I
Der Alptraum

1

DIE FRÜHLINGSSONNE schien hell durch das verglaste Fenster auf den Tisch, hinter dem der Abt des Klosters St. Georg zu Wandlingen saß und ein Dokument, das vor ihm lag, studierte. Die tanzenden Strahlen ließen einzelne Buchstaben wie dunkle Flecke hervortreten. Satzbruchteile fingen seinen Blick auf:

»Innozenz, Diener der Diener Gottes … Es sind uns große Beschwerden zu Ohren gekommen, daß in einigen Teilen Oberdeutschlands, wie auch … sehr viele Personen beiderlei Geschlechts, ihre eigene Seligkeit vergessend … die geliebten Söhne Heinrichs Institoris … Jakob Sprenger … daß diesen Inquisitoren das Amt solcher Inquisition erlaubt sei und sie zur Besserung, Inhaftierung und Bestrafung solcher Personen …«

Ein leises Hüsteln lenkte ihn von seiner Lektüre, der Bulle ›Summis desiderantes‹ des neuen Papstes Innozenz VIII. ab. Der Abt seufzte. Die neue Bulle war von höchster Wichtigkeit, und er hätte sich ihr gern ausführlicher gewidmet. Doch noch andere Aufgaben warteten auf ihn. Dieses Kloster beherbergte nicht nur Angehörige des Benediktinerordens, sondern auch eine Menge Schüler. Mit einem solchen befand sich Bruder Ludwig jetzt hier; der Abt hatte die beiden eintreten lassen, konnte sich jedoch nicht sofort von seinem Dokument losreißen. In dem Begleitschreiben, das von einem befreundeten Würdenträger der Kirche stammte, wurde die Bulle als Meilenstein bezeichnet. Und so warteten der Lehrer und sein Schüler schon an die fünf Minuten. Die Bulle mußte ein wenig zurückgestellt werden.

»Was gibt es, Frater?« fragte der Abt freundlich, doch mit ein wenig ungeduldigem Unterton. Bruder Ludwig zählte noch nicht lange zu seinen Mönchen. Vor einem halben Jahr war er aus Speyer gekommen und hatte nun den alten Bruder Andreas als Geographie- und Geschichtslehrer abgelöst. Die Schüler hatten, soweit der Abt wußte, bisher nicht allzu begeistert darauf reagiert, und er hegte den Verdacht, daß der neue Bruder aus diesem Grund zu ihm gekommen war.

Bruder Ludwig räusperte sich erneut. Er war ein mittelgroßer, unauffälliger Mann, ein wenig gedrungen, noch keine dreißig, doch sein Haar wäre auch ohne die Tonsur bereits schütter gewesen. Er blickte von dem Abt zu seinem Schüler und sagte schließlich unbehaglich: »Es handelt sich um diesen Schüler hier, ehrwürdiger Abt, Richard Artzt.«

In den Augen des Abts leuchtete erstmals so etwas wie Interesse auf. »Das dachte ich mir, Bruder Ludwig«, erwiderte er trocken, »doch was hat er getan?«

Der Mönch, der in der schwarzen Kutte der Benediktiner unnatürlich bleich aussah, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Er war kein begnadeter Redner, und er wußte, daß es dem Abt nicht gefallen würde, wenn er jetzt schon Schwierigkeiten mit den Jungen, die ihm anvertraut waren, nicht allein lösen konnte. Bruder Andreas hatte es immer verstanden, sich durchzusetzen, das hielt man ihm jedenfalls ständig vor, und dieser Junge war, wie es hieß, einer seiner Vorzugsschüler gewesen. Ludwig versuchte energisch zu wirken und straffte die Brust.

»Er schenkt dem Unterricht wenig oder überhaupt keine Aufmerksamkeit und widerspricht seinem Lehrer«, sagte er, und seine Stimme klang dünn und abwehrend zugleich.

Der Abt zwinkerte. »Nun, Richard«, sagte er, immer noch freundlich, »weißt du nicht, daß ein Schüler seinem Lehrer mit Gehorsam und Ehrfurcht begegnen muß?«

Der Junge verzog das Gesicht. »Ich gehorche doch … ich lerne jede meiner Lektionen. Wenn Bruder Ludwig mich im Unterricht aufruft, kann ich ihm jederzeit den Inhalt der Stunde wiederholen. Das ist doch wahr, oder?« wandte er sich herausfordernd an Ludwig. Dieser errötete. Der Abt griff ein.

»Richard«, sagte er streng, »dies ist nicht die Art, mit einem Erwachsenen zu sprechen, von einem Priester ganz zu schweigen.« Er schwieg einen Moment und musterte den Jungen. Richard war zwölf Jahre alt, doch eher klein für sein Alter, und seine leicht bräunliche Haut stach gegen die Blässe Bruder Ludwigs ab. Auch seine Haare waren braun, doch von einer satten, üppigen Farbe, die an Herbstlaub erinnerte und manchmal ins Rötliche, zu anderen Zeiten ins Schwarze überzugehen schien. Seine Augen funkelten tiefschwarz und gaben dem Jungen zusammen mit seinen hohen Wangenknochen einen fremdartigen Ausdruck. Richard hatte gerade, dichte Augenbrauen und einen feingeschnittenen Mund, der im Ärger schmal und hart wirkte. Wenn jemand Grund dazu hat, ärgerlich zu sein, dachte der Abt verdrießlich, dann bin ich es. Wo käme ich hin, wenn ich mich um jede kleine Unstimmigkeit zwischen Schülern und Lehrern kümmern müßte?

»Wenn Richard gelernt hat, was er lernen soll«, sagte er ein wenig müde, »dann sehe ich nicht, wo die Schwierigkeit liegt.«

Die Röte auf Bruder Ludwigs Wangen vertiefte sich noch weiter, was bei seiner sonstigen Blässe und dem korpulenten Körperbau äußerst unvorteilhaft wirkte.

»Er widerspricht mir«, sagte er hastig, »und das auf die abscheulichste und ketzerischste Weise. Das schadet meinem Ansehen bei den übrigen Schülern, ganz abgesehen davon, daß es sie zum Lachen bringt, wenn …«

Er verstummte. Richard vollendete unbekümmert: »Wenn Bruder Ludwig glaubt, ich hätte nicht auf seine langweiligen Lektionen geachtet, weil ich gezeichnet habe, und mich deswegen aufruft.« Er hielt ein wenig inne, dann fuhr er mit genügendem Respekt fort, um jeden zu täuschen, der nicht so erfahren war wie der Abt: »Ehrwürdiger Vater, ich liebe die Wissenschaften und schätze Bruder Ludwigs Unterricht, doch was soll ich machen? Wenn ich schweige, denkt er, ich sei unaufmerksam, und wenn ich also spreche und etwas zu dem sage, was er vorträgt, ist er auch unzufrieden. Ich möchte ein gehorsamer Schüler sein, aber wie?«

Der Abt bemerkte den Unterton von Ironie sehr wohl, anders als Bruder Ludwig, der durch diese zerknirscht wirkende Rede ein wenig besänftigt schien.

»Es sind nur deine ketzerischen Ansichten, Richard«, sagte er kompromißbereit. »Es ziemt sich einfach nicht, zu behaupten, die Kreuzritter seien manchmal wahre Schlächter gewesen, oder die Erde könne unmöglich flach sein. So etwas ist unchristlich und …«

»Aber Bruder Ludwig«, rief Richard, plötzlich wieder ohne jede Demut, »schon der berühmte Venezianer Marco Polo hat behauptet, daß die Erde gekrümmt sein müsse, Bruder Andreas hat davon erzählt. Und die Araber sind sich sogar ganz sicher, daß es so ist. Und es ist eine Tatsache, daß bei der Eroberung von Jerusalem die gesamte Bevölkerung niedergemetzelt wurde.«

Ludwig entgegnete unwillig: »Die Araber sind Heiden, und die Bevölkerung von Jerusalem bestand aus Arabern und Juden, also …«

»Aber Bruder Ludwig«, sagte der Abt tadelnd, »Ihr werdet Euch doch nicht mit einem Kind streiten, noch dazu mit einem Eurer Schüler?«

Er fragte sich langsam, ob Bruder Ludwig überhaupt schon geeignet war, Jungen in diesem Alter zu unterrichten. Am besten, man machte dieser Szene ein Ende, bevor der Mönch noch mehr von seiner Autorität verlor. Der Abt wandte stirnrunzelnd seine Aufmerksamkeit Richard zu.

»Du kannst gehen, Richard«, sagte er, doch bevor sich ein Lächeln auf Richards Gesicht breitmachen konnte, fügte er hinzu, »doch wenn mir noch einmal zu Ohren kommt, daß du Bruder Ludwig gegenüber nicht gehorsam bist, bleibst du die nächsten Monate Samstag und Sonntag hier. Nun verschwinde schon.«

Richard kniete hastig nieder, um den Ring des Abtes zu küssen, und eilte davon. Der Abt schaute ihm nach und schüttelte den Kopf.

»Frater«, sagte er, »was habt Ihr Euch nur dabei gedacht?«

Bruder Ludwig fühlte das dringende Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Er gestand sich ein, daß er gleich ohne den Jungen hierher hätte kommen sollen.

»Ehrwürdiger Abt«, stieß er hervor, »dieses Kind ist mir einfach unheimlich. Ich könnte schwören, daß er mir nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkt, und dennoch muß man ihm nie etwas wiederholen. Es ist, als begriffe er alles beim ersten Mal. Wie soll man so einen Schüler behandeln? Und dann diese ketzerische Redeweise …«

»Ja«, entgegnete der Abt abwesend, »jeder sagt mir, daß er ein hervorragendes Gedächtnis hat, besonders für Sprachen. Aber, Bruder«, er richtete die Augen wieder auf Ludwig, »wenn seine Argumente ketzerisch sind, so müßt Ihr ihn belehren, wie es einem Lehrer zukommt. Was Ihr eben getan habt, war einen Streit mit ihm anzufangen, als sei er in Eurem Alter! Das untergräbt die Disziplin!«

Sie schwiegen beide. »Richard kann schwierig sein«, murmelte der Abt schließlich, »gerade wegen seiner Begabung. Doch das hängt natürlich damit zusammen, daß seine Mutter eine Sarazenin ist.«

Ludwig verschluckte sich und mußte husten. »Seine Mutter«, ächzte er, als er wieder zu Atem kam, »ist eine Heidin?«

»Eine Bekehrte«, antwortete der Abt hastig. »Sie versteht mit Kräutern umzugehen und gilt als die beste Hebamme und Heilerin hier in Wandlingen. Manche sagen sogar offen, sie gingen lieber zu ihr als zu einem Bader oder zu einem Medicus. Da sie hier lebt, hat Richard die Erlaubnis, sie regelmäßig zu besuchen. Eine erstaunliche Frau, aber wie ich schon sagte, eine Bekehrte, und bei diesen Bekehrten weiß man nie, ob sie nicht manchmal, gewiß ohne Absicht, in ihren früheren Irrglauben zurückfallen oder Kleinigkeiten von ihm übernehmen. Ich wollte schon längst einmal jemanden zu ihr schicken, um die Stärke ihres Glaubens zu prüfen.«

Bruder Ludwig sah nachdenklich aus. »Mit Eurer Erlaubnis werde ich vielleicht auch allen zukünftigen Schwierigkeiten mit Richard aus dem Weg gehen können.«

Der Abt lächelte zufrieden. Eben dies hatte er beabsichtigt. Jeder rühmte ihm Richard als einen der ungewöhnlichsten Schüler, den das Kloster je gehabt hatte, und er hoffte, ihn für den Orden gewinnen zu können. Huldvoll streckte er die Hand zum Kuß aus, verabschiedete den Bruder und wandte sich dann wieder der Bulle zu, die er demnächst im Kloster vorlesen lassen mußte.

»… die Personen selbst, nachdem sie in obigem für schuldig befunden … nach ihrem Verbrechen zu strafen … an Leib und an Vermögen zu strafen … Gegeben in Rom zu St. Peter, im Jahr der Menschwerdung des Herrn 1484 … im ersten Jahr unserer päpstlichen Regierung.«

Die Sonnenstrahlen tanzten über das Blatt, während der Abt sich mit zusammengezogenen Brauen daranmachte, die Bulle des Papstes noch einmal von vorne zu lesen.

Das kleine Haus, in dem Zobeida Artzt und ihr Sohn Richard wohnten, lag nahe der Stadtmauer, in einer nicht sehr vorteilhaften Gegend, da viele Wandlinger ihren Abfall in dieser Umgebung liegen ließen. Doch eine andere Möglichkeit hatte es für Zobeida, die immer noch mit Mißtrauen betrachtete Fremde, nach dem Tod ihres Gemahls nicht gegeben. Daß man ihr überhaupt gestattete, innerhalb der Stadtmauern zu leben, lag nur an ihrem überragenden Können als Hebamme, mit dem sie sich auch mit der Zeit eine geachtete Position in der Gemeinde verschafft hatte. Mittlerweile hätte sie wahrscheinlich ein besser gelegenes Haus erwerben können, vielleicht sogar wieder den großen Kaufmannshof, in dem sie mit Markus Artzt gelebt hatte, doch Zobeida hielt an ihrem Heim unter den ärmeren Bürgern Wandlingens fest, aus purem Eigensinn und Stolz, wie viele meinten.

Richard war froh darüber. Als er an diesem Freitag spätnachmittags nach Hause kam, blieb er einen Augenblick auf der Schwelle stehen, denn seine Augen mußten sich erst an das Dämmerlicht im Inneren gewöhnen. Er atmete tief ein. Es roch vertraut nach Gewürzen, nach Wärme, nach Kräutern, Düfte, die er immer mit seiner Mutter in Verbindung bringen würde. Sie war nicht da, doch sie hatte ihm die Nachricht hinterlassen, sie sei von Emmerich Kühn geholt worden, weil seine Frau in den Wehen lag.

Richard liebte dieses Haus, und jedesmal, wenn er eine Woche Klosterleben hinter sich hatte, wanderte er hier ein wenig ziellos umher, nur um alle vertrauten Gegenstände wieder zu begrüßen, die so sehr von der Kargheit des Klosters abstachen. Sein Vater, Markus Artzt, war ein erfolgreicher Kaufmann gewesen, und überall standen Dinge, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte – bunte, edle Stoffe, von denen seine Mutter einige zu Kissen verarbeitet hatte, die sie der Sitte ihres Volkes gemäß auf dem Boden ausbreitete; andere Stoffballen jedoch behielt sie nur, um sich an ihrer Schönheit zu erfreuen.

Da gab es ein Schachbrett aus Persien mit feingeschnitzten Elfenbeinfiguren, die sogar von einem noch ferneren Land, dem legendären Cathay, stammen sollten. Richard kannte nicht viele Gegenstände, die aus Elfenbein waren, eigentlich überhaupt keine, außer den Figuren und einer Schnitzerei im Kloster, die eine Reliquie umschloß, und er strich liebkosend über ihre warme, glatte Oberfläche. Richard wünschte, er könnte sie benützen, doch seine Mutter beherrschte dieses Spiel nicht, und sonst gab es niemanden in Wandlingen, der es ihm hätte beibringen können.

Neben dem Schachspiel galt seine Liebe den weichen Teppichen mit ihren verschlungenen Mustern, die jedoch, wie seine Mutter ihm erklärt hatte, niemals etwas Bestimmtes abbilden durften, denn der Koran verbot jede bildliche Darstellung. Einer der Punkte, dachte Richard, wo das Christentum vernünftiger ist. Die Gemme mit dem Profil einer Frau, kunstvoll aus einem Halbedelstein geschnitten, die sein Vater aus Italien mitgebracht hatte, genügte schon, um ihm ein derartiges Verbot als völlig unsinnig erscheinen zu lassen.

Er bemühte sich, nicht auf das kleine goldene Kreuz zu sehen, das neben der Gemme lag; längst nicht so zart gearbeitet, hatte es dennoch eine gewisse Schönheit; es stammte aus Augsburg. Es handelte sich um das einzige Erinnerungsstück an die Familie seines Vaters in diesem Haus. Jene Familie, die seine Mutter haßte. Was Richard von ihr wußte, erfüllte ihn mit tiefer Abneigung: die Artzt' waren Angehörige des Augsburger Stadtpatriziats, seit Generationen schon, stellten Bürgermeister und Stadtschreiber, besaßen viele Häuser in dieser schwäbischen Stadt, die wegen ihres Reichtums in aller Munde war – und sie hatten Markus aus der Familie verstoßen, weil er die Sarazenensklavin geheiratet hatte, die er auf dem Sklavenmarkt in Venedig erworben hatte.

Nach einem erbitterten Streit mit seinen Eltern hatte Markus Augsburg für immer verlassen, was wohl für alle die beste Lösung war. In Augsburg erfuhr niemand, daß ein Mitglied der Familie Artzt eine Heidin zu seiner Gemahlin gemacht hatte, und Markus und Zobeida, die damals schon schwanger war, zogen nach Wandlingen. Richard hatte sich diese Geschichte Stück für Stück aus gelegentlichen Äußerungen seiner Mutter zusammenreimen müssen, denn Zobeida sprach nicht häufig von der Familie ihres Gemahls, und an seinen Vater hatte er nur ein paar vage, verschwommene Erinnerungen. Früher hatte er sich manchmal gewünscht, wie Perseus ein Held zu werden. Perseus, dessen Mutter von ihrem Vater verstoßen worden war. Dann würde er wie Perseus siegreich zu dem großmächtigen, arroganten Großvater gehen, ihm nur einen vernichtenden Blick zuwerfen – und dann im Jubel der Menge weiterziehen. Doch das waren kindische Träume, und langsam wurde er zu alt dafür.

Er schürte das Feuer unter einem großen Kessel mit heißem Wasser, den seine Mutter bereitgestellt hatte. Baden galt unter Christen abwechselnd als teuflisch und wohltuend. Zur Zeit sah man es wieder einmal als wohltuend an, und für die reichen Patrizier der großen Städte war es selbstverständlich, eine Badestube im Haus zu haben. Im kleinen, etwas rückständigen Wandlingen jedoch war man noch immer mißtrauisch und hielt sich, wenn überhaupt, an den Fluß. Richard hingegen nahm bei seiner Heimkehr immer als erstes ein Bad; seine Mutter hatte ihn mit dieser Gewohnheit der arabischen Völker großgezogen.

Die Feuerstelle war so gebaut, daß er mit einigem Geschick das erhitzte Wasser leicht in den hölzernen Badezuber kippen konnte, den er geholt hatte. Richard zog sich hastig aus und ließ sich dann zufrieden in der nassen Wärme nieder, die ihn angenehm schläfrig machte. Was wohl die anderen sagen würden, wenn sie ihn jetzt sähen? Er konnte es sich vorstellen.

Er war nicht eigentlich unbeliebt in der Klosterschule, aber er hatte auch keine wirklichen Freunde, und das Bewußtsein, daß seine Mutter eine Fremde war, hatte ihn für die anderen Schüler, die entweder dem reicheren Bürgertum oder dem Landadel der Umgebung entstammten, immer schon andersartig erscheinen lassen. Dabei war ihm die offen feindselige Haltung, welche die Nachbarn früher an den Tag gelegt hatten, immer noch lieber als die Seitenblicke und das versteckte Getuschel, das ihm bisweilen im Kloster begegnete.

Nicht, daß Richard sich je sehr um die Freundschaft der anderen Kinder bemüht hätte. Er hielt einen großen Teil seiner Altersgenossen für stumpfsinnige Jasager und zog die Gesellschaft seiner Mutter der ihren bei weitem vor. Und er liebte die Erzählungen ihrer weichen, musikalischen Stimme, die meist viel interessanter waren als die albernen Streiche, mit denen sich Thomas oder Kuno die Zeit vertrieben.

Er hatte sich gerade abgetrocknet und war in ein frisches Hemd und eine Hose geschlüpft, als seine Mutter zurückkehrte. Schnell lief er auf sie zu, küßte sie auf die Wange und sagte auf arabisch: »Herrin, warum verschwendet Ihr Euren Glanz nur an diese unwürdige Hütte!«

Zobeida lachte. Sie sah etwas müde und erschöpft aus. »Was ist heute geschehen?« fragte sie zurück. »Hast du etwas angestellt? Ich hatte schon auf dich gewartet, als Emmerich Kühn kam.«

Richard erzählte ihr von der Unterredung mit dem Abt und brachte sie noch einmal zum Lachen, als er heftig gestikulierend Bruder Ludwig parodierte.

»Diese Ketzerei kann ich nicht dulden, Richard! Was fällt dir ein, zu behaupten, ein Apfel sei rund? Er ist mitnichten rund, denn Hieronymus von Nirgendwo bezeichnet ihn als grünen Schlag, und daraus geht eindeutig hervor, daß er flach ist! Du wagst es doch hoffentlich nicht, an Hieronymus zu zweifeln! Du Ungläubiger, du Ketzer, du Nichts, du …«

Während sie mit ihrem Sohn lachte, entspannte sich Zobeida von den Anstrengungen der Wehen, bei denen sie geholfen hatte. Mathilde Kühn hatte eine weitere Fehlgeburt gehabt. Ihr Mann schlug sie so regelmäßig, wie er ihr Bett teilte, und behandelte sie nicht besser als einen Packesel. Er hatte die Nachricht mit einem Fluch entgegengenommen und war ins nächste Wirtshaus verschwunden, während Mathilde mühsam den Trank zu sich nahm, den Zobeida ihr bereitet hatte, um ihre Schmerzen etwas zu lindern.

»Gott haßt mich«, flüsterte sie, als Zobeida ihren Kopf hielt, und Trude, Mathildes ältere Schwester, hatte ihr sofort widersprochen und versichert, daß Gott sie liebe und das nächste Kind bestimmt lebend zur Welt käme.

Später, während sie Zobeida aus dem Haus begleitete, hatte Trude ängstlich gefragt: »Sie wird doch einmal ein gesundes Kind gebären, oder?«

Zobeida hatte in einem Anflug von Bitterkeit geantwortet: »Nicht, solange man sie bei ihrem Gemahl läßt. Ich habe Euch schon vor ein paar Wochen gesagt, daß sie wieder eine Fehlgeburt haben wird. Ihr solltet sie zu Euch nach Hause nehmen.«

Doch beide Frauen wußten, daß dies unmöglich war. Der Mann war der Gebieter, und Zobeida wie Trude, so sehr sie sich sonst auch unterscheiden mochten, waren mit dieser Ansicht großgeworden. In der Tat, dachte Zobeida, besaß Mathilde Kühn als Gemahlin eines freien Stadtbürgers nicht mehr Schutz als sie, Zobeida, in ihrer Zeit als Sklavin gehabt hatte.

Sie aßen zu Abend, und Zobeida ertappte sich einmal dabei, wie sie, als ihr Sohn ihr von seinen Schulabenteuern erzählte, mehr dem Klang seiner Stimme als seinen Worten lauschte. Es war schon nicht mehr eine richtige Kinderstimme, sondern erinnerte sie mehr und mehr an seinen Vater. Sie warf Richard einen liebevollen Blick zu. Bis auf die Haare glich er Markus überhaupt nicht; merkwürdigerweise wirkte sie noch abendländischer als er.

Zobeida hatte ihre Mutter nicht gekannt, wußte aber, daß sie eine Tscherkessensklavin gewesen war, und daß sie, Zobeida, von ihr das üppige blonde Haar und die hohen slawischen Wangenknochen geerbt haben mußte. Zobeidas Augen waren schwarz wie die ihres Sohnes, sie besaß einen großzügigen Mund und eine Gestalt, die sie zu einer der Hauptattraktionen jener Versteigerung in Venedig gemacht hatte, bei der Markus ihr begegnet war.

»Das Schicksal geht seltsame Wege«, sagte sie in Gedanken daran, »wäre mein Vater, Ibn Zaydun, nicht gestorben und hätte mich sein Neffe nicht verkauft, dann wäre ich nie nach Venedig gekommen. Und doch dachte ich am Tage des Verkaufs, mein Leben sei zu Ende.«

Zobeida war das Lieblingskind ihres Vaters, des Arztes Ibn Zaydun, gewesen, ihres blonden Haares und ihrer lebhaften Auffassungsgabe wegen, beides eine Seltenheit, die er zu würdigen verstand, denn er hatte keinen Sohn. Er lehrte seine kleine Tochter vieles über Arzneien, brachte ihr sogar Lesen und Schreiben bei, was fast ein Skandal war, und empfand die Freude eines Lehrers und Sammlers über ein seltenes Stück.

Zu wärmeren Gefühlen war er nicht fähig, und die anderen Töchter, die ihm Sklavinnen geboren hatten, interessierten ihn überhaupt nicht, obwohl er sie versorgte. Zobeida war sein Geschöpf, etwas noch viel Besseres als der sprechende Papagei oder der gelehrige Affe, den er besaß, und ihre Eigenwilligkeit entzückte ihn wie die eines Falken, den er aufsteigen ließ. Da diese distanzierte Freundlichkeit die einzige Art von Zuneigung war, die Zobeida in ihrer Kindheit kennenlernte, brachte sie ihrem Vater leidenschaftliche Liebe entgegen und war untröstlich, als er starb.

Bald sollte sie entdecken, daß es ihm nie in den Sinn gekommen war, dafür zu sorgen, das von einer Sklavin geborene Mädchen nach seinem Tod freizugeben, und so war Zobeida im Erbe seines Neffen inbegriffen. Der Neffe Ibn Zayduns war ein gutaussehender, heißblütiger junger Mann; er nahm die anziehende Halbtscherkessin sofort in sein Bett, und Zobeida machte in ihrer Trauer zum zweiten Mal den Fehler, jemandem ihre Liebe zu schenken, der diese längst nicht im selben Umfang erwiderte.

Als ihr neuer Herr in Geldschwierigkeiten geriet, wurde auch diese Illusion einer Liebe zerstört, denn er wollte sie kurzerhand an einen seiner Freunde verkaufen, und als er seine Geliebte daraufhin zum ersten Mal aufsässig und wütend erlebte, war er eher entsetzt als erzürnt. Er verkaufte sie auf dem Sklavenmarkt, was ihm als Strafe für ihre Unverfrorenheit zu genügen schien, wünschte ihr im übrigen Glück und vergaß sie.

Der Sklavenhändler, der Zobeida gekauft hatte, brachte sie mit einer Reihe weiterer Sklaven nach Venedig, denn die Kaufleute vom Rialto, die sich rühmten, eine der bedeutendsten Reliquien der Christenheit zu besitzen, und sich infolgedessen auch für eine der frömmsten Städte auf Erden hielten, fanden durchaus nichts dabei, gleichzeitig auch einen der größten Umschlagplätze für Sklaven aus aller Herren Länder zu unterhalten.

Der Sklavenmarkt war eine hervorragende Schule in der Kunst zu überleben. Schlage, bevor du geschlagen wirst, räche alles, was man dir zufügt, im selben Maß, denn sonst wird man es dir noch einmal antun – es sei denn, dein Herr tut es dir an. Als Zobeida an den Franken mit dem harten, schwer auszusprechenden Namen Markus Artzt verkauft wurde, war sie entschlossen gewesen, nur noch auf sich selbst zu achten. Auf dieser Welt sollte man keinem Menschen trauen und ganz gewiß keinen lieben.

Es hatte lange gedauert, bis sie glauben konnte, daß Markus sie mit all der Liebe und Zärtlichkeit überschüttete, nach der sie ihr ganzes Leben lang gehungert hatte, und bis sie sich auch in ihn verliebte. Es wurde von ihrer Seite aus allerdings eher eine zärtliche Freundschaft und Achtung als Liebe. Ihren Vater hatte sie angebetet, seinem nichtsnutzigen Neffen ihre ganze Leidenschaft geschenkt, und sie fühlte sich bisweilen schuldig, weil sie ausgerechnet diesem einen Mann, der ihretwegen seine Familie aufgegeben hatte, kein ebenso großes Maß an Zuneigung entgegenbringen konnte.

Als er auf einer seiner Reisen verscholl und die Nachricht kam, er sei wahrscheinlich von Straßenräubern erschlagen worden, trauerte sie aufrichtig um ihn. Aber es brach ihr nicht das Herz. Sie hatte ihre Aufgaben, die denen eines Arztes gleichkamen, und sie hatte ihren Sohn. Richard gehörte ihr, er war ihr Fleisch und Blut, er würde sie niemals verraten, und für ihn empfand sie die leidenschaftliche Liebe, die sie für seinen Vater nicht hatte aufbringen können. Er war alles für sie, und sie sorgte dafür, daß sie auch alles für ihn wurde – Mutter, Vater, Spielkamerad, Lehrerin, Freundin. Zobeida wäre es nie in den Sinn gekommen, noch einmal zu heiraten, sie war glücklich nur mit ihrem Kind.

»Und wenn mein Vater sich in Augsburg nicht mit seinen Eltern zu Tode gelangweilt hätte, wäre er auch nicht nach Venedig gekommen«, sagte Richard jetzt und kniff ein Auge zusammen. »Was ist mit Euch, Mama? Ich dachte, man dürfte nicht zu oft ›wenn‹ sagen?«

Zobeida zwang ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. »Das muß dir eine sehr kluge Frau beigebracht haben«, neckte sie. »Übrigens hatte Markus nicht nur seine Eltern, er hatte auch eine Schwester, die jedoch viel jünger war als er. Aber du hast recht – man soll nicht zuviel in der Vergangenheit stöbern.«

Sie sprach nicht gerne über die Familie Artzt. Denn Markus hatte ihr sehr viel mehr erzählt, als sie jemals an seinen Sohn weitergegeben hatte; sie fürchtete instinktiv, daß die stolzen Patrizier sich eines Tages überwinden und ihr Richard wegnehmen würden. Also verschwieg sie vieles und beschwichtigte ihr Gewissen damit, daß sie Richard getreu Markus' Wünschen als Christ erzog, daß sie sogar selbst vorgab, diesen Glauben zu teilen, obwohl sie ihn insgeheim für lächerlich hielt.

»Sehen wir lieber in die Zukunft«, sagte Zobeida leichthin. »Du solltest nicht absichtlich deinen Lehrer ärgern, mein Sohn, das ziemt sich nicht in deinem Alter.«

»Aber Mama«, protestierte Richard, »er ist so ein Esel, und Ihr habt doch selbst darüber gelacht.«

Zobeida versuchte, streng auszusehen. »Mea culpa«, sagte sie, einer der wenigen lateinischen Ausdrücke, die sie kannte. »Trotzdem, wenn du eines Tages eine Universität besuchen willst, brauchst du Empfehlungen von allen deinen Lehrern, so sagte man mir jedenfalls.«

»Aber er ist so langweilig – jeder findet das. Das einzige Mal, daß wir nicht alle in seiner Gegenwart fast eingeschlafen sind, war, als er an die Reihe kam, mit uns ins Badehaus des Klosters zu gehen. Er zierte sich entsetzlich, und schließlich kam heraus, daß er ein riesiges feuerrotes Muttermal am Rücken hat.«

»Armer Mann. Ich hoffe nur«, sagte Zobeida streng, »du hast nicht über ihn gelacht. Es gehört nicht viel dazu, sich über schüchterne Leute lustig zu machen.«

Richard machte ein reuiges Gesicht, konnte aber nicht widerstehen, hinzuzufügen: »Trotzdem bin ich froh, wenn ich erst eine Universität besuchen kann und nicht mehr das Kloster, wo jederzeit ein Bruder Ludwig als Lehrer droht.«

»Der vielleicht deine künftigen Doctores kennt.«

Richard zog eine Grimasse. »Ich werde doch nicht hier im Reich studieren«, widersprach er. »Ich werde überall hinreisen, in alle Länder, auch in Eure Heimat, Mama, und studieren werde ich dort oder in Italien. Es heißt, daß es in Italien die gelehrtesten Schulen gibt, seit die arabischen Universitäten in Spanien für Christen nicht mehr zugänglich sind.«

Es war eine von Richards Lieblingsbeschäftigungen, sich zukünftige Reisen auszumalen, und er zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß seine Mutter mit ihm kommen würde. Schließlich konnte sie ihre Heilkünste überall anwenden – was also sollte sie in Wandlingen?

Er holte sich Feder und Papier, um die Umrisse der Länder zu zeichnen, in die sie ziehen würden, und sie träumten gemeinsam von den fremden Städten, Landschaften und Tieren. Richard würde die Sprachen der Länder bald beherrschen, wie er auch nicht lange gebraucht hatte, um Lateinisch, Griechisch, Arabisch zu lernen, und Zobeida bedauerte, wenn sie an Italien dachte, ihm nicht mehr als ein paar mundartliche venezianische Ausdrücke vermitteln zu können – denn daß dieses Land am Anfang ihrer großen Reise stehen würde, hatten sie längst beschlossen.

Richard zeichnete schließlich auch die Gesichter einiger Menschen, die sie kannten, wofür er ein ausgesprochenes Talent besaß. Seine Darstellungen übertrieben, doch sie erfaßten das Wesentliche, und sie lachten beide über den trunksüchtigen Emmerich Kühn oder die keifende Lieselotte Schmidt. Dann wurde Zobeida wieder ernst.

»Dieser Mann ist böse«, sagte sie und deutete auf Emmerich Kühns Konterfei. »Es wäre ein Segen für seine arme Frau gewesen, wenn nicht das Kind, sondern er gestorben wäre. Wenn ich nicht Angst gehabt hätte, daß sie verblutet, hätte ich mich diesmal geweigert, Emmerich zu Hilfe zu kommen.«

Sie seufzte.

»Sowie sie einigermaßen gesund ist, wird er sie wieder schwängern und wieder schlagen, und sie wird noch eine Fehlgeburt erleiden, denn sie ist nicht sehr stark. Und eines Tages werde ich sie sterben sehen. So ungerecht ist das alles, mein Sohn, und so sinnlos.«

Um sie abzulenken, malte Richard hastig einen grotesken Bruder Ludwig, stellte ihn als Giftpilz dar, der sich drohend über eine Ameise beugte. Er fand ohnehin, daß Bruder Ludwig Ähnlichkeit mit einem Pilz hatte. Ludwig war nicht eigentlich dick, doch auch nicht schlank, und seine in Aufregung zitternden Wangen verliehen ihm einen schwammigen Gesamteindruck. Zobeida warf einen Blick auf sein Kunstwerk und lächelte wieder. »Ist das dein neuer Lehrer? Oh, Richard!«

Es wurde ein wunderbarer, von warmer Heiterkeit erfüllter Abend, und als Richard schließlich zu Bett ging, dachte er, daß er wahrhaftig ein gesegnetes Schicksal hatte. Sie würden für immer und ewig glücklich sein. Eine Welt voller Wissen und Abenteuer wartete. Wie herrlich war es doch zu leben!

Bruder Ludwig keuchte, als er schließlich vor dem Haus Artzt stand. Lange Fußmärsche waren nichts für ihn, und seine Erhitzung mochte daran schuld sein, daß er, ohne anzuklopfen, durch die angelehnte Tür trat. Er hatte sich einen Wochentag ausgesucht, um mit Richards Mutter zu sprechen, und schon einige würdevolle Sätze für die Sarazenin zurechtgelegt, die er sich dunkel, klein und üppig vorstellte, wie Heidenweiber eben sein sollten. Doch nun blieb er auf der Schwelle stehen und erstarrte, sich sofort bewußt, welchen Höflichkeitsfehler er gemacht hatte.

Die Frau, die ihm ihren Rücken zuwandte, war bereits angekleidet, und dafür dankte er jetzt Gott. Doch ihr Haar fiel ihr noch frei über die Schultern, und er konnte die Augen nicht davon abwenden – es war nicht dunkel, sondern blond, ein reiches, üppiges Silber, wie er es noch nie gesehen hatte. Es erweckte in ihm das Verlangen, es zu berühren, nur um festzustellen, ob es wirklich so weich war, wie es schien, und er bekreuzigte sich hastig.

»Frau Artzt?« fragte er unsicher. Das konnte doch nicht die Sarazenin sein!

Sie drehte sich um, ohne zu erschrecken. »Ihr hättet anklopfen sollen, Bruder«, sagte sie leicht vorwurfsvoll, aber freundlich. »Wartet einen Augenblick.«

Mit ein paar geübten Griffen steckte sie ihr Haar fest und verbarg es unter einer Haube. Nun gab es nichts mehr, um ihn zu verstören, nichts, außer diesem Gesicht, das bis auf die Brauen so dem ihres Sohnes glich, doch bei ihr in Schönheit gemildert war, nichts außer den dunklen Augen, in denen man ertrinken konnte, der berückenden Gestalt, die ihn beträchtlich verwirrte …

Ludwig wies seine Gedanken zurück. Was hatte er nur? Er hatte doch, weiß Gott, schon hübsche oder sogar schöne Frauen gesehen! Es lag gewiß nur daran, daß sie so anders aussah, als er sich eine Heidin aus dem Morgenland vorgestellt hatte, nur das konnte es sein.

Zobeida betrachtete ihn prüfend. »Fehlt Euch etwas, Bruder Ludwig?« fragte sie. »Habt Ihr vielleicht Schmerzen?«

»Woher kennt Ihr meinen Namen?« stammelte er töricht.

»Mein Sohn hat mir von Euch erzählt«, meinte sie leichthin, und bot ihm an, sich doch zu setzen, was er dankbar tat.

Seine Knie zitterten. »Euer Sohn«, murmelt er. »Frau Artzt, ich will mit Euch über Euren Sohn sprechen.«

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich jäh. »Hat er etwas getan?« fragte sie besorgt.

»Ja … vielmehr, nein, eigentlich nicht. Seht, Frau Artzt«, er fand allmählich zu der kleinen Rede zurück, die er vorbereitet hatte, »Richard äußert Zweifel, wo er keine haben sollte, und widerspricht bei Dingen, die als heilige Wahrheit gelten. Nun frage ich mich, ob er hier von Euch auch wahrhaft christlich erzogen wird, Ihr seid doch getauft?«

»Gewiß«, erwiderte sie spürbar erleichtert, was ihn etwas aufbrachte, denn er ahnte, daß die gesenkten Lider einen spöttischen Blick verbargen. Streng fragte er sie nach ihrem Katechismus, prüfte das Glaubensbekenntnis, die Zehn Gebote, erkundigte sich nach regelmäßigen Messebesuchen und fand alles zu seiner Zufriedenheit. Eine gottesfürchtige Frau, die ihr Leben nur in Wandlingen verbracht hatte, hätte nicht besser antworten können. Warum nur das Gefühl, daß sie sich leise über ihn lustig machte? Immer schon hatten die Mädchen und Frauen über ihn gespottet, und wie gut war es gewesen, der Gegenwart dieser Geschöpfe zu entrinnen, die ihm nur das Gefühl der Unbeholfenheit vermittelten. Ihm war heiß, er schwitzte, und die Luft flirrte vor seinen Augen.

Plötzlich fühlte er die kühle, leichte Hand der Sarazenin auf seiner Stirn. »Es geht Euch nicht gut, Bruder Ludwig«, stellte Zobeida sachlich fest, »wartet, ich hole Euch etwas zu trinken.« Ihre Haut war zart und roch ein wenig nach Kräutern. Warum hatte sie ihn nur berührt!

Er trank widerspruchslos, was sie ihm in die Hand drückte, und während sie ihm Ratschläge erteilte, hörte er ihr nicht zu, sondern beobachtete die Bewegungen ihres Mundes, weich und doch fest geformt.

Ludwig geriet von einer Verwirrung in die andere und beschloß, in den nächsten Tagen zu fasten. Wie gut, daß die Ankunft eines bedeutenden Mannes erwartet wurde, so daß man im Kloster viel zu aufgeregt war, um seinen Zustand bemerken zu können.

Er würde dem Abt über seinen Besuch berichten müssen, und der Abt besaß scharfe Augen, doch auch er war beunruhigt durch den angekündigten Besuch des Bruders Heinrich von den Dominikanern, jenes Heinrich Institoris, der in der Bulle des Papstes ausdrücklich genannt worden war. Niemand würde Zeit und Lust haben, das Verhalten des Bruder Ludwig zu untersuchen, und wenn Bruder Ludwig sich entschlossen hatte, zu fasten, warum nicht?

»Ich danke Euch, Frau Artzt«, sagte er abrupt und stand auf, noch ein wenig schwankend. »Doch jetzt muß ich gehen. Gehabt Euch wohl, achtet auf das Christentum Eures Sohnes und seid nochmals bedankt für Eure Hilfe!«

Er flüchtete geradezu aus dem Haus, und Zobeida sah ihm verwundert nach. Sie erzählte Richard nichts von Bruder Ludwigs Untersuchung, weil sie es für unwichtig hielt und ihn nicht gegen seinen Lehrer aufbringen wollte.