht Sigismund. Übrigens war Sigismund vorsichtig genug, um nicht ausschließlich Fuggergeld zu leihen, er suchte auch andere Geldgeber, um unabhängig zu bleiben.«
»Und dabei stieß er auf ein paar freigebige Leute, die in Wirklichkeit ebenfalls für Jakob arbeiteten«, vervollständigte Richard. Hänsle starrte ihn an.
»Woher weißt du das?«
»Man nennt es Logik. Vergiß es. Und beeile dich, wir sind spät dran.«
»Nun, Sigismund hatte bei all seinen Höflingen und Beamten Schulden, auch bei den Soldaten, die jetzt auf einmal bezahlt werden konnten. Aber nicht von Sigismund. Jakob machte etwas völlig Neues, er zahlte nämlich direkt an Sigismunds Gläubiger statt an den Herzog, der das Geld doch nur für etwas anderes ausgegeben hätte. Auf einmal kam der Sold regelmäßig, die Beamten wurden bezahlt, und bald lief in Tirol nichts mehr ohne Fuggergeld. Dann verlangte Jakob Bürgschaften für sein Geld, aber nicht von Sigismund, sondern …«
»… von den Grubenbesitzern.«
Hänsle stieß Richard mit dem Ellenbogen zwischen die Rippen. »Wenn du schon alles weißt, warum fragst du dann? Ja, es waren die Grubenbesitzer, die für ihren Herzog bürgten, weil doch alles so wunderbar lief. Und als unser Onkel auch noch den Erztransport und die Münzerei auf der Pfänderliste hatte, ließ er den guten Herzog von seinen eigenen Landständen absetzen.«
Befriedigt registrierte Hänsle, daß Richard damit nicht gerechnet hatte. »Er tat was? Aber wie hat er das gemacht?«
»Sehr einfach – er ließ den Landständen die Wahl. Entweder ihr alter Herzog und kein Geld mehr, oder ein neuer Herzog, Maximilian von Habsburg, der Sohn des Kaisers. Keine Frage, wen sie wählten. Und keine Frage, daß ihr Silber jetzt dem Unternehmen gehört, durch ihre eigenen Bürgschaften und den neuen Herzog bestätigt.«
Richard sog scharf die Luft ein, dann lachte er und sagte etwas in einer Sprache, die Hänsle nicht verstand.
»Quid pro quo, Richard. Du bist dran. Die Hexen, erinnerst du dich?«
»Ach das. Nun, es ist dumm, aber du hast mich bei einem Aberglauben ertappt. Mir hat mal eine alte Frau geweissagt, ich würde durch eine Hexe sterben, und seitdem versuche ich, mir einzureden, es gäbe sie nicht. Bitte, erzähl das nicht weiter.«
Richard beschleunigte seinen Schritt noch etwas, so daß Hänsle nichts anderes übrigblieb, als ihm hinterherzurennen.
Dieser Spaziergang durch Augsburg blieb nicht der einzige. Richard entdeckte bald, daß die Stadt ihre Reize hatte. Sybille besuchte mit ihm die wenigen römischen Stätten, die noch von ›Augusta Vindelicorum‹ zeugten. Er fand es zunehmend schwierig, wie er es sich vorgenommen hatte, seine tadellos höfliche, aber distanzierte Haltung gegenüber Sybille durchzuhalten. Sie schien mehr zu begreifen, als sie eigentlich sollte, und ließ einige Wochen vergehen, bevor sie ihn zu einem Pflichtbesuch zu seinen Großeltern mitnahm.
Wenn es ihm schon schwerfiel, sich von Sybille fernzuhalten, so war es noch schwieriger, seine widersprüchlichen Gefühle gegenüber Jakob einzuordnen. Richard ertappte sich öfter, als ihm lieb war, dabei, wie er über den Gemahl seiner jungen Tante grübelte. Nun verhielt sich Jakob im Gegensatz zu Sybille weder lebhaft noch warmherzig. Er erinnerte Richard manchmal an eine dieser italienischen Uhren, die mit tödlicher Präzision liefen. Seine einzige schwache Stelle, wenn man bei Jakob Fugger von so etwas reden konnte, schien Sybille zu sein.
Es war nicht etwa so, daß er sie nach ihrer Meinung über seine Geschäfte befragte, zumindest nicht vor anderen, und Richard glaubte auch nicht, daß er es tat, wenn sie allein waren. Aber Richard bemerkte, wie ihre Augen sich trafen, wenn Sybille ein Zimmer betrat, erkannte die Veränderung in Jakobs sonst gleichbleibend leiser, kühler Stimme, wenn er mit seiner Gemahlin sprach, die kleinen Zeichen der Entspannung, der Heiterkeit in dem sonst unbeweglichen Gesicht. Und Sybille war die einzige, die gelegentlich respektlos mit Jakob umging, was bei ihm nur ein Lächeln hervorrief.
Doch es war nicht Jakobs Verhalten Sybille gegenüber, das Richard so fesselnd an ihm fand. Er wußte selbst nicht, warum er nach jener Unterredung in der goldenen Schreibstube sofort nach jemandem gesucht hatte, der ihm Schach beibringen konnte. Er wußte nicht, warum er Anselm so dringend gebeten hatte, ihm alles über Ungarn zu beschaffen – und es gab nicht viel –, nachdem er Jakob einige Male von diesem Land hatte sprechen hören. Er wußte nur, daß es Jakob gelang, seine Billigung wichtig erscheinen zu lassen, ohne jemals eine einzige Forderung zu stellen.
Richard beruhigte sich damit, daß Jakob Fugger eben der wohl klügste Mann in seiner Umgebung war, und er, Richard, nur aus diesem Grund seine Gesellschaft suchte – nicht etwa einer albernen Rührseligkeit wegen.
Die Monate vergingen bald wieder so schnell wie früher, und während am Rindermarkt alles für das Weihnachtsfest rüstete, schrieb Richard, der sich eigentlich der Mathematik widmen sollte, abwesend auf sein Blatt: Tempus fugit. Die Zeit flieht.
Zum Fest war der dritte der Fuggerbrüder mit seiner Familie aus Nürnberg eingetroffen. Georg, bisher eine unbekannte Größe, wurde von Richard bald als unauffälliger, fleißiger Kaufmann eingeordnet. Anders als Ulrich schien er Ehrfurcht vor seinem jüngeren Bruder zu haben und öffnete in Jakobs Gegenwart kaum den Mund. Was er sagte, hatte allerdings Hand und Fuß. Georg leitete den Handel mit Polen und den Hansestädten, und Richard, der ihn eifrig über den Osten ausfragte, bekam von ihm immer eine ausführliche Antwort. Seine Gemahlin Regina war eine behäbige blonde Frau, die nichts von Veronikas Herrschsucht oder Sybilles Zauber besaß und sich hauptsächlich mit ihren zahlreichen Kindern beschäftigte.
Die Spielleute und all das fahrende Volk, das zur Unterhaltung an der Tafel beitragen sollte, und die vielen Bediensteten, die Sybille für die Feiertagsfestlichkeiten zusätzlich eingestellt hatte, hatten Veronika zu einem gezielten Hinweis auf das Schicksal des Vetters Lukas veranlaßt, den Richard nicht ganz verstanden hatte. Der schwatzhafte Hänsle klärte ihn bereitwillig auf.
Vetter Lukas, so schien es, war das Familiengespenst. Seit die Brüder Andreas und Jakob Fugger im Jahre 1454 ihre Unternehmen getrennt hatten, gab es zwei rivalisierende Stämme der Familie. Lukas war der beste Kaufmann unter den Söhnen des Andreas, und der erste Fugger, der seine Geschäfte weit über Augsburg hinaus ausdehnte und sogar in Burgund und Italien Faktoreien errichtete. Kein Wunder, daß ihm der Erfolg zu Kopf stieg. Lukas bemühte sich sogar erfolgreich um ein Wappen und nannte sich von nun an stolz ›Fugger vom Reh‹, um sich von seinem biederen Vetter Ulrich und dessen Brüdern zu unterscheiden.
»Es kam, wie es kommen mußte«, schloß Hänsle, und Richard entschied, daß dieser Satz sehr nach Hänsles Mutter klang, »Vetter Lukas glaubte, er könnte alles verkraften, und lieh unserem König Maximilian, der damals nur Erzherzog war, zehntausend Gulden – fast sein gesamtes Kapital. Als Sicherheit bekam er von Maximilian eine ganze Stadt – Leuven. Das liegt irgendwo in Burgund, glaube ich. Erzherzog Max hatte gerade die Tochter von Karl dem Kühnen geheiratet. Deswegen konnte er die Stadt verpfänden, jedenfalls haben meine Eltern mir das so erklärt. Aber die Leuvener weigerten sich einfach, Vetter Lukas auch nur die kleinste Münze zu bezahlen, und die Reichsacht half da auch nicht viel weiter. Und so«, Hänsle grinste, »brach Vetter Lukas' Unternehmen zusammen. Jeder wollte sein Geld von ihm zurückhaben, als er von Leuven hörte, sein ältester Sohn bedrohte ihn sogar mit dem Messer, um sein Erbe ausgezahlt zu bekommen.«
»Und dann?« fragte Richard gespannt.
»Lukas floh aus Augsburg. Man sagt, er hätte nur noch vier silberne Becher und vier Löffel sein eigen nennen können. Die Familie, ich meine natürlich Papa und die Onkel, also die Familie stellte ihm dann das Haus in Graben am Lech zur Verfügung, aus dem der Urgroßvater Hans Fugger nach Augsburg gekommen ist. In dem Dorf sitzt er heute noch und verflucht alles, was sich ihm nähert. Er war eben größenwahnsinnig.«
Richard, der an das Tiroler Silber dachte, unterdrückte mit Mühe eine scharfe Erinnerung an die hunderttausend Gulden, die Jakob an Sigismund den Münzreichen verliehen hatte. Und diese Summe hatte nur den Anfang gebildet. Er musterte Hänsle, der gerade dabei war, sein neues hellrotes Barett auf den flachshaarigen Kopf zu drücken, und dachte, daß Versagen offensichtlich in dieser Familie als Todsünde galt. Mitleid mit dem ruinierten Vetter zu haben, schien Hänsle nicht in den Sinn zu kommen.
Er überlegte wohl nie, was geschehen wäre, wenn sein Onkel Jakob keinen Erfolg in Tirol gehabt hätte. Doch gerechterweise mußte Richard zugeben, daß Jakob nie den Fehler gemacht hatte, sich nur auf das Wort eines Fürsten zu verlassen. Jakob hatte auf der Unterschrift der Bürger auf den Schuldscheinen bestanden. Und was gehen mich Jakobs Geschäfte eigentlich an? fragte er sich ärgerlich. Warum beschäftigt er mich? Ich bleibe hier nur, bis ich alt genug bin zum Studieren. Nur so lange bleibe ich. Dann kann mir all das gleichgültig sein, diese Familie und ihre endlosen Geschäfte.
Aber – und der Gedanke machte ihn so wütend, daß er den Raum verließ, um nicht mit Hänsle zu streiten – es war ihm nicht gleichgültig.
Georg Fugger setzte sich zurück und strich sich zufrieden über den Bauch. Er schätzte Festlichkeiten, er genoß es, zu tafeln, und er liebte es, die Familie vollzählig beisammen zu sehen. Von allen Fuggern war Georg in seiner stillen Art vielleicht der am meisten familienbewußte. Es waren nicht nur geschäftliche Gründe gewesen, die ihn seinerzeit bewogen hatten, Ulrich zu überreden, Jakob aus dem Kloster zu holen.
Alle waren sie in der Fremde gestorben, Andreas, Hanns, Markus und Peter, und von den Mädchen war nur noch Anna am Leben. Das Haus am Rohr war mit einem Mal merkwürdig leer, und in Georg war die seltsam unvernünftige Furcht aufgestiegen, auch Jakob könnte sterben, ohne daß sie ihren jüngsten Bruder je richtig kennengelernt hätten.
Nicht, daß sie Jakob nach all den Jahren sehr viel besser kannten. Georg blickte zu seinem Bruder, der sich gerade mit ihrer Schwester Anna unterhielt, und schüttelte den Kopf. Er verstand Jakob nicht, aber er bewunderte ihn. Kein Fugger hatte dem Unternehmen je soviel Reichtum und Macht verschafft wie Jakob. Seine immer umfangreicheren Geschäfte übertrafen schon längst die legendären, wenn auch kurzlebigen Erfolge des Vetters Lukas vom Reh. Erst im letzten Jahr hatte Georg ein neues, verblüffendes Beispiel erlebt, als er für Jakob zu König Maximilian gereist war.
Maximilian, Kaiser in allem, nur dem Namen nach nicht, hatte es sich schon längst in den Kopf gesetzt, zum ruhmreichsten Feldherrn seiner Zeit zu werden, ein Vorhaben, das sein Vater mit großer Mißbilligung betrachtete. Friedrich III. hatte seit seinem Amtsantritt alle seine Zeitgenossen durch seine Friedensliebe irritiert, doch nun war er zu alt und zu krank, um seinem kriegerischen Sohn noch Einhalt zu gebieten.
Wenn Friedrich seiner Zeit voraus gewesen war, so hinkte Maximilian ihr hinterher, denn die heroischen Schlachten, die wie Turnierkämpfe abliefen, und die er sich vorstellte, gab es nur in der Legende. Turnierkämpfe waren denn auch das einzige Gebiet, in dem sich König Max allen anderen weit überlegen zeigte. Seine wirklichen Kriege verliefen ebenso zäh wie hoffnungslos.
Die Auseinandersetzung mit dem listigen französischen König, der es erreicht hatte, daß Ferdinand von Aragon Maximilian seine Unterstützung entzog, war an einem toten Punkt angelangt gewesen, doch Max konnte sich seiner Ehre wegen nicht zurückziehen. Nach dem Tod seiner ersten Gemahlin, Marie von Burgund, hatte er um Anne de Bretagne angehalten, eine der schönsten und reichsten Erbinnen auf dem Heiratsmarkt. Doch während er sich noch auf Brautfahrt befand, flüchtete sich Anne in die Arme des französischen Königs, ein Skandal, der Maximilian zur Spottfigur in ganz Europa werden ließ. Sofort hatte er dem Franzosen den Fehdehandschuh hingeworfen und befand sich nun in der ausweglosen Situation, einen Krieg weder fortführen noch abbrechen zu können.
An diesem Punkt war ihm Jakob zu Hilfe gekommen. Der Fugger hatte längst auch Beziehungen zu den Franzosen aufgebaut und schickte nun gleichzeitig seinen Bruder Georg in Maximilians Lager, um diesem die Möglichkeit zu geben, endlich seine leise rebellierenden Schweizer Söldner zu bezahlen, und einen Vertrauten ins Lager Frankreichs, um mit ähnlicher Überredungskraft auf einen Friedensschluß zu drängen. Georg lächelte in Erinnerung an den Frieden von Senlis, nach dem beide Seiten dem Unternehmen Ulrich Fugger und Gebrüder dankbar die großzügigsten Handelsbedingungen eingeräumt hatten. Das brachte ihn auf Maximilians neueste Pläne, und er rief seinem Bruder zu: »Jakob, hat der König wegen der Sforza auf dich gehört?«
Gleich darauf hätte er sich die Zunge abbeißen können. Was, wenn diese Sache noch immer geheim war? Doch Jakob ließ kein Zeichen von Ärger erkennen. Er nickte und entgegnete: »Es ist jetzt offiziell. Er hat bei dem Mailänder um sie angehalten.«
Er wandte sich seiner Gemahlin zu und erklärte: »Wahrscheinlich wird Bianca Maria Sforza, die Nichte des Regenten von Mailand, unsere nächste Königin. Es sollte mich nicht wundern, wenn Max uns nächstes Jahr mit ihr einen Besuch in Augsburg abstattet.« Ein mokantes Lächeln spielte um seine Lippen.
»Könige lassen sich gerne bewirten, wenn es nichts kostet, und ihm wird daran liegen, unsere guten Beziehungen zu pflegen. Ich bezweifle nämlich, daß Maximilian die vierhunderttausend Dukaten Mitgift, die Bianca in die Ehe bringen wird, zur Tilgung seiner Schulden bei mir verwendet.«
»Vierhunderttausend Dukaten«, wiederholte Ulrich, der zugehört hatte, ehrfürchtig, während Sybille aufgeregt fragte: »Du meinst wirklich, daß der König zu uns kommen wird?«
Jakob hob den Becher aus edlem Bergkristall, in dem dunkel der Wein schimmert, an seine Lippen. »Warum nicht?«
Ulrichs Ältester fragte mit gerunzelter Stirn: »Aber könnte es nicht sein, daß der König wenigstens ein bißchen von der Mitgift Euch gibt, Onkel? Er ist doch ohnehin schon hoffnungslos verschuldet?«
»Aber er wird die Mitgift und noch mehr für seinen nächsten Krieg brauchen«, wandte Richard ein.
Jakob blickte ihn an. »Und wo, meinst du«, fragte er gedehnt, »wird Maximilian als nächstes Krieg führen?«
Ulrich lachte. »Ach was, Bruder, wir wissen doch alle, daß er früher oder später einen neuen Krieg anfangen wird. Wenn es je einen Mann gegeben hat, der nicht stillsitzen konnte …«
Jakob schüttelte den Kopf. Er schaute immer noch auf Richard. »Ich hatte nicht den Eindruck, daß der Junge die Bemerkung so hingesagt hat. Also, Richard, wo wird der König als nächstes Krieg führen?«
Richard schluckte. Plötzlich schien ihm die Aufmerksamkeit der ganzen Tafel zu gelten. Die Gespräche waren zum größten Teil verstummt, und alle Nahesitzenden schauten auf ihn, Veronika und ihr Gemahl mißbilligend, Georg verwundert, Magister Pantinger interessiert, Sybille leicht besorgt.
Aber es war Jakob, den er ansah, als er antwortete. »In Ungarn«, sagte er nervös und versuchte, den Augen, die das Kerzenlicht zu einem intensiven Braun verdunkelt hatte, nicht auszuweichen. Er hatte sich diese Angelegenheit sorgfältig überlegt und hoffte, es würde ihm gelingen, Jakob einmal zu verblüffen. Ihr haltet Euch für so klug, dachte er, während er Jakob anschaute. Vielleicht seid Ihr das, aber ich bin es auch, und es macht mir nicht das geringste aus, wenn ich jetzt weggeschickt werde. Nicht das geringste.
»Der ungarische König Wladislaw hat keine Kinder, und es war nie ein Geheimnis gewesen, daß die Habsburger nach der Stephanskrone streben. Dazu wird der König die Mitgift brauchen, und deswegen«, seine Stimme wurde leise, fast unhörbar, »habt Ihr die Ehe für ihn vermittelt.«
Es herrschte nun Totenstille. Jakob verzog den Mund. »Welchen Vorteil«, fragte er, und seine Stimme war ausdruckslos, »hätte ich wohl von einem Krieg mit Ungarn?«
Richard biß sich auf seine Lippen, löste seinen Blick von Jakob und schaute schnell auf die zahlreichen Zuhörer, die sie hatten. Er entschied sich, griechisch zu antworten, denn er wußte fast sicher, daß außer Jakob nur Konrad Pantinger und vielleicht Sybille diese Sprache beherrschten, während einige lateinische Brocken, gerade genug, um etwas zu verstehen, selbst für Ulrich kein Geheimnis waren. »Die ungarischen Kupfervorkommen«, sagte er schnell.
Er merkte sofort, daß er einen Fehler gemacht hatte. Hänsle wurde zwar von Anselm längst nicht mehr im Griechischen unterrichtet, da er sich als hoffnungslos erwiesen hatte und diese Sprache für einen zukünftigen Kaufmann nicht unbedingt notwendig war, aber offensichtlich hatte er noch einige wenige Worte im Gedächtnis bewahrt. Zu viele. Er flüsterte seinem Vater etwas ins Ohr, und Ulrich Fugger sprang empört auf.
»Jakob, damit ist bewiesen, daß diese kleine Schlange, die du am Busen nährst, lauscht! Ich möchte nur wissen, wie er so oft in das Kontor kommen konnte!«
Jakob verschränkte die Hände. »Er ist es nicht, Ulrich, keine Sorge.« Er wandte sich wieder dem Neffen seiner Gemahlin zu. »Richard«, sagte er in seinem gewohnt kühlen, undurchsichtigen Ton, »gebraucht nur seinen Verstand.«
Sybille hatte ihren Gemahl ebenfalls während der letzten Minuten nicht aus den Augen gelassen und entschied sich nun, einzugreifen. Bewußt leichtfertig sagte sie: »Ach, Jakob, was für ein schlechter Gastgeber bist du doch – du fängst mit einer Hochzeit an und hörst mit einem Krieg auf! Solltest du uns nicht lieber ein wenig mehr über die Braut erzählen? Die Sforza sind das bedeutendste Herrschergeschlecht Italiens, oder?«
Konrad Pantinger nahm den Faden auf, und sie warf ihm einen dankbaren Blick zu, als er anstelle ihres Gemahls antwortete: »Oh, Frau Sybille, ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Lodovico Sforza ist sicher einer der reichsten Herrscher, aber der bedeutendste? Da ist noch Ferrante von Neapel, skrupellos und tückisch wie der Teufel. Da sind die Este in Ferrara – sie werden auch immer einflußreicher. Und da ist vor allem Lorenzo de'Medici in Florenz.«
Die Spannung, die an der Tafel geherrscht hatte, ließ nach. »Lorenzo de'Medici«, murmelte Sybille nachdenklich. »Das ist der Herzog von Florenz, nicht wahr?«
Pantinger lachte. »O nein. Florenz ist kein Herzogtum, und ein Florentiner wäre gewiß sehr erzürnt, wenn er Euch das sagen hörte. Sie sind alle sehr stolz darauf, eine Republik zu sein – die einzige in Italien, außer Venedig.«
»Aber wenn Florenz eine Republik ist«, fragte Richard, »wie kann die Stadt dann einen Herrscher haben?« Er runzelte die Stirn. »Ich dachte, die Medici seien Kaufleute.«
»Das sind sie«, sagte Georg lachend. »Ich darf sagen, wir wären alle sehr viel glücklicher, wenn sie nicht ganz so erfolgreich in diesem Gewerbe wären – stimmt das nicht, Jakob?«
Sein Bruder zuckte die Achseln. »Es wird nicht mehr lange dauern. Ein Mann kann unmöglich einen Stadtstaat und eine Bank gleichzeitig lenken.«
Heinrich Meutting, Anna Fuggers ältester Sohn, brach in Gelächter aus. »Das sagt der Richtige«, stieß er hervor, als er wieder zu Atem kam. »Was tut Ihr denn, wenn man fragen darf, Onkel? Muß nicht selbst König Max auf einen Feldzug verzichten, wenn Ihr ihm den Kredit sperrt?«
Sein Vater und Ulrich betrachteten ihn mißbilligend, Sybille leicht belustigt. Jakob blieb sachlich. »Wenn die Dinge«, sagte er, »einen Verlauf nehmen, der meinen Handel begünstigt, dann freut mich das.«
»Wehe, wenn sie es nicht tun«, murmelte seine Schwester Anna und handelte sich einen Rippenstoß von Georg ein.
Jakob fuhr fort: »Aber sich um die tagtägliche Kleinarbeit eines Staates zu kümmern – das ist eine völlig andere Sache. Es kann nicht gutgehen. Entweder man beherrscht eine Stadt oder eine Bank.«
Konrad Pantinger griff nach seinem Becher. »Nun, im Augenblick floriert die Bank der Medici noch«, sagte er und trank genußvoll.
»Seid Eurer Sache nicht so sicher, Fugger. Seit dem alten Cosimo sind die Medici die ungekrönten Herrscher über Florenz und ihre Bank. Cosimo und Piero haben es fertiggebracht. Warum nicht Lorenzo? Er ist ein erstaunlicher Mensch. Ein Mann, der sich selbst gegen den Heiligen Vater durchsetzen konnte und der seine Stadt nur mit seiner Zunge vor Ferrante von Neapel rettete … und ein Dichter, und ein Philosoph.« Er seufzte. »Ah, Florenz! Ich muß unbedingt einmal dorthin. Ich muß die platonische Akademie sehen.«
Richard setzte sich auf. »Die platonische Akademie?« fragte er.
Konrad Pantinger schaute ihn wohlwollend an. Noch einmal jung sein, dachte er. »Gewiß, mein Junge. Hast du noch nicht davon gehört? Cosimo de'Medici hat sie ins Leben gerufen, und Lorenzo leitet sie jetzt. Es sind die hellsten Köpfe Italiens, und die Thesen, die sie vertreten, sind wirklich ganz erstaunlich. Zuallererst behaupten sie, daß der Mensch sich selbst vervollkommnen kann, Körper und Seele.«
»Ketzerei«, warf Hieronymus Meutting, Anna Fuggers Gemahl, streng ein. »Der Mensch ist ein erbärmliches Geschöpf, das ewig unvollkommen und von Gottes Gnade abhängig bleibt.«
Pantinger breitete die Arme aus. »Ach, wer bin ich, um Euch zu widersprechen, Meister Meutting. Doch Marsilio Ficino von der Akademie behauptet noch viel mehr. Er sagt, es sei möglich, die heidnische Philosophie Platons und das Christentum miteinander zu verschmelzen. In seinem letzten Buch schreibt er: ›Wahre Philosophie ist Religion. Wahre Religion ist Philosophie‹. Und Pico della Mirandola geht sogar noch weiter. Er hat jüngst ein gewichtiges Werk vollendet, neunhundert Thesen, in denen er Christentum, Platons Lehre und den Islam zu einer Philosophie zusammenfügt.«
Pantinger wirkte plötzlich traurig. »Leider wird die Welt Picos Thesen nicht zu Gesicht bekommen«, murmelte er. »Seine Heiligkeit der Papst hat in seiner Weisheit entschieden, sie auf den Index zu setzen.«
Richard war entsetzt. Seit Pantinger begonnen hatte, von Florenz zu erzählen, hatte er seine eigenen zwiespältigen Empfindungen über die Familie Fugger völlig vergessen und ihm gebannt zugehört. Mit jedem Wort über die Akademie wünschte er sich mehr, die Platoniker ebenfalls kennenzulernen, ihre Werke zu lesen. Was Magister Pantinger da sagte, widersprach allem, was man ihm im Kloster hatte beibringen wollen, und erschien doch so richtig, so aufregend.
Was für Gedanken! Jeder, selbst Anselm, hatte bisher darauf bestanden, alle nicht von Christus inspirierte Weisheit sei unvollkommen, mit einem falschen Kern. Und jetzt dies! Es konnte doch nicht sein, daß Picos neunhundert Thesen einfach der Vergangenheit anheimfielen.
»Und Pico?« fragte Richard betäubt. Pantinger verzog das Gesicht. »Er lebt weiter in Florenz, lehrt, schreibt und lernt Sprachen. Er ist, mußt du wissen, der Kundigsten einer, spricht zweiundzwanzig Sprachen und …«
»Teufelswerk«, unterbrach Ulrich unmutig, weil ihn das Gespräch langweilte, dem er nicht länger folgen konnte. »Außerdem möchte ich wissen, wie wir darauf kommen. Wir sprachen doch von Maximilian und den Sforza.«
Gelächter brandete auf, und bald redete keiner mehr über die seltsame Stadt Florenz. Doch Richard vergaß nichts, und in dieser Nacht lag er noch lange wach und sprach die Worte vor sich hin wie Zauberformeln. Vielleicht würde er dort seine Antworten finden, die Beweise, nach denen er suchte, dort, unter den Denkern. Italia. Florenz. Lorenzo de'Medici. Die platonische Akademie. Pico della Mirandola.