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SELBSTMÖRDER, SO ERFUHR Richard, wurden wie Mörder in die Massengräber jenseits der Stadtmauern geworfen, unweit der Porta Romana auf dem dafür vorgesehenen ungeweihten Teil des Cimitero degli Allori, falls sie nicht einflußreiche Verwandte hatten, die dafür bezahlten, daß ihr Tod als Unfall dargestellt wurde. Richard hätte sein Gehalt dafür verwendet und zum Teufel mit den monatlichen Abrechnungen, aber weder der Wirt noch die Stadtwache, die um der Ordnung willen die Todesursache zu klären gehabt hatte, wären auf die Idee verfallen, die Leiche nicht sofort freizugeben. Angehörige hatte Lauretta anscheinend nicht gehabt, und daß ihre Freunde sich dieser Tage nicht um ihr Schicksal kümmern konnten, wußte Richard nur allzu gut.
Er suchte und fand den Friedhof, doch die Mönche des dortigen Kartäuserklosters, in deren Verantwortung der Cimitero degli Allori lag, konnten ihm nicht sagen, in welches Grab man Lauretta geworfen hatte. Richard stand lange vor den tiefen, breit ausgeschaufelten Gruben, wo die Leichen in Säcke verschnürt übereinander lagen, unkenntlich, von einer dünnen Schicht Erde bedeckt, um dem Brauch Genüge zu tun.
Irgendwo dort unten lag sie, das Mädchen, das ihm genügend vertraut hatte, um die Inquisition zu riskieren. Er hatte ihr Vertrauen mißbraucht, und sie war deswegen gestorben. Richard hatte seit dem Tod seiner Mutter über Jahre hinweg immer nur Glück gehabt – selbst das Fiasko mit Barbara hatte sich zum Guten gewendet –, so daß er noch immer nicht ganz begreifen konnte, daß seine persönliche Besessenheit diesmal jemanden das Leben gekostet hatte.
Er konnte Lauretta nicht mehr lebendig machen, doch er schwor sich, von nun an jenen Weg zu gehen, den Mario ihm gewiesen hatte – die Unrechtmäßigkeit der Prozesse nachzuweisen. Auf diese Weise würde er Leben retten können, nicht gefährden, und vielleicht würde das die Erinnerung an sein Versagen dem Mädchen gegenüber irgendwann mildern. Richard kniete nieder, um etwas von der roten toskanischen Erde in die Hände zu nehmen, und als er sich auf den Weg zurück in die Stadt machte, wurde sie schnell warm in seiner Hand, eine Last und eine Hilfe zugleich.
Der Mordanschlag auf Lorenzo und die Festnahme von ein paar ›Verschwörern‹ mit ominösem Hintergrund schlug zwar heftige Wellen in Florenz, doch mit der Zeit beruhigten sich die Gemüter wieder. Richard, ›den jungen Tedesco, der Lorenzo das Leben gerettet hat‹, einzuladen, war eine Zeitlang in Mode, doch obwohl man sich einig war über Richards Vorzüge als geistreicher Gast, konnte man auch aus ihm nichts Näheres über die Verschwörung herausbringen. Für Richard allerdings waren diese Einladungen ein unerschöpflicher Quell an Informationen. Nie zuvor hatte er mehr Klatsch über Menschen, Politik, Mode und die alltäglichen Eitelkeiten gehört; jedes nur erdenkliche Thema wurde ausgiebig besprochen, und seine Berichte an Jakob wurden immer häufiger und ausführlicher.
Vittorio de'Pazzi gelang es offensichtlich, aus Florenz zu entkommen, denn das nächste, was man von ihm hörte, war ein öffentlicher Auftritt in Rom im dortigen Palazzo der Riario. Er sprang bei einem Gelage stockbetrunken auf den Tisch und schwor, nicht zum ersten Mal, ›den Medici und allen ihren Handlangern‹ fürchterliche Rache.
»Ich würde an deiner Stelle vermeiden, nach Rom zu gehen«, sagte Mario eines Tages zu Richard, als er davon hörte, »die Pazzi vergessen nichts und niemanden, und ich möchte wetten, daß Vittorio jetzt deinen Namen kennt.«
›Die Zeit macht einen Bogen um Rom, doch durch Florenz reitet sie schneller als der Wind‹, lautet ein toskanisches Sprichwort. Für Richard waren die folgenden Monate angefüllt mit Vorlesungen, Disputen und der Arbeit im Fondaco. Er schickte seine verschlüsselten Nachrichten nach Augsburg und durchstöberte die Bibliotheken nach Werken über Architektur, Straßenbau, Bergbau, Mathematik, Waffenkunde und, wenn er die Zeit dazu fand, die Geschichte der Zauberei und Hexenprozesse. Da er in Eberdings Auftrag bald auch Reisen in andere italienische Städte wie Pisa und Bologna machte, blieb er in seinen Nachforschungen nicht auf Florenz beschränkt. Allmählich begannen sich bei ihm die Notizen für ein Buch zu sammeln, das die Ursprünge des Hexenglaubens bis zum heutigen Tag umfassen sollte. Eine große Hilfe für ihn war seine immer enger werdende Freundschaft mit Mario. Dabei verliefen die Diskussionen zwischen den beiden durchaus nicht immer harmonisch.
»Warum, zum Teufel, kann ich die These, daß es keine Hexen gibt, daß die Prozesse bis jetzt nichts als unter der Folter erzwungene Geständnisse erbracht haben und keine einzigen gültigen Beweise, nicht gleich an den Anfang stellen?« fragte Richard einmal ungeduldig.
»Weil man ein Pferd nicht vom Schwanz her aufzäumt, darum«, gab Mario ebenso heftig zurück. »So ein Buch muß man mit grundsätzlichen Erwägungen anfangen, sonst wird es gar nicht erst gelesen. Zum Beispiel wird man dir sofort das Argument entgegenhalten, Gott würde es nicht zulassen, daß Unschuldige verurteilt werden; das solltest du erst einmal entkräften, wenn du willst, daß man dir zuhört.«
Richard wollte protestieren, daß dieses Argument überhaupt keines wäre, doch dann biß er sich auf die Lippen und schwieg. Tatsächlich hatte Mario recht. Für ihn, Richard, mochte es überhaupt keine Frage sein, daß Gott den Tod von Unschuldigen zuließ, aber für die Leute, an die sein Buch gerichtet sein sollte, war dieses Argument sehr wohl schwerwiegend. Er dachte darüber nach und meinte schließlich:
»Mario, warum schreibst du mir nicht eine Argumentation wie die von Sprenger und Institoris, damit ich sie Punkt für Punkt entkräften kann?« Er konnte nicht widerstehen, ein wenig stichelnd hinzuzufügen: »Eine Argumentation ganz nach den Richtlinien der heiligen Kirche.«
Im Skriptorium hatte man sich längst an den Besucher gewöhnt, der ständig mit Fra Mario zusammensteckte, so daß man Richard erst bat, zu gehen, als sich außer ihm kein Laie mehr in der Bibliothek befand. Er und Mario waren so beschäftigt gewesen, daß sie die hereinbrechende Dämmerung nicht bemerkt hatten.
»Laß uns zusammenfassen, was wir haben«, sagte Mario bei ihrem nächsten Treffen, während Richard die Schachfiguren aufstellte. Der Umstand, daß Mario sich als geübter Schachspieler erwiesen hatte, war eine angenehme Überraschung für ihn gewesen und sorgte dafür, daß er selbst bei diesem Spiel in Übung blieb.
»Der erste Punkt. Läßt Gott zu, daß Unschuldige in die Hexenprozesse hineingeraten? Darauf schreibst du, Gott habe auch den Tod der Märtyrer zugelassen, was ich für ein ausgezeichnetes Argument halte, aber ob du in diesem Zusammenhang auch unsern Herrn Jesus als Beispiel für einen zu Unrecht Verurteilten aufführen solltest, weiß ich nicht.«
»Warum nicht?« erkundigte sich Richard mit hochgezogenen Brauen. »Findest du das blasphemisch?«
»Nun, sagen wir es so …«
Auf diese Weise vergingen Wochen und Monate, und als Richard zu einer Reise nach Venedig aufbrach, stellte er erstaunt fest, daß er schon über ein Jahr in Florenz lebte.
Es gab Probleme mit dem venezianischen Senat, der inzwischen natürlich gemerkt hatte, daß ein Teil des normalen Gewinns aus dem Fondaco dei Tedeschi nun fehlte und statt dessen über Florenz lief. Richard sollte als Repräsentant des florentinischen Fondaco seine diplomatischen Fähigkeiten einsetzen und die Herren gemeinsam mit Hänsle als Vertreter der Familie Fugger soweit wie möglich beschwichtigen. Außerdem hatte er sich vorgenommen, auf dem Weg nach Venedig in Bologna und Ferrara haltzumachen. Diese beiden Städte, so hörte man in Florenz, hatten neue Architekten angeworben, um ihre Stadtmauern zu verstärken und umzubauen, denn die laufend weiterentwickelten Kanonen spielten in jeder kriegerischen Auseinandersetzung eine immer wichtigere Rolle. Dem wollte man begegnen.
Richard nahm an, daß diese neuen Befestigungen Jakob sehr interessieren würden. Denn schließlich lieh man Maximilian nicht nur das Geld, um Kanonen zu erwerben, sondern verkaufte dem Habsburger eben diese Kanonen, hergestellt in den fuggereigenen Gießereien aus dem Erz, das ebenfalls so gut wie ausschließlich in Fuggerhand war.
Bologna, mit mehr als vierhundert Jahren die älteste Universitätsstadt Italiens, blieb jedoch hinter Richards Erwartungen zurück. Er skizzierte zwar die Bauanlagen und Festungsmauern, so gut er konnte, schnappte auch einigen Klatsch von den Handwerkern auf, doch es gelang ihm nicht, mit den Architekten selbst zu sprechen. Da er der Angelegenheit im Moment nicht besondere Dringlichkeit zusprach, hielt er sich in den beiden Städten nicht weiter auf und traf schließlich innerhalb der geplanten Zeit in Venedig ein, wo ihn Hänsle, der sich inzwischen als weitgereister Mann von Welt fühlte und alle Mittel kannte, um die Beschränkungen des Fondaco durch Bestechung zu umgehen, begeistert begrüßte.
»Wenn ich daran denke, wie rückständig wir in Augsburg waren! Richard, du mußt unbedingt Fiammetta kennenlernen! Ach, übrigens, könntest du Onkel Jakob nicht dazu bekommen, daß er mir das Salär erhöht? Mein Vater jammert in jedem Brief über die Wechsel, die er mir ausstellen muß!«
Trotz seiner Freude über das Wiedersehen wollte sich Richard nicht länger als notwendig in Venedig aufhalten. Die Stadt bedrückte ihn, und mochte es auch nur der Gedanke an den Sklavenmarkt sein, den er bisher sorgsam gemieden hatte. Nein, er würde um keinen Preis der Welt mit Hänsle tauschen wollen, und fast hätte er etwas in der Art gesagt, als er eines Abends von den stundenlangen Verhandlungen mit dem Repräsentanten des Senats zurückkam. Hänsle hatte die Gespräche enthusiastisch mit Richard zusammen begonnen, ihm dann die Sache aber recht schnell alleine überlassen.
»Ich kann mir einen angenehmeren Zeitvertreib vorstellen, als mit dem alten Sauertopf von Capello Spitzfindigkeiten auszutauschen«, meinte er sorglos, als Richard sich erschöpft in einen der üppig gepolsterten Sessel fallen ließ. »Der wollte übrigens zuerst kaum glauben, daß du zur Familie gehörst, weil du wie ein Florentiner sprichst. Ich wette, inzwischen hast du ihn völlig eingewickelt, obwohl mir nicht klar ist, was das ganze eigentlich soll. Letzten Endes muß er sich doch nach denen richten, die das Geld haben, und das sind wir. Aber ansonsten – sag selbst, ist Venedig nicht die wunderbarste Stadt der Welt?«
»Ich habe meine Zweifel«, erwiderte Richard trocken. »Und irre dich nicht mit dem Geld. Solange Venedig das Zentrum des Seehandels ist, solange sind die Menschen hier nicht auf ein einziges Unternehmen angewiesen, und sei es auch noch so mächtig. Sie können jederzeit die Welser …«
»Ach was, die Welser«, winkte Hänsle mit einer großzügigen Handbewegung ab, die gleichzeitig auch alle lästigen Handelseinzelheiten fortzuwischen schien. »Du hättest mich erleben sollen, als dieser eingebildete Sohn vom alten Anton Welser es gewagt hat, mich hier mit ›Hänsle, wie steht es denn am heimatlichen Webstuhl‹, anzusprechen. Für Euch, habe ich da gesagt, für Euch bin ich immer noch Herr Hans Ulrich Fugger oder auch Ulrich Fugger der Jüngere, aber niemals und auf keinen Fall ›Hänsle‹.«
Richard lachte, dann wurde er ernst. »Nimm es mir nicht übel, aber ich glaube, du machst es dir hier zu leicht.«
»Und ich glaube«, gab Hänsle ein wenig spöttisch, aber ohne Schärfe zurück, denn es lag nicht in seiner Natur, sich mit Richard zu streiten, »Florenz muß schon ein sehr trauriger Ort sein, wenn du dir in sechzehn Monaten dort nicht ein bißchen Leichtigkeit angeeignet hast.«
Richard schüttelte den Kopf. »Es ist das Paradies«, sagte er aus voller Überzeugung und entschlossen, so bald wie möglich dorthin zurückzukehren.
Der Tag hatte die angenehme, nicht mehr so drückende Wärme, die den toskanischen Herbst kennzeichnet, und Richard war bester Laune. Wenn er sich beeilte, konnte er noch vor Einbruch der Nacht in Florenz sein. Er klopfte seinem Schimmel auf den Hals und fiel in eine schnellere Gangart. Kaum eine halbe Stunde später versperrte ein großer, umgestürzter Wagen den Weg. Ein Schwarm von Menschen versuchte, ihn wieder aufzurichten. Er hörte Schreie, Rufe, Kommandos und ritt näher. Jemand bemerkte ihn, ein Pfiff ertönte, und mit einem Mal stockte das emsige Treiben.
Die unglücklichen Reisenden entpuppten sich als eine Schar dunkelhäutiger, bunt gekleideter Menschen, die sich schweigend zusammenrotteten, als Richard sich ihnen näherte. Sie strahlten Mißtrauen und Feindseligkeit aus, und er wurde sich mit einem Mal des edlen Stoffes bewußt, aus dem seine Kleidung bestand, seines gepflegten Reittieres und seines ganzen damit zum Ausdruck gebrachten Wohlstandes. Wie ärmlich und heruntergekommen wirkten dagegen die mageren Gestalten vor ihm.
Er hörte jemanden »Gorgio« zischen und wußte, wen er vor sich hatte. So bezeichneten Zigeuner jeden, der nicht zu ihresgleichen gehörte.
»Wie ich sehe«, sagte Richard laut, »hattet ihr einen Unfall. Ich würde euch gerne helfen.«
Die Zigeuner rührten sich nicht. Endlich fragte ein älterer, grauhaariger Mann, der wohl so etwas wie der Anführer war: »Warum?«
Richard schwang sich aus dem Sattel. »Reisende sollten einander immer helfen.«
»Gorgio«, höhnte eines der Kinder, das sich an die Röcke seiner Mutter klammerte, »hast du keine Angst, wir könnten dein Pferd stehlen und dich umbringen, um an deine Kleider und dein Geld zu kommen?«
In die Zigeuner kam Bewegung. Sie rückten näher. Ihre Mienen waren unverändert feindselig, und Richard registrierte, daß selbst die Kleinen schon Messer trugen. Unbeeindruckt erwiderte er mit fester Stimme: »Nein.«
Nicht mehr als dieses eine Wort, doch es genügte, um den grauhaarigen Mann dazu zu bringen, seine Lippen in einem grimmigen Lächeln zu verziehen. »Du hast Mut, Gorgio.«
Noch immer sagten die anderen nichts. Richard spürte in diesem Moment alles sehr deutlich: die herbstliche Sonne, den Staub der Landstraße, den Duft der Getreidefelder und die prüfenden Blicke der Zigeuner.
Mit einem Mal rührte sich in ihren geschlossenen Reihen etwas. Jemand drängte sich vor, sehr heftig, und Murren begleitete diese Aufdringlichkeit. Eine helle Stimme rief: »Es ist in Ordnung, Woiwode. Er ist mein Bruder, der mir das Leben gerettet hat.«
Die Gruppe öffnete sich, und vor Richard stand ein junges Mädchen, zwar zierlich, doch mit den Formen und dem Wuchs einer Frau. Ihr schwarzes, wirres Haar war immer noch kurz geschnitten, doch das herzförmige Gesicht mit den breiten Wangenknochen und dem spitz zulaufenden, energischen Kinn hatte seine Magerkeit verloren. Nur ihre Augen waren gleich geblieben, von fast unerträglich strahlendem Grün. Richards Pulsschlag beschleunigte sich. Er hatte nicht damit gerechnet, sie noch einmal wiederzusehen.
»Saviya!«
Sie wandte sich an den Anführer und begann in einem Mischmasch aus Volgare und einer unverständlichen Sprache auf ihn einzureden. Nach und nach veränderte sich die Atmosphäre, die Zigeuner begannen miteinander zu flüstern, bis der Woiwode mit erhobener Hand Ruhe gebot.
Er ging auf Richard zu. »Sei willkommen«, sagte er einfach. »Unser Blut fließt in dir, und damit bist du unser Bruder. Wir nehmen deine Hilfe gerne an.«
»Nun«, entgegnete Richard erleichtert, »dann laßt uns versuchen, euren Wagen mit Hilfe meines Pferdes wieder aufzurichten.«
Ein aufgestörtes Bienennest war nichts gegen die sprühende Lebhaftigkeit des Stammes in diesem Augenblick. Es schien, daß jeder einzelne der Zigeuner, Mann oder Frau, ihn umarmen und als Stammesmitglied begrüßen wollte. Richard dachte später, daß er in seinem ganzen Leben noch nicht so oft umarmt worden war wie an diesem Tag. Er versuchte, Saviya im Auge zu behalten, doch sie war so schnell wieder verschwunden, wie sie erschienen war. Eine Stunde später, als der Wagen endlich aufgerichtet und das Maultier, das ihn gezogen hatte, wieder angespannt war, fand er sie endlich. Sie stand gegen sein Pferd gelehnt und fütterte es mit einem Apfel.
»Es ist nicht das, was du damals hattest, Riccardo«, sagte Saviya und strich dem Tier über die Mähne. Richard war sonst nie um Worte verlegen, doch diesmal fiel ihm nichts ein, was er antworten konnte. Er sah sie an. Sie trug, im Gegensatz zu allen anderen Zigeunerinnen, Hosen und ein enganliegendes Hemd, wie an dem Tag, als er sie im Schnee gefunden hatte.
»Ich habe dich in Bozen gesucht, Saviya«, entgegnete er schließlich, »weil ich mir Sorgen um dich machte und dir sagen wollte, daß es mir leid tat …«
Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite. »Dann hattest du Glück, daß du mich nicht gefunden hast, denn an dem Tag hätte ich dich gut und gerne umbringen können. Aber ich wußte, daß ich dich wiederfinden würde, deswegen habe ich dir mein Messer und mein Haar gelassen.« Richard lächelte. Sie hatte immer noch etwas von einem Kind an sich.
»Und jetzt? Möchtest du mich jetzt auch noch umbringen?«
Saviya schüttelte den Kopf. Sie umarmte ihn schnell, zu kurz, als daß er darauf hätte reagieren können. »Ich habe dich schrecklich vermißt, Riccardo. ›Leicht ist der Abstieg zum Avernus‹«, fügte sie spitzbübisch hinzu, »›doch deine Schritte zurückzuverfolgen und aufzusteigen zurück zum Licht, das ist Qual, das ist Mühe.‹ Du hast mir nie das Ende der Geschichte erzählt.«
»Du hast mir nie erzählt, wie alt du bist.«
»Um viele Monde älter, als ich damals war«, antwortete sie neckisch, »und wie alt bist du, Riccardo?«
Ein kleines Mädchen rannte herbei und rief Saviya zu, sie solle zum Wagen kommen, da die Fahrt weitergehe. »Wohin zieht ihr?« fragte Richard.
»Nach Florenz, wohin sonst auf diesem Weg«, quäkte die Kleine und fügte etwas Unverständliches hinzu. Sie schnitt Saviya eine Grimasse, duckte sich und eilte davon.
»Aber dann kann ich euch begleiten. Das ist auch mein Ziel.«
Saviya warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Dir würde es nichts ausmachen, mit dreckigen Zigeunern in der Stadt einzutreffen?«
Er hatte vergessen, wie geübt sie darin war, mit Worten zu beleidigen. »Nein«, sagte er kurz, nahm ihr die Zügel aus der Hand und machte sich zu Fuß mit ihr auf den Weg.
Bis zum Abend war die Verstimmung zwischen ihnen jedoch längst verflogen. Er hatte ihr in groben Zügen von seinen Erlebnissen in Florenz berichtet, und Saviya erzählte von ihrem neuen Stamm und den Städten, die sie gesehen hatte. Richard war neugierig auf die Sprache der Zigeuner geworden und bat sie, ihm doch etwas davon beizubringen. Die Art, wie er sich an der Aussprache verschiedener Ausdrücke versuchte, sorgte nicht nur bei Saviya, sondern auch bei den Kindern, die sich neugierig um den Fremden drängten, für Erheiterung und vertrieb ihnen die Zeit. Da der Wagen der Zigeuner wesentlich länger brauchte als ein einzelner Reiter waren sie bei Einbruch der Nacht noch immer einige Meilen von Florenz entfernt und schlugen an einer geschützten Stelle ihr Lager auf.
Richard bewunderte die Schnelligkeit, mit der die Zigeuner eine Lichtung in einen Lagerplatz verwandelten, wo ein Feuer brannte und aus allerlei Vorräten ein Mahl bereitet wurde. Er steuerte bei, was ihm an Reiseproviant noch geblieben war, und staunte, was daraus wurde. Sie sprachen nun alle ohne Mißtrauen oder Scheu mit ihm, und er erfuhr, daß die kleinen Feuer an den Ecken des Lagers vor allem dazu dienen sollten, die Geister der Toten fernzuhalten. Auch die Mahlzeit lief nach festgelegten Ritualen ab: Zunächst sprach der Woiwode sehr ernst und feierlich einen Segen, dann teilte er selbst das Brot und Pökelfleisch aus. Er erzählte Richard, daß sie hofften, in Florenz mit ihren Kunststücken großen Erfolg zu haben, und wies auf diejenigen Mitglieder des Stammes hin, die sich schon bald erhoben, um ihre Übungen zu machen.
Richard erkannte Saviya unter ihnen. Sie jonglierte, zuerst mit Bällen, dann mit brennenden Fackeln, und er bemerkte plötzlich, daß er vergessen hatte, zu atmen. Der Woiwode war seinem Blick gefolgt.
»Wenn sie meine Tochter wäre«, sagte der alte Mann ruhig, »oder unter uns geboren, würde ich ihr verbieten, in Männerkleidern herumzulaufen, aber sie ist die Enkelin meines Vetters. Wenn sie auftritt, zieht sie die Leute auf den Marktplätzen an wie die Fliegen.«
Richard murmelte undeutlich irgend etwas, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen wollte. Er hatte schon zahlreiche Jahrmarktsgaukler erlebt, aber die Zigeuner, die sich nun immer schneller bewegten, umgab etwas Einzigartiges. Saviya war inzwischen dazu übergegangen, Saltos zu schlagen. Später bildete sie die Spitze einer Pyramide, die sich aus verschiedenen anderen Zigeunern zusammensetzte und der eine ähnliche Gruppe gegenüberstand. Sie stieß sich ab, wirbelte von der einen Pyramide zur anderen, und einen Moment lang glaubte Richard, sie würde fallen. Er zuckte zusammen. Der Woiwode beobachtete ihn belustigt.
»Ihr geschieht nichts. Niemand von uns kann es sich leisten zu stürzen.«
Die Worte klangen irgendwie doppeldeutig, und Richard meinte eine Erklärung abgeben zu müssen. »Ich bin eigentlich nur noch immer verwundert, weil ich das Kind so lange nicht …«
»Sicher«, sagte der alte Mann ironisch. Sie sahen beide weiter den Akrobaten zu, bis ›das Kind‹ einen leisen Schmerzensschrei ausstieß und ihre Übungen abbrach. Sich mit der Hand die linke Schulter reibend, kam sie zu ihnen herüber. Ihre Gestalt zeichnete sich scharf gegen das Lagerfeuer ab.
»Ich habe dir gesagt, du sollst deine Schulter nicht zu sehr belasten«, brummte der Woiwode.
Saviya erwiderte etwas in ihrer eigenen Sprache, dann setzte sie sich, immer noch ein wenig außer Atem, neben Richard. Der Woiwode runzelte die Stirn und winkte einem anderen Mädchen, das sich sofort zu ihnen gesellte. Sie war hübsch, vielleicht ein wenig älter als Richard, und trug mehrere Ketten, die aus Goldmünzen bestanden, als Schmuck. Verwundert hob Richard die Augenbrauen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß es sich um echtes Gold handelte; es mußte wohl die beste Fälschung sein, die ihm je untergekommen war.
»Nauka, bleib bei deiner Base und ihrem Bruder«, sagte der Woiwode streng, »ich komme gleich wieder.«
Saviya wartete, bis er sich außer Hörweite befand, dann beugte sie sich zu Richard und wisperte mit gespielter Entrüstung: »Er kann doch nicht ganz vergessen, daß du ein Gorgio bist – und was man von den Gorgios so alles behauptet.«
Nauka schnalzte mißbilligend mit der Zunge, und Saviya fuhr sie an: »Chut, Nauka, ich bin bei Riccardo so sicher wie in einem Kloster. Du brauchst nicht auf uns aufzupassen.«
Das ältere Mädchen erwiderte mit einer gewissen Boshaftigkeit in der Stimme: »Auf dich muß man von morgens bis abends aufpassen, Saviya. Glaub nicht, daß du mich so leicht loswirst.«
Sie lächelte Richard zu. »Und du willst doch auch nicht, daß ich gehe, oder?«
Saviya packte mit der Schnelligkeit, die sie vorhin beim Jonglieren gezeigt hatte, das Handgelenk ihrer Base und verdrehte es.
»Geh sofort, und wenn du mich beim Woiwoden verrätst, weißt du, was geschieht!«
Nauka starrte sie an, doch in ihren Augen zeigte sich nicht nur Zorn, sondern auch ganz deutlich Furcht. Sie zuckte die Achseln und erhob sich. »Ich gehe«, murmelte sie, »und es ist dein Schatten, nicht meiner.« Ihre goldenen Ketten klirrten, als sie sich leise entfernte.
»Tut mir leid, Riccardo«, sagte Saviya fröhlich, »aber in einem Stamm hat ein heiratsfähiges Mädchen mehr Hüter als ein neugeborener Säugling. Oh, ich habe das satt. Und ich muß dich noch soviel fragen. Was hältst du von meinen Kunststücken? Habe ich mich verändert, was meinst du?«
»Dein Temperament ist dasselbe geblieben, soviel steht fest«, entgegnete Richard trocken. »Dein neuer Stamm hat mein herzliches Beileid. Womit hast du dem armen Mädchen gedroht?«
Saviyas Augen weiteten sich, und sie sagte unschuldig: »Gedroht? Ich? Ich habe eine Prophezeiung gemacht. Wir Zigeuner tun das ständig, Riccardo. Soll ich für dich in die Zukunft sehen?«
»Nein«, erwiderte er, doch Saviya nahm seine rechte Hand in die ihre. »Nicht die linke – die zeigt nur, was du tun könntest, nicht, was du tun wirst.«
Ihre Fingerspitzen tanzten über seinen Handballen hinweg, zogen die Linien der Handfläche nach. Sie rückte ein wenig näher, und ihr Haar streifte seinen Mund. In Richard erwachte ein Gefühl, das er endgültig begraben gewähnt hatte. »Bitte, Saviya«, sagte er sehr ernst, »hör auf.«
Sie hob den Kopf, und ihr Blick traf den seinen. »Ich bin kein Kind mehr, Riccardo, wirklich nicht mehr.«
Er berührte mit der linken Hand ihre Wange. »Da bin ich nicht so sicher. Auch ich bin kein Kind mehr, Saviya. Ich könnte dir weh tun, und damit meine ich nicht, was du glaubst. Das wollte ich dir damals erklären. Es liegt nicht an dir, sondern an mir.«
Saviya schüttelte den Kopf, nicht ärgerlich, nur bestimmt. »Du irrst dich, Riccardo«, sagte sie und lächelte wie über einen geheimen Scherz. »Als ich dich zuerst gesehen habe, da wußte ich es. Du hast mich aus der schwarzen Welt zurückgeholt, und ich habe für dich getötet. Ich liebe dich, und du wirst …«
Der Schatten des Woiwoden fiel auf sie. »Saviya«, grollte er, »was hast du mit Nauka gemacht? Geh, sofort.«
Richard erhob sich, und auch Saviya stand auf. Einen Augenblick lang schien sie rebellieren zu wollen. Ihre Unterlippe zitterte. Dann seufzte sie übertrieben ehrerbietig, verbeugte sich mit gekreuzten Händen und verschwand wie ein Traum in der Nacht.
»Es ist nichts geschehen«, sagte Richard.
»Alles ist geschehen. Aber dagegen kannst du nichts tun, poschrat. Und das törichte Enkelkind meines Vetters auch nicht.«
Man hatte Richard einen Schlafplatz innerhalb des Lagers eingeräumt, doch er konnte keine Ruhe finden. Statt dessen ging er durch den kleinen Olivenhain. Als er dann auf sie traf, war er erleichtert und beunruhigt zugleich.
»Saviya, Saviya, ich …«
»O Riccardo, bitte, laß uns hierbleiben. Niemand wird hierherkommen, nur die Toten. Es wird nichts passieren, ich möchte nur in deiner Nähe schlafen, wie damals in den Bergen. Morgen sind wir in Florenz, und denkst du, ich weiß nicht, daß du dort ein ehrbarer Bürger bist und ich eine Zigeunerin? Aber hier ist nirgendwo. Laß uns für diese eine Nacht noch zusammenbleiben.«
Ich bin nicht Ulrich von Remar, sagte sich Richard, während er einen Arm um sie legte und sie beide stumm weitergingen. Ich vergewaltige keine kleinen Mädchen. Es wird nichts geschehen – und warum auch? Sie ist ein Kind. Und ich liebe dieses Kind.
Sie wanderten durch den Wald, und so nebeneinander zu laufen, hatte seine eigene Harmonie und schien für beide vollkommen natürlich zu sein. Als er ein paar Blumen im Mondlicht schimmern sah, bückte sich Richard und pflückte sie für Saviya. Sie erzählte ihm ein altes Märchen ihres Volkes, über den Feenkönig und die Feenkönigin, die sich in einem solchen Wald gestritten hatten, und er zitierte, wie während ihrer Krankheit, Gedichte für sie. Einmal blieben sie stehen, um dem Gesang eines Vogels zu lauschen, der sich mit dem leisen Rauschen der Blätter und ihren eigenen Stimmen zu einem Ganzen verwob.
»Das ist die Nachtigall«, flüsterte Saviya.
Gegen Morgengrauen wurde sie müde und schlief mit dem Rücken gegen einen der Olivenbäume gelehnt ein. Richard beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen sich über ihr Gesicht stahlen. Ein zärtliches Lächeln zog an ihren Mundwinkeln. Er küßte sie, sehr sachte, um sie nicht aufzuwecken. Ihre Lippen waren sanft und weich, und ihre Haut roch schwach nach Thymian und Farn. Richard deckte sie mit seinem Hemd zu, dann eilte er zum Lager zurück.
Kurze Zeit später war er auf dem Weg nach Florenz.