20

EBERDING WAR IN DEN nächsten Tagen mehr als ungnädig gestimmt. Er hatte angeordnet, daß seine Gehilfen dicht bei ihm blieben, und Richards Eigenbrödelei faßte er als bewußte Provokation auf.

Eigentlich hatte Eberding geplant, Richard wegen seiner guten Sprachkenntnisse bei den täglichen Geschäften und Verhandlungen mit den Tuchhändlern einzusetzen; außerdem war er in Augsburg angewiesen worden, Richards Wissen über die Goldschmiedekunst entsprechend zu nutzen. Doch um Richard nun etwas, wie Eberding bei sich dachte, die Zügel anzulegen, beschäftigte er ihn in erster Linie im Kontor, ließ ihn Briefe schreiben, Buch führen und Rechnungen ausstellen, bis die ersten Schreiben von Jakob Fugger eintrafen. Erst daraufhin gab Eberding Richard in einem Ton nachsichtiger Großmut die Anweisung, sich nun etwas mehr der Organisation des Goldschmuck- und Juwelenhandels zu widmen.

Richard bedankte sich und sagte nichts weiter dazu, obwohl er sich denken konnte, woher Eberdings Sinneswandel rührte. Auch er hatte einen Brief von Jakob bekommen, und er nützte seine erste freie Stunde, um sich in seine Kammer zurückzuziehen und das Schreiben zu entschlüsseln.

Auf dem Bogen, der über und über mit Jakobs geschwungener, klarer Handschrift überzogen war, stand in der linken Ecke eine kleine Ziffer. Richard rechnete rasch nach. Auf der Liste, die er zuletzt in der goldenen Stube gesehen und auswendig gelernt hatte, stand die sechs für den heiligen Augustinus. Sie verriet ihm außerdem die Sprache, in die er das Ganze übersetzen mußte, um die richtige Wortanzahl und Reihenfolge für die weitere Entzifferung zu bekommen. In diesem Fall handelte es sich um Latein, was ihm keine weitere Mühe bereitete. Insgeheim mußte er lächeln. Richard hielt es für keinen Zufall, daß Jakob als Schlüssel für diesen ersten Brief ausgerechnet den streitsüchtigen Aurelius Augustinus gewählt hatte. Das Lächeln wurde, während er sich hastig die Übersetzung notierte, zu einem breiten Grinsen. Verschlüsselt begann der Brief nach der Grußformel:

»Augsburger Zünfte schätzen Zölle, die man ständig beachten muß, deswegen so sehr, weil sie selbst davon Gewinn haben. Daß Calimala in Florenz, die darunter leiden, besonders seit Genua die Zölle erhöht hat, die Angelegenheit anders sehen, wundert mich nicht; aber was soll man machen? Doch nun zu dir. Bei neuen Bekanntschaften sieh nach ihrer Herkunft, frage nach ihrer Familie; ich möchte nicht, daß du dich mit übler Gesellschaft einläßt. Vermeide Du, zu spielen; wenn, nimm keine Karten – sie sind ein welsches Übel und das Unglück vieler junger Männer. Du gehst nicht zur Universität, sondern bitte zur Messe, und das jeden Tag, dort hörst du alles, was ein junger Mann zu wissen braucht, der Rest ist des Teufels. Glaube mir, die Universitäten scheinen mir wahrlich unsere Köpfe mit unnützem oder gefährlichem Zeug füllen zu wollen. Wie viele Jünglinge irren, wie viele nennen veraltet, was doch nur wahres Christentum ist …«

Nun machte sich Richard an den zweiten Teil der Entschlüsselung. Den Namenstag des heiligen Augustinus feierte die Kirche am achtundzwanzigsten August. Davon zog er drei Tage ab, eine geheime Absprache zwischen ihm und Jakob, von der Eberding, der, wie nun alle wichtigeren Angestellten der Fugger in Italien, bei seinen eigenen Briefen eine ähnliche Verschlüsselung anwandte, nichts wußte, und gelangte so auf den fünfundzwanzigsten August. Zwei-fünf-acht, dachte Richard, umgekehrt anzuwenden: acht-fünf-zwei. Er unterstrich bei allen Sätzen außer der kurzen, der nur vier Worten bestehenden Überleitung, jedes achte, fünfte und zweite Wort und schrieb sie in dieser Reihenfolge nieder. Anschließend las sich der Briefanfang so:

»Beachte« – Richard ersetzte das in Gedanken durch ›Beobachte‹, was im Lateinischen die gleiche Bedeutung haben konnte – »die Zünfte, besonders die Calimala. Frage nach neuen Karten, wenn Du zur Universität gehst. Unsere erscheinen mir veraltet. Wie viele …«

Er entschlüsselte zuerst stockend, dann immer schneller und flüssiger. Als er am Ende der zweiten Seite angelangt war, schloß er einen Augenblick lang die Augen, um sich den Inhalt nochmals einzuprägen. Dann hielt er Jakobs Brief und seine eigenen Notizen über die winzige Flamme einer Kerze und beobachtete, wie sich das Pergament erst bräunlich färbte und dann immer mehr zusammenzog, um schließlich in Asche überzugehen.

Märkte, Vorzimmer und Schenken waren in allen Ländern und zu allen Zeiten ein hervorragender Ort für Neuigkeiten und Gerüchte, und Richard brauchte nicht lange, um die beliebtesten Wirtshäuser ausfindig zu machen. Gerne wäre er ab und zu gemeinsam mit den anderen Gehilfen aus dem Fondaco losgezogen. Doch der Zusammenhalt, der auf der Reise entstanden war, bröckelte nun. Es gab vieles an Richard, das die anderen störte. Er war mit den Fuggern verwandt und mit Abstand der jüngste; außerdem zog er offensichtlich Universitäten und Bibliotheken dem guten Wein und Frauengesellschaft vor. Auch Wolfgang Schmitz zog sich immer mehr von ihm zurück.

Richard versetzte die vorsichtige, teilweise gar mißtrauische Zurückhaltung der anderen einen Stich, doch er unternahm keinen Versuch, etwas an der Situation zu ändern. Seine Aufgaben im Fondaco beschäftigten ihn voll und ganz, so daß es ihm entgegenkam, nicht darüber hinaus noch den frohgemuten Gesellschafter spielen zu müssen. Dennoch war er sich nicht ganz sicher, ob es nur das Sammeln von Information war, das ihn immer öfter in die belebten Handelshöfe und Tavernen von Florenz trieb.

Aufgrund seiner dunklen Haare und Augen fiel Richard nicht auf den ersten Blick als Fremder auf, und er bemühte sich ständig, seine Aussprache zu verbessern. Die Wirte fanden nichts weiter an dem schweigsamen jungen Mann, der nie sehr viel trank, stets gut zahlte und in der Regel nur aufmerksam zuhörte. Doch obwohl Richard hin und wieder auf wichtige Gesprächsfetzen stieß, wurde ihm schnell bewußt, daß sein Zeitaufwand in keinem sinnvollen Verhältnis zu den Ergebnissen stand. Er mußte systematischer vorgehen.

Außerdem lag sein letzter Besuch in einer Bibliothek inzwischen auch schon Wochen zurück, und wenn er mit seiner Suche nach den Ursprüngen des Hexenglaubens weiterkommen wollte, konnte er sich es nicht leisten, endlos in den Schenken herumzusitzen und ziellos über die Märkte zu ziehen. Am redseligsten würden die Meister, Gesellen und Lehrlinge der Zünfte wohl sein, wenn der Wein ihre Zunge löste und sie sich nur untereinander wähnten. Jetzt, da die sommerlichen Tage immer heißer und länger wurden, war die Zeit der Zunftfeste gekommen, und Richard beschloß, dort sein Glück zu versuchen.

Es war ihm schon länger aufgefallen, daß die Frauen, die in den Schenken bedienten, kein sehr beneidenswertes Leben führten. Von Wirt und Gästen gleichermaßen angebrüllt, schienen die Hübscheren unter ihnen Freiwild für viele zu sein, wenn auch die Jüngeren häufig nicht abgeneigt waren, sich ihren Lohn auf diese Weise ein wenig aufzubessern. Richard vermutete, daß einige der Älteren oder Häßlichen gewiß jede Gelegenheit ergreifen würden, auf andere Weise zu Geld zu kommen. Er war überrascht, den Leiter des Fondaco ohne große Überredungskünste für seinen Plan gewinnen zu können.

»Ich nehme an, das gehört zu Euren ›weiteren Pflichten‹, von denen Herr Fugger in Augsburg sprach. Schön, Ihr bekommt das Geld, aber ich erwarte eine monatliche Aufstellung, aus der genau hervorgeht, welche Ausgaben Ihr wofür getätigt habt – und damit das klar ist, für Unterschlagungen habe ich kein Verständnis!« schloß Eberding in seinem gewohnt knurrigen Ton Richard gegenüber.

Er hatte es sich nicht verkneifen können, den an Richard gerichteten Brief zu öffnen und zu lesen, hatte auch die sechs als Symbol für den heiligen Augustinus identifiziert, doch da ihm der letzte Schlüssel fehlte, hatte er damit nichts weiter anfangen können und das löste in Eberding eine gewisse eifersüchtige Gereiztheit aus, deren er sich im Grunde schämte.

Mit einer gefüllten Börse machte sich Richard auf den Weg zu den in Frage kommenden Schenken, wo ihn die Wirte inzwischen kannten und kaum mehr als Fremden wahrnahmen. Das Mädchen, das ihn im ›Lachenden Bacchus‹ bediente, hatte er für seinen ersten Versuch auserkoren. Sie war nicht hübsch, wurde ständig herumgestoßen und strahlte die entsprechende Verbitterung aus.

Sie stellte den Most, nach dem er gerufen hatte, so heftig vor ihm ab, daß ein wenig auf Richards Wams schwappte. Ärgerlich biß sie sich auf die Lippen und murmelte eine Entschuldigung, wobei sie einen ängstlichen Blick in die Richtung des Wirtes warf.

»Das macht nichts«, beschwichtigte Richard, »bei dieser Hitze ist es sogar eine Wohltat. Gibt es heute abend etwas, das du mir empfehlen kannst?«

Er fragte sie das jedesmal, wenn er diese Taverne besuchte, meistens mit einem kleinen Scherz verbunden, und so fügte er auch heute hinzu: »Etwas, was mich nicht gleich wieder so durstig macht, daß ich hinterher euren ganzen Weinvorrat leere.«

Das Mädchen entspannte sich etwas und gab zurück: »Wir haben heute Kapaune vom Ponte Vecchio bekommen, und die Tagliatelle sind auch sehr gut.«

»Tagliatelle«, entschied Richard, denn die Teigwarengerichte, die er erst hier kennen- und liebengelernt hatte, erweckten immer wieder die Neugier seiner Zunge. Bis das Mädchen mit dem Teller zurückkam, hatte er sich die Worte zurechtgelegt, mit denen er sein Anliegen zur Sprache bringen wollte.

»Weißt du, ich sitze hier eigentlich immer ziemlich allein«, begann er. Das Mädchen machte ein einigermaßen verblüfftes Gesicht und erwiderte mit jäh erwachendem Mißtrauen: »Das hat Euch doch bisher nicht gestört!«

»Nein, nein«, sagte Richard hastig, »es ist nur … ich würde gerne wieder einmal an einem Fest teilnehmen, unter Leute kommen, lustig sein. Hier findet doch bald das Zunftfest der Calimala statt, nicht wahr?«

Die Miene des Mädchens veränderte sich abrupt und ebenso ihr Ton gegenüber Richard.

»Ich bin nicht dumm«, entgegnete sie scharf. »Feste gibt's in Florenz genügend. Sagt schon, was Ihr wollt und sagt's schnell, weil ich hier nämlich arbeiten muß!«

Enttäuscht mußte sich Richard eingestehen, da er die subtileren Methoden der Bestechung noch nicht gut beherrschte. Oder lag es an dem Mädchen? Er entschied sich, nunmehr den direkten Weg zu gehen und nahm langsam zwei Silberstücke aus seiner Börse, hielt sie aber so, daß nur das Mädchen sie sehen konnte.

»Die hier jetzt und doppelt so viel später, wenn du mir sagst, wann in diesem Sommer das Zunftfest der Calimala stattfindet und mir an dem Abend einen Platz hier verschaffst!«

Damit hatte er sein Angebot gemacht und fühlte sich mit einem Mal merkwürdig verwundbar. Gespannt wartete er auf ihre Reaktion. Das Mädchen faßte unbewußt mit der freien Hand nach ihrem strähnigen geflochtenen braunen Zopf und begann, ihn zu drehen.

»Gebt mir zuerst das Geld, dann verrate ich's Euch!« verlangte sie plötzlich mit einer überraschend sicheren Stimme. Richard schüttelte den Kopf.

»Woher weiß ich, daß ich dir trauen kann?«

»Jetzt hört mir mal zu, Ihr … Ihr Hahn ohne Kamm«, zischte das Mädchen. »Der Teufel ist los für mich bei der Gildenaufsicht, wenn ich Euch so was erzähle, und er«, mit dem Kinn wies sie in Richtung des Wirts, »wirft mich sofort raus, das kann ich Euch sagen. Ihr wollt mir nicht trauen? Heilige Jungfrau, woher soll ich wissen, daß ich Euch trauen kann!«

Beide schwiegen sie einen Moment, während Richard im Geiste einen wegen der Verschwendung erbosten Eberding und eine vor den Kopf gestoßene Zunft gegen die Möglichkeit des Erfolges abwog. Gerade, als er sich entschieden hatte, das Risiko einzugehen, sagte das Mädchen, indem es sich mit einem Ruck freimachte:

»Ich weiß, wie wir's machen. Ihr gebt mir eine davon«, sie deutete auf die zwei Silbermünzen in seiner Hand, »und ich erzähl Euch was über die Calimala, was Wichtiges. Und wenn Ihr damit zufrieden seid, dann gebt Ihr mir noch eine Münze, und ich sag Euch, wann sie feiern, abgemacht?«

Richard überlegte kurz, dann schob er ihr eine der Münzen unter dem Tisch zu. So geschwind, daß es der Wirt nicht sehen konnte, schnappte das Mädchen danach und ließ sie in ihrer Schürze verschwinden. Dann nahm sie den Krug auf, den sie zusammen mit den Tagliatelle auf den Tisch gestellt hatte und beugte sich zu ihm herunter, als wolle sie seinen Becher nachfüllen.

»Er«, begann sie und Richard verstand, daß sie den Wirt meinte, »hat heute den ganzen Morgen mit seinem Sohn gestritten, weil Marcello nach Paris will, mit Messer Ricci. Sie haben beide so geschrien, daß man's im ganzen Haus hören konnte. Marcello sagt, Messer Ricci hat eine so hohe Position bei den Calimala, und sein Angebot ist einfach zu gut zum Ablehnen. Und der Alte schreit dann dagegen, Ricci hat viel Geld versprochen, aber wo bleiben die Garantien, und was ist das überhaupt für eine seltsame Unternehmung von den Calimala, wenn kein öffentlicher Vertrag bei den Gilden unterzeichnet werden soll.«

Richard versuchte, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Unternehmungen der Calimala in Frankreich? Sollten derartige Dinge nicht über den Fondaco laufen? War das vielleicht der Grund, warum Messer Ridolfi immer noch nicht mit den Konzessionen für Purpur herausrückte, weil er ein besseres französisches Angebot hatte? Es läge auf der Hand, Meister Eberding einen Hinweis zu geben, aber ihm klangen noch die ständigen Zurechtweisungen im Ohr, und es könnte nicht schaden, dachte Richard ein wenig maliziös, wenn man dem guten Eberding über Augsburg bewiese, daß man seinen Lohn auch verdiente.

»Weiter«, sagte er so gelassen, wie seine siebzehn Jahre es ihm ermöglichten, während in ihm die Freude des Jägers brannte, der eine Fährte aufgespürt hatte. Die Magd zuckte mit den Achseln.

»Nichts weiter. Er hat Marcello geprügelt, bis ihm der Arm weich wurde und damit hat sich's.«

In ihren Augen glomm für einen Moment unverhüllter Haß, und sie legte unbewußt eine Hand auf ihre Wange. Jetzt fiel Richard auf, was er vorher nicht erkannt hatte; der dunkle Fleck, der wieder sichtbar wurde, als sie die Hand sinken ließ, war nicht Schmutz, wie er ursprünglich angenommen hatte, und jetzt bemerkte er eine Menge solcher Flecken auf ihren Armen.

»Er schlägt dich auch, nicht wahr?« fragte er leise.

Sie verschränkte die dünnen Arme ineinander, als wolle sie sich schützen und erwiderte wütend: »Das geht Euch nichts an! Wollt Ihr jetzt wissen, wann das Zunftfest ist oder nicht?«

Statt einer Antwort legte Richard zwei weitere Münzen auf den Tisch, doch während sie danach griff, sagte er impulsiv: »Ich könnte dir eine andere Stelle vermitteln, weißt du.«

Im Fondaco würde sich gewiß irgend etwas finden, da war er sicher. Das Mädchen schaute ihn mit einem Ausdruck aufrichtiger Überraschung nachdenklich an, dann verzog sie den Mund zu einem winzigen Lächeln.

»Das ist nett von Euch. Aber das braucht es jetzt nicht mehr. Ich habe jetzt nämlich Freunde, mächtige Freunde, und die werden dafür sorgen, daß ihm noch der Tag leid tut, an dem er zur Welt gekommen ist!«

In einem Ausbruch haßerfüllter Bösartigkeit fügte sie hinzu: »Und ich will dabei sein, wenn ihn der Teufel holt!«

Diesmal war es an Richard, zusammenzuzucken. Es war möglich, daß sie die Redewendungen nur gebrauchte, um dem Haß eines getretenen Hundes Ausdruck zu geben, den man einmal zu oft geprügelt hatte. Vielleicht handelte es sich auch nur um einen Wunschtraum. Aber was, wenn sie wirklich meinte, was sie da sagte, was, wenn er hier zufällig auf die Spur von Leuten gestoßen war, die sich als Hexen und Zauberer ausgaben, wie die seltsame weißhaarige Frau in Augsburg, zu der ihn Barbara geführt hatte!

Doch noch war es zu früh, um mit dem Mädchen auch über diese Dinge zu reden. Er hätte sie verscheucht. Also fragte er statt dessen sachlich: »Nun, wann findet das Zunftessen statt?«

»In zwei Wochen, am Dienstag.«

Sie teilte ihm noch flüsternd mit, um welche Zeit er kommen solle, dann verschwand sie im Gedränge der sich mehr und mehr füllenden Schenke. Richard blieb grübelnd zurück. Die Nachricht über die Calimala war es wert, nach Augsburg übermittelt zu werden, doch sollte er damit nicht warten, bis er mehr Informationen hatte? Und wie konnte er dem Mädchen gegenüber die Hexerei zur Sprache bringen?

Endlich entschied er sich, heute nicht mehr sein Glück mit derartigen Bestechungen zu versuchen und gab statt dessen endlich dem Wunsch nach, wieder die riesige Bibliothek von Santo Spirito zu besuchen. Er hatte das Gefühl, es sich verdient zu haben.

In der Bibliothek waren nur noch wenige Besucher, und die kühlen, weiten Räume übten wieder ihren beklemmenden Zauber auf Richard aus. Er fragte leise nach dem Dante-Kommentar von Cristoforo Landino.

Der Mönch zog die Stirn in bekümmerte Falten. »Es tut mir leid, aber Fra Mario …«

»… liest ihn gerade. Er ist ein schneller Leser«, vollendete Richard. Er machte sich auf die Suche nach dem jungen Mönch und fand ihn schließlich.

»Ich dachte, Ihr wäret bei Eurer Polo-Übersetzung!«

Fra Mario drehte sich um. »Aber das bin ich«, entgegnete er mit gespielter Entrüstung. »Wißt Ihr nicht, daß Dante für uns alle, die wir in der Volgare schreiben wollen, ein unentbehrliches Vorbild ist?«

Auf seinem Pult lagen tatsächlich noch einige andere Bücher und mehrere Blätter, auf denen in einer feinen, langgezogenen Schrift Notizen gemacht waren. Mario klopfte mit dem Zeigefinger auf eines der Bücher.

»Bitte, mein bretonischer Polo! Aber Ihr, Riccardo, was ist mit Euch? Ich dachte eigentlich, ich würde Euch öfter in der Bibliothek zu sehen bekommen. Ihr seid sehr nachlässig für einen Studenten … oder seid Ihr mir in den letzten Wochen ausgewichen?«

»Eitelkeit ist eine der sieben Todsünden, Fra Mario«, gab Richard liebenswürdig zurück. »Meine Abwesenheit hatte mit Euch nicht das geringste zu tun. Ich sagte Euch doch, ich bin kein Student, ich bin Kaufmann, und Kaufleute sind gelegentlich beschäftigt … wie Ihr vielleicht gehört habt.«

Mario begann, unter seinem Pult nach etwas zu suchen und murmelte beiläufig: »Aber Ihr seid nicht gerne Kaufmann? Ihr wärt lieber als Student hier?«

Richard lag ein ›Nein‹ auf der Zunge, nur um des Widerspruchs willen, doch er besann sich eines Besseren. Er überlegte und erwiderte: »Ja und nein. Es war einmal mein Traum, in diesem Land zu studieren, und das ist nicht mehr möglich. Andererseits hätte ich als Student vielleicht gar nicht die Mittel gehabt, hierherzukommen, und dann habe ich in den Kontoren und Geschäften mehr Geheimnisse und Aufregungen gefunden, als ich je …« Er hielt inne. »Ich bin zufrieden«, schloß er brüsk und fragte sich, warum um alles in der Welt er dem unangenehm hellsichtigen Mario soviel erzählt hatte.

Dieser war inzwischen fündig geworden. »Ah, hier ist es. Nun, Riccardo, ich denke, dies hier wird Euch entschädigen, während ich den Landino beende.«

Richard öffnete den umfangreichen Band. Er war, wie er mit Kenneraugen feststellte, in Kalbsleder gebunden, gewiß ein sehr wertvolles Buch. Doch als sein Blick auf das Titelblatt fiel, spürte er, wie Erregung in seinem Blut pulsierte. Es handelte sich um Pico della Mirandolas ›De concordia‹. Er sah auf.

»Danke«, sagte er aufrichtig zu Mario. Er wußte, was für ein Risiko es war, das Werk eines Exkommunizierten zu besitzen, aber es nun gar in einem Kloster weiterzugeben …

Mario lächelte. »Ich sehe Euch dann … mein Sohn.« Er vertiefte sich wieder in seinen Dante-Kommentar, während Richard sich ein eigenes Pult suchte. Es war Richard lästig, jemandem verpflichtet zu sein, doch die Aussicht darauf, ›De concordia‹ lesen zu können, verdrängte sogar den Gedanken an die Calimala und die Möglichkeit, hier schon wieder Menschen gefunden zu haben, die zu ihrem eigenen Schaden und dem vieler anderer einen Aberglauben praktizierten. Er merkte kaum, wie die Zeit verflog. Nur einmal unterbrach er seine Lektüre, um sich von dem Bruder Bibliothekar ebenfalls Schreibwerkzeug zu holen. Er hätte am liebsten das ganze Buch kopiert, doch da dies unmöglich war, konnte er nur Ausschnitte aus Picos Gedankenwelt dem Papier anvertrauen.

»Körper und Geist stehen in vollkommenem Einklang miteinander, beide sind gut, beide sind schön«, notierte Richard. »Die Seele ist der Wendepunkt des Alls, das Tor, durch das von oben das Licht, die Schönheit und die Liebe in die Materie einfließen können. Freiheit des Menschen heißt, sich für die Öffnung nach oben zu entscheiden. Der aufs Irdische gerichtete Mensch liebt Gott in den Dingen. Der ungewandte Mensch liebt die Dinge, wie sie in Gott sind. Schönheit ist gut, denn sie ist Gottes Schöpfung, und Gott ist gut, denn er hat die Schönheit erschaffen.«

Schließlich räusperte sich leise jemand neben ihm. Fra Mario beobachtete ihn mit einem leicht belustigten Zug um die Lippen.

»Pico würde sich geehrt fühlen«, sagte er. »Aber unser guter Bibliothekar hier hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß wir die letzten beiden sind, die seinen Frieden noch stören. Riccardo, ich würde mich freuen, wenn Ihr mich in die Stadt begleiten würdet. Ich muß im Duomo etwas erledigen.«

Richard hatte das Bedürfnis, mit jemandem über diese erstaunliche Mischung aus Theologie und Philosophie, die er eben in sich aufgenommen hatte, zu diskutieren. Picos Art, die Welt zu sehen, war wundervoll, solange man sie las. Doch nun drängte sich Heinrich Institoris und eine Reihe anderer Prediger, die er in seiner Kindheit gehört hatte, in sein Gedächtnis zurück.

Auf den ersten Blick war die Entscheidung zwischen einem Pico della Mirandola und einem fanatischen Inquisitor einfach. Doch war dieser Inquisitor nicht selbst das beste Beispiel dafür, daß durch die menschliche Seele statt Licht Haß und Heimtücke in die Materie flossen? Und wie sah es mit der Harmonie zwischen Körper und Geist bei einem Bruder Ludwig aus?

Er entschloß sich also, dem jungen Augustiner zu folgen. Als sie das Klostergebäude verließen, sahen sie die abendliche Stadt zu ihren Füßen liegen, und Richard hielt unwillkürlich den Atem an. Er sagte nichts, doch Mario nickte. »Die von allen gekrönte Stadt«, zitierte er aus einem lateinischen Gedicht. »Sie ist wie ein makelloses Kunstwerk.«

Um den Moment der Verbundenheit abzustreifen, sagte Richard beiläufig: »Ihr scheint ja allwissend zu sein … Wieso schreibt Pico della Mirandola noch auf Lateinisch, wenn die Platoniker die toskanische Mundart so schätzen?«

Fra Mario schlug die Kapuze über seinen Kopf. »Ach, das ist ein ständiger Streitpunkt zwischen ihm und Landino. Landino würde am liebsten die Volgare zur Weltsprache erheben, und Pico kennt zu viele Weltsprachen, um sich dieser Meinung anzuschließen.«

Die rote toskanische Erde wirbelte auf, als sie sich auf den Weg machten, und Richard kam in den Sinn, daß die Wäschereien hier gewiß sehr gewinnbringend waren. Über das Zirpen der Grillen hinweg begann er, sich an sein Thema heranzutasten. »Glaubt Ihr eigentlich, daß Pico und Ficino und die anderen Platoniker im Recht sind, wenn sie den Menschen auf eine so hohe Stufe stellen?«

Mario schien die Frage zu überraschen. »Der Mensch ist das edelste unter den Geschöpfen Gottes«, entgegnete er nur.

Die Bitterkeit stieg in Richard auf. »Wenn ich mir ansehe, was die Dummheit, Eitelkeit und Gier der Menschen alles fertigbringen, habe ich meine Zweifel. Ich kenne kein Tier, das absichtlich grausam ist. Das bleibt ein menschliches Privileg.«

»Hm. Ihr befindet Euch da ganz im Einklang mit den Lehren der Kirche, Riccardo. Wie sagt der Prediger? Alles ist eitel.«

»Ich befinde mich nicht im Einklang mit den Lehren der Kirche, ich bin ganz anderer Meinung …«

»Ich dachte, Ihr bringt der Kirche die größte Bewunderung entgegen?«

Marios Mundwinkel zuckten, und Richard erkannte, daß er mit einem der ältesten rhetorischen Mittel hereingelegt worden war. Seine düstere Stimmung verflog, und er lachte. Der Florentiner kommentierte: »Ausgezeichnet. Ich dachte schon, Eure Leichenbittermiene sei Euch angewachsen.« Dann stimmte auch er in das Gelächter ein.

Während sie den Ponte Vecchio überquerten, sagte Mario: »Wenn unser Prior die Fastenzeit für einen von uns etwas leichter machen will, läßt er uns dreimal am Tag hier beobachten, wie ein Schwein geschlachtet wird.«

»Fra Mario«, fragte Richard plötzlich, »seid Ihr eigentlich freiwillig Mönch geworden, oder hat Euch Eure Familie …« Er geriet ins Stocken.

»Loswerden wollen?« vollendete Mario und zog das Gesicht in tiefe Falten. »Ich muß wohl sehr unpriesterlich wirken, wenn Euch kein anderer Grund einfällt, als die Familie.« In den blauen Augen blitzte Heiterkeit auf. »Es soll auch Priester geben, die einer inneren Berufung gefolgt sind, Riccardo.«

Richards Schritte beschleunigten sich. Er hatte noch eine weitere Frage, doch er unterdrückte sie – vorerst. Schließlich ragte vor ihnen Santa Maria del Fiore auf – Il Duomo. Er war, wie der Campanile und das nahe gelegene Baptisterium, ein Wunderwerk aus weißem und grünem Marmor. Eine wundervolle Symmetrie beherrschte den Bau, und die riesige Kuppel hatte in der ganzen Christenheit nicht ihresgleichen.

»Als Filippo Brunelleschi«, sagte Fra Mario, der Richards Blick gefolgt war, unvermittelt, »der Auftrag für die Vollendung des Duomo erteilt wurde, erfuhr er, daß er für die Kuppel mit Lorenzo Ghiberti in Wettbewerb treten sollte. Nun war Brunelleschi zwar ein Genie, aber auch äußerst eitel. Er stellte sich krank. Als man ihn zurückholen wollte, riet er, sich an Ghiberti zu wenden. ›Aber Ghiberti will nicht ohne dich arbeiten‹, sagte der Unglückliche, der die Aufgabe hatte, das beleidigte Genie zurückzuholen. Darauf sagte Brunelleschi: ›Gut, ich aber arbeite ohne ihn‹. Da habt Ihr die Toskaner, Riccardo!«

Richard entgegnete erheitert: »Immerhin, ohne ihn hättet Ihr jetzt nicht ein so herrliches Bauwerk.«

»Ja, herrlich«, sagte Mario und wurde mit einem Mal völlig ernst, »und blutbefleckt. Wißt Ihr, was hier geschehen ist?« Richard schüttelte den Kopf. Fra Mario bekreuzigte sich.

»Von hier ging das letzte große Blutvergießen aus, das wir in Florenz hatten – damals, als die Pazzi Giuliano ermordeten. Hat man Euch schon von Giuliano erzählt und von der Verschwörung der Pazzi?«

»Nicht wirklich. Ich meine, nicht genügend. Ich weiß nur, daß er ziemlich beliebt war und daß er ermordet wurde.«

Der Mönch verschränkte seine Arme in seinen langen, weiten Ärmeln. »Giuliano de'Medici war Lorenzos jüngerer Bruder. Als Lorenzo fünfundzwanzig Jahre alt war, entzweite er sich mit dem damaligen Papst, seiner Heiligkeit Sixtus IV.«

Mario stockte. »Gott weiß es, wir sind zu Gehorsam verpflichtet, doch zweifellos war es sehr weise von unserem Herrn, Sixtus vor fünf Jahren zu sich zu rufen. Doch damals, nach seiner Wahl, verschaffte der Papst seinen Verwandten alles, was die Kirche zu geben hatte – Städte, Herzogtümer, Lehen. Als er jedoch seinem Neffen Girolamo Riario die Stadt Imola kaufen wollte, verweigerte Lorenzo ihm den Kredit, denn damit hätte sich der Kirchenstaat bis unmittelbar an unsere Grenzen ausgedehnt. Lorenzo ordnete auch an, daß keine andere Florentiner Bank dem Papst etwas leihen sollte. Doch die Pazzi, die die Medici seit langem haßten, setzten sich nur allzu bereitwillig über diese Anweisung hinweg, so daß der Papst die Pazzi zu den alleinigen Bankiers des Vatikans machte. Damit war der Krieg zwischen den Medici und den Pazzi einerseits und seiner Heiligkeit andererseits erklärt.«

»Und dann?«

»Die Pazzi waren aber selbst untereinander zerstritten. So kam es zu einer Scheinversöhnung zwischen Lorenzo und dem Papst, zu deren sichtbarem Zeichen der Heilige Vater einen anderen seiner Neffen, den sechzehnjährigen Kardinal Raffaelo Riario, zu Besuch nach Florenz schickte. Während der Messe, die zu Ehren des Kardinals im Duomo zelebriert wurde, sollten dann beide Brüder ermordet werden. In dem Moment, als der Priester die Hostie hochhob, schlugen die Pazzi zu. Giuliano war sofort tot, doch Lorenzo nur am Hals verwundet. In der allgemeinen Aufregung konnte er sich in die Sakristei flüchten. Kaum hatte sich die Nachricht von dem Mordanschlag ausgebreitet, war die ganze Stadt in Aufruhr.«

Einen Augenblick lang schwieg der Priester. Ohne jedes Lachen, ernst und voller Trauer wirkte er wesentlich älter.

»Ich war damals noch ein Kind, doch ich erinnere mich an die Schreie an diesem Tag. Die Menschen waren wie wahnsinnig geworden, rotteten sich zusammen und brüllten Palle, Palle‹ – das ist der Kriegsruf der Medici – und brachten jeden Pazzi, den sie erwischen konnten, sofort um. Die meisten wurden gehängt, einige einfach zusammengeschlagen. Insgesamt starben etwa achtzig Menschen, bis Lorenzo die Lage wieder im Griff hatte und der Menge Einhalt gebieten konnte. Es war das Ende der blutigen Familienfehden«, sagte Fra Mario leise, »aber was für ein Ende!«

Die Glocken begannen zu läuten, und er schüttelte plötzlich den Kopf. »Ich fürchte, ich bin ein schlechter Florentiner – das ist nicht gerade eine Geschichte für jemanden, der diese Stadt besucht. Aber als wir hier ankamen, habe ich mich an Eure Frage nach der Natur des Menschen erinnert. Eine Kirche sollte ein Ort der Besinnung sein, doch der Duomo weckt in mir manchmal … nun, wie Ihr sagtet, Zweifel.«

Vielleicht war es der Abend, vielleicht der Gedanke an die Vergangenheit, vielleicht auch die Tatsache, daß der andere gerade eine Schwäche offenbart hatte – Richard überwand sich und fragte mit gesenkter Stimme: »Glaubt Ihr eigentlich an Hexen? Glaubt Ihr, daß es sie gibt?«

Mario hatte während seines Berichtes abwesend gewirkt, als erlebe er den Aufstand der Pazzi noch einmal. Doch nun wandte er seine ganze Aufmerksamkeit Richard zu, trat einen Schritt näher und heftete seinen Blick mit einer Intensität auf Richard, die alles andere, den Platz, die jungen Leute, die auf den Treppen des Duomo saßen und miteinander schwatzten, auszuschließen schien.

»Warum wollt Ihr das wissen?«

Seine Stimme klang beinahe hart. Richard biß sich auf die Lippen und schalt sich einen Dummkopf. Dies war ein Priester, einer der berufsmäßigen Hexenjäger. Warum hatte er nur gefragt? Was hatte er denn erwartet, Erleuchtung? Er dachte an den Abt, den er einmal für verehrungswürdig gehalten hatte, dachte an den Tag, als Bruder Ludwig mit ihm zum Abt gegangen war und dieser eine neue Bulle des Papstes studiert hatte. ›Summis desiderantes‹. Die Hexenbulle, in der jeder Zweifel an der Existenz von Hexen mit Androhung der Exkommunikation verboten wurde.

»Riccardo«, sagte Mario langsam, »wann seid Ihr zum letzten Mal zur Beichte gegangen?«

Richards fast schon verebbte Abneigung gegen den Mönch kehrte auf einen Schlag zurück. Beichte, wahrhaftig!

»Ich habe nicht die Absicht, Hexenmeister zu werden, falls Ihr das meint«, erwiderte er verächtlich.

»Das meinte ich nicht.« Mario legte eine Hand auf seine Schulter. »An Euch frißt etwas, und das vermutlich schon seit Jahren. Deswegen habt Ihr mich gefragt und deswegen meine ich, daß Ihr die Beichte braucht.«

»Mir fehlt nichts«, sagte Richard mit leiser, eiskalter Stimme und entfernte mit einer langsamen, präzisen Bewegung die Hand des Priesters von seiner Schulter. »Falls Ihr es genau wissen wollt, mich an die Kirche zu wenden und zu beichten wäre das letzte, was ich tun würde, wenn ich je in Schwierigkeiten geriete. Gute Nacht!«