5
DAS LAUNISCHE FRÜHLINGSWETTER war wieder in Regen übergegangen, und Bruder Albert, der den Inquisitor zu Richards Zelle führte, ertappte sich bei dem abwegigen Gedanken, ob dieser wohl schon einmal vor der Schwierigkeit gestanden hatte, jemanden bei Regen verbrennen zu müssen. Doch Bruder Heinrich wirkte gelassen und entschlossen.
Inzwischen war der Erzbischof eingetroffen, und Bruder Albert hätte gern gewußt, was der hochwürdige Melchior Clemens davon hielt, daß man ihn so lange übergangen hatte. Nicht, daß der Bischof deswegen für die Angeklagten gnädiger gestimmt gewesen wäre. Erst gestern hatte der Abt zu Albert gesagt: »Wer weiß, ob der Bischof nicht eine gründliche Untersuchung des ganzen Klosters auf Hexerei anordnet, jetzt, wo Bruder Ludwig ebenfalls … Ach, wäre Bruder Heinrich doch nie hierhergekommen!«
Albert warf dem Dominikaner einen schnellen Blick zu. Ja, Bruder Heinrich wäre sehr wohl imstande, hier in Wandlingen nach noch mehr Opfern zu suchen. Albert ahnte nicht, daß die Gelassenheit des Inquisitors nur Maske war, Heinrich Institoris hatte dieser Tage einen dringenden Brief von seinem Mitinquisitor Jakob Sprenger erhalten.
In Brixen waren auf einen Schlag nicht weniger als zwanzig Hexen gefaßt worden, und Bruder Jakob brauchte seine Hilfe, denn die dortigen Behörden zeigten sich äußerst unverschämt gegenüber der heiligen Inquisition. Institoris hatte es nunmehr eilig, seinen Aufenthalt in Wandlingen zu einem Ende zu bringen.
»Hier entlang«, sagte Bruder Albert. Der Inquisitor wirkte fast ein wenig zerstreut und nicht ganz bei der Sache, als er bemerkte: »Bruder, die Haltung, die Ihr und Euer Abt in der ganzen Gelegenheit eingenommen habt, fand ich … nun, sehr verwunderlich. Ihr wart der heiligen Inquisition keine große Hilfe.«
»Wir haben uns bemüht, immer im Dienst der Mutter Kirche zu handeln«, entgegnete Albert und versuchte, das Gemisch aus Abscheu und Furcht zu unterdrücken, das er nun jedesmal in Gegenwart des Inquisitors empfand.
Der wasserblaue Blick schien ihn zu durchdringen. »Das glaube ich Euch sogar«, sagte Heinrich Institoris merkwürdig sanft. »Wie schade ist es dennoch, daß erst die Folter notwendig war, um Euch Eure Verblendung über die Hexe vor Augen zu führen.« Er senkte seine Stimme. »Ihr werdet sie nie vergessen, nicht wahr … die Folter?«
Es war unerträglich, an diese Stunde erinnert zu werden, von diesem Mann, der Zeuge seiner Verwirrung, seiner tiefen Demütigung gewesen war und die Erniedrigung immer weiter ausdehnte. Statt Furcht spürte Albert nun lodernden Zorn, und er schlug, alle Vorsicht vergessend, mit beißendem Sarkasmus zurück.
»In der Tat, ich werde sie nicht vergessen – da zeigte sich, daß die heilige Inquisition, solange sie über Männer wie Euch und solche Mittel verfügt, auf die Hilfe von Irrenden wie meiner Wenigkeit sehr gut verzichten kann. Frater, warum habt Ihr eigentlich … Warum habt Ihr Euch eigentlich so lange nicht um den Jungen gekümmert, wo Ihr doch …«
Er beendete den Satz nicht, doch der Inquisitor verstand ihn auch so. Warum hatte er den Sohn nicht als Druckmittel gegen die Mutter benutzt? In Angst um ihren Sohn hätte er auch ohne Folter ein Geständnis aus Zobeida Artzt herausgebracht.
»Ich bin entsetzt, Bruder«, rief Institoris empört. »In einem Prozeß wie diesem muß alles mit rechten Dingen und gesetzesgemäß zugehen. Wenn man solche Mittel verwenden würde, wie leicht könnten Unschuldige zu Schaden kommen?«
Bruder Albert sah ihn an und erkannte ungläubig, daß der Dominikaner es ernst meinte. Er hielt die Folter tatsächlich für ein Mittel der Wahrheitsfindung.
Menschen wie Bruder Heinrich konnten Gesetz und Recht nach Belieben verdrehen, völlig sinnentfremden und einsetzen, wie es ihnen gefiel. Doch Gesetz und Recht mußten sein, wenigstens dem Buchstaben nach, damit sich ein Bruder Heinrich als ehrlicher Mann und treuer Sohn der Kirche fühlen konnte, der nur seine Pflicht tat. Eine Erpressung dagegen hätte das Bild, das er von sich selbst hatte, nicht verkraftet.
Wenn ich das alles überstehe, dachte Bruder Albert, dann hoffe ich inbrünstig, daß ich nie wieder einen Inquisitor kennenlerne, denn was ich in den letzten Wochen über die menschliche Seele erfahren habe, ist zu unerträglich, um wahr zu sein.
Er holte den Schlüssel hervor, fühlte das sichere, harte Metall – wenigstens etwas, das sich nicht verändert hatte – und sperrte geräuschvoll die Zellentür auf. Richard saß gerade auf seinem Bett, doch er sprang auf, und Bruder Albert begriff entsetzt, daß in seinen schwarzen Augen beim Anblick des Inquisitors Hoffnung aufleuchtete. Hoffnung? Immer noch Hoffnung?
Bevor Bruder Heinrich den Mund öffnen konnte, begann Richard: »Pater, meine Mutter ist unschuldig, und ich kann es Euch beweisen! Die Denunziation geschah nur aus Neid und Haß, und die Dinge, die man in unserem Haus gefunden hat, brachte mein Vater von seinen Reisen mit. Die Zeichnungen habe ich selbst gemacht, nur so zum Spaß!«
Bruder Albert hatte Richard schon vor längerer Zeit neben den Büchern auch Schreibmaterialien gebracht, und jetzt fing der Junge an, schnell mit bebender Hand etwas zu kritzeln.
»Seht Ihr?«
Er reichte das Blatt dem Inquisitor, wie ein Bittgesuch, dachte Albert. Es war eine Art Wiederholung der Zeichnung von Bruder Ludwig, immer noch treffend, doch in der Eile und Aufregung waren Richard die Linien viel unsicherer geraten und teilweise verwischt. Sie hatten die beißende Schärfe des Originals verloren. Bruder Heinrich warf nur einen kurzen Blick darauf.
»Es ist sehr löblich«, sagte er ruhig, »daß du aus Kindesliebe versuchst, deine Mutter zu retten. Vielleicht warst du auch nie Zeuge ihrer abscheulichen Taten, oder sie stellte sie dir als normal hin. Doch wisse, die Ehrfurcht vor den Eltern darf nicht über die Liebe zu unserem Herrgott gehen.«
»Aber versteht doch, sie ist unschuldig!«
Der Inquisitor schüttelte betrübt den Kopf. An Bruder Albert gewandt, erklärte er: »Der Junge steht immer noch in ihrem Bann, doch ich hoffe, daß sie ihn nicht infiziert hat. In der Regel vererbt sich Hexenkunst nur in der weiblichen Linie. Es war weise, ihn hier unterzubringen, ich kann Euren Abt nur loben.«
Er räusperte sich und drehte sich wieder zu Richard um, der mit dem Blatt in der Hand wie zur Salzsäule erstarrt dastand.
»Mein Sohn, deine Mutter hat selbst ihre Verbrechen gestanden und nicht mehr widerrufen. Es jammert mich, von derartigem Unheil sprechen zu müssen, doch sie hat kleine Kinder im Ofen gebacken und zu Pulver zerrieben, das sie für ihre schwarzen Künste brauchte, sie hat Frauen Fehlgeburten erleiden lassen und Männern Krankheiten und ein Erschlaffen der Manneskraft angehext und noch viel mehr getan, womit ich meine Zunge nicht besudeln möchte. Sie ist eine böse Frau und hat den Tod verdient, zu dem der Richter sie verurteilt hat, und dennoch gibt es Hoffnung für sie, denn sie hat gestanden.«
Über das Gesicht des Inquisitors glitt ein Leuchten. »So wird es möglich sein, durch das reinigende Feuer ihre Seele wieder unserem Herrn zuzuwenden. Fürwahr, alles hat ein gutes Ende gefunden.«
Richard fiel vor ihm auf die Knie. »Aber ich kann es beweisen, ich kann beweisen, daß sie unschuldig ist, ich kann beweisen, daß es überhaupt keine Hexen gibt, ich …«
Albert erwartete einen Ausbruch des Inquisitors, doch dieser blieb ruhig.
»Ich sehe an dir noch Spuren ihres Bannes, mein Sohn, doch das Feuer, welches sie verzehrt, wird auch dich reinigen, und mit ihrem Tod wird der Bann erlöschen. Deswegen ordne ich an, daß du dabeisein sollst, wenn deine Mutter zu Gott geführt wird. Noch ein paar Tage«, er lächelte, »und dann wird all das Böse, das die braven Menschen von Wandlingen verzehrt hat, vorbei sein.«
Er wandte sich um und ging hinaus. Bruder Albert zögerte. Er streckte die Hand aus, als wolle er Richard berühren, zog sie aber wieder zurück. Er befeuchtete sich die Lippen, wie um etwas zu sagen. Die Aufgabe eines Priesters, dachte der Benediktiner bitter, sollte es sein zu trösten. Doch ihm fiel nichts ein, das er hätte sagen können, absolut nichts.
Er erinnerte sich an dem Moment im Obstgarten, als ihm Richard seinen Haß entgegengeschleudert hatte. Selbst das war besser gewesen als die völlige Reglosigkeit des Jungen jetzt. Schließlich sagte er nur leise: »Richard, ich dachte, du hättest inzwischen zumindest eines begriffen: Niemand kann beweisen, daß es keine Hexen gibt.«
Dann ging auch er. Der Schlüsselbund klirrte, und die Schritte des Mönches wurden so eilig, daß ihm seine Kutte um die Beine flatterte, als sei er vor etwas auf der Flucht. Richard blieb zurück. Das Blatt mit der unsicheren Zeichnung flatterte auf die Erde.
Jemand, der ihn in diesem Augenblick gesehen hätte, hätte ihn nicht von einem der Schnitzwerke unterscheiden können, die St. Georg so anmutig schmückten. In ihnen war gewiß mehr Leben als in Richard, dem eben mitgeteilt worden war, daß er seine Mutter ermordet hatte. So gewiß, dachte er, als hätte er ihr das Messer ins Herz gestoßen.
Es war seine Schuld. Ohne ihn wäre Bruder Ludwig nie in Zobeida Artzt' Nähe gekommen. Es wäre nicht sonderlich schwer gewesen, den gehorsamen Schüler für Bruder Ludwig zu spielen, statt ihn immer wieder zu reizen. Und die Zeichnung, die Zeichnung … seine Schuld. Und jetzt hatte er die letzte Gelegenheit vertan, den Inquisitor zu überzeugen und seine Mutter zu retten. Er erhob sich, starrte auf das armselige Gekritzel auf dem Boden und trat plötzlich danach.
Es mußte doch noch irgend etwas geben, irgendeine Möglichkeit, sie zu retten! Aber nein, er hatte sich wie ein völliger Narr freiwillig in die Hand der Mönche begeben, ihnen vertraut und sich einsperren lassen! Wäre er frei, könnte er ein Pferd stehlen und seine Mutter auf ihrem Gang zum Scheiterhaufen entführen … könnte …
Es würgte ihn, und er rannte zur Tür, hämmerte mit beiden Fäusten dagegen. »Laßt mich raus! Laßt mich hier raus!« Niemand kam, und schließlich sank er zu Boden. Mit einer Art dumpfer Verwunderung bemerkte er, daß er sich die Knöchel an dem harten Eichenholz blutig geschlagen hatte und es nicht im geringsten spürte.
Das Blut erinnerte ihn an das, was er bisher versucht hatte, zu verdrängen – die Folter. Folter. Wie sehr hatten sie sie gefoltert, bis sie gestanden hatte? Was hatten sie ihr angetan?
Er schlug die Arme um die Knie und begann unbewußt, auf und ab zu schaukeln. Warum? Warum? Ich muß den Grund verstehen, dann finde ich einen Weg. Wie konnte auch nur einer von ihnen glauben, daß sie eine Hexe war? Woher kam dieser Haß? Seine Mutter war nicht gerade die beliebteste Bürgerin Wandlingens gewesen, aber sicher eine der meistgeachteten und bestimmt eine derjenigen, die man am meisten brauchte.
Lag es nur daran, wie Bruder Albert sagte, daß sie eine Fremde war und die Menschen in Zeiten der Not ein Opfer für ihr Elend brauchten? Oder glaubten sie wirklich alle an Hexen? »Aber es gibt keine Hexen!« sagte Richard laut.
Eine spöttische innere Stimme antwortete: Das glaubst du, genau, wie sie das Gegenteil behaupten, aber du kannst es nicht beweisen. Wie willst du sicher sein? Er dachte daran, was Bruder Albert gesagt hatte: Niemand kann beweisen, daß es keine Hexen gibt.
»Zur Hölle damit!« Er begann wieder, auf das unnachgiebige Holz einzuhämmern. »Es ist nicht wahr, es ist einfach nicht wahr, laßt mich raus, laßt mich raus!« Es dauerte sehr lange, bis er sogar das Schreien aufgegeben hatte.
Es war ein klarer Tag im Mai, nicht verregnet, wie Bruder Albert gedacht hatte, aber auch nicht sonnig. Der fahle Himmel glich frisch gewaschenem Leinen, und hin und wieder kam ein Wind auf, der die Röcke der Bürgerinnen und die Umhänge der Männer umherwirbelte. Der Marktplatz war voller Menschen.
Sogar einige der Bauern aus den Dörfern in der weiteren Umgebung waren gekommen, und niemand wußte, ob sie nicht bleiben würden, denn die Städte übten eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Landbevölkerung aus.
Ein Bauer, der seinen Acker bearbeitete, war nur ein Leibeigener des adeligen Herrn, in dessen Lehen er lebte, und die Bürger der Städte wichen den ausgemergelten, schmutzigen Gestalten, die sich jetzt zum Pranger drängten, hastig aus.
Wahrscheinlich floß auch in ihren Adern das Blut eines Großvaters oder einer Mutter, die sich noch auf der Scholle abgerackert hatten, doch jetzt waren sie Bürger, die sich selbst ihren Stadtrat wählten, jetzt konnten sie sich sogar, waren sie nur fleißig genug, ein bescheidenes Vermögen und Ansehen unter ihren Mitbürgern erarbeiten. Sie konnten ihre Kinder in die Klöster schicken, um sie das Wissen lernen zu lassen, das in der Vergangenheit dem Adel vorbehalten war. Die Handwerker konnten innerhalb ihrer Zünfte aufsteigen, und wenn ihnen ein Unrecht geschah, so gab es das strenge Zunftgesetz und die Zunftmeister.
Der Anblick der Bauern, die der Willkür der hohen Herren ganz und gar ausgeliefert waren, ohne jeden Vermittler oder Helfer, erinnerte einzelne unbehaglich daran, was sie selbst noch vor ein paar Generationen gewesen. Nein, sie zogen es vor, sich von den Bauern fernzuhalten, zumindest, bis diese der Anziehungskraft der freien Städte erlegen und selbst zu Bürgern geworden waren.
Doch Bauern wie Bürger einte die Neugier, eine Hexe brennen zu sehen. Eine Hexe hatte es schon lange nicht mehr gegeben, und nur die Ältesten oder Weitgereisten waren jetzt in der Lage, sich die Zeit damit zu verkürzen, von einer ähnlichen Verbrennung zu erzählen. Huren, Diebe oder sonstige Übeltäter, die an den Pranger gestellt wurden, gab es öfter zu sehen, und wenn sich auch immer Zuschauer fanden, so war der Marktplatz von Wandlingen doch nie zuvor so voll gewesen.
Die Wandlinger hatten allerdings den Vorteil, ein wenig mehr über die Hexe zu wissen. Sie kannten sie. Nun, es hatte lange gedauert, bis ihre Hexerei offenbar wurde, und die Erinnerung daran, daß sie ihr einmal vertraut hatten, soweit vertraut, daß man sie zu fast allen Krankenbetten geholt hatte, brachte die Stadtbewohner nur noch mehr auf. Die ganze Zeit hatte sie ihre Hexenkünste praktiziert! Wie sonst hatten sie überhaupt Vertrauen zu ihr fassen können, zu ihr, einer Sarazenin, einer Fremden?
Nun hatte sich das Mißtrauen wie eine schwärende Krankheit unter ihnen ausgebreitet, und irgendwie schien es auch die Schuld der Hexe zu sein, daß man seinem Nachbarn nicht mehr ins Gesicht blicken konnte, ohne finstere Vermutungen zu hegen.
Es war schwierig genug, sich bis in die ersten Reihen vorzudrängen, insbesondere, da fast das gesamte Kloster dort anwesend war. Die Mönche sahen blaß und bedrückt aus. Kein Wunder, dachte mehr als ein Wandlinger schadenfroh, denn in wenigen Tagen würde ein weiterer Scheiterhaufen mit einem Mönch brennen. Vielleicht hätten sich auch noch mehr Hexen und Hexer gefunden, doch das Gerücht verbreitete sich bereits, daß der Inquisitor, der neben dem Erzbischof stand, nach der Verbrennung des Mönchs abreisen würde.
Nun, auch nach seiner Abreise konnte es zu Anzeigen kommen, denn er hatte selbst gesagt, daß nicht nur die heilige Inquisition, sondern auch ein Bischof und ein Richter einen Hexenprozeß abwickeln konnten.
Am anderen Ende des Platzes lag das Stadtgefängnis, und an dem Hälserecken und den Ausrufen derjenigen, die ihm am nächsten standen, merkte die Menge, daß man sie jetzt endlich hierherbrachte. Die Fremde, die Unholdin, die Hexe. Die Rufe verwandelten sich bald in ein enttäuschtes Zischen.
Was da kam, sah nicht im geringsten dämonisch aus. In der Tat war es schwer zu erkennen, daß es sich überhaupt um eine Frau handelte. Das Haar, dessen Farbe nicht mehr zu bestimmen war, war ganz kurz geschnitten, und das weite, weiße Hemd aus rauhem Sackleinen, das die zum Scheiterhaufen Verurteilten gewöhnlich zu tragen hatten, reichte bis auf die bloßen Füße.
Die Hexe hätte allein gehen sollen, doch schon nach wenigen Schritten stolperte sie und stürzte zu Boden. Einer der Büttel stützte sie schließlich, und sie ging weiter. Ihre rechte Hand war von einem dicken Verband umhüllt, der an vielen Stellen von Blut durchtränkt war.
»Man wird ihr die Daumenschrauben angelegt haben«, murmelte ein Mann, der ziemlich weit vorne in der Gasse stand, die die Leute der Hexe bahnten. Es dauerte jedoch lange, bis sie den Holzhaufen erreichte.
Der Abt, der anders als viele Anwesende schon Verbrennungen erlebt hatte, fühlte sich flüchtig an die Passionsspiele erinnert. Seltsam, die meisten zu Tode Verurteilten blieben unnatürlich lange ruhig, bevor der Zusammenbruch kam, der Moment, in dem sie begannen, zu schreien. Während der Richter langsam nochmals das Urteil vorlas und die Büttel darangingen, Zobeida an den Pfahl in der Mitte des Scheiterhaufens zu binden, blickte er auf den Jungen, der neben ihm stand.
In einer Hinsicht hatte er sich unnötig Sorgen gemacht. Der Inquisitor interessierte sich nicht sonderlich für Kinder. Doch der Abt war durch das starre Schweigen des Jungen beunruhigter, als er es durch Wutanfälle oder Tränenausbrüche hätte sein können. Seit dem Tag, an dem der Inquisitor ihn gesehen hatte, war Richard verstummt. Der Abt warf einen schnellen Blick zu Bruder Albert hinüber.
Beide hatten sie Richard an jenem Tag schreien hören, und in jeder anderen Lage wäre einer von ihnen zu dem Knaben gegangen, um ihn zu trösten. Doch Heinrich Institoris, der noch einige der Mönche vernehmen wollte, war noch nicht außer Hörweite gewesen. Als der Abt Alberts weißes Gesicht sah, zog er ihn beiseite und flüsterte, fast ohne die Lippen zu bewegen: »Nein, mein Sohn.«
»Aber, ehrwürdiger Abt, es ist unser Kloster, nicht das seine, und ich schäme mich ohnehin schon, weil ich Richard mit dieser Nachricht allein gelassen habe.«
»Es ist nicht zu ändern«, in der Stimme des Abtes hatte Trauer und Erbitterung gelegen, »und vielleicht würden wir nur falsche Hoffnungen in dem Jungen wecken. Später, wenn die Inquisition erst fort ist, werden wir alles an dem Kind wiedergutmachen.«
»Wenn er uns noch vertraut.«
Der Abt musterte diesen überaus begabten Schüler, der eine der großen Hoffnungen des Klosters gewesen war. Nur einmal hatte Richard sein Schweigen gebrochen, um zu fragen, ob er seine Mutter noch einmal sehen könne, was ihm verweigert wurde.
Der Abt wußte, daß den Gefolterten immer ein paar Tage Zeit gegeben wurde, damit sie für die Hinrichtung wieder einigermaßen gehfähig waren. Wenn Richard seine Mutter im Stadtgefängnis gesehen hätte, wäre sie erstens kaum in der Lage gewesen, mit ihm zu sprechen, und zweitens hätte er Zeit genug gehabt, jede einzelne Spur der Folter ganz in sich aufzunehmen. Heute würde das Bild des Scheiterhaufens alles überdecken.
Richards Lippen bewegten sich. Der Abt konnte nicht verstehen, was er sagte, und nach einiger Zeit begriff er, daß Richard überhaupt nicht laut sprach. Der Inquisitor stieg zu der gefesselten Zobeida hinauf und erteilte ihr den Segen. Der Abt flüsterte schnell ein kurzes Gebet.
Er hielt es für grenzenlos falsch, daß der Inquisitor darauf bestanden hatte, Richard die Verbrennung mitansehen zu lassen, doch er wagte nicht, zu widersprechen, nicht mehr. Er würde nicht ein Wort gegen den Inquisitor äußern, bis dieser sich in weiter Entfernung befand. Wenn es nur vorbei ist, sagte er sich immer wieder, wenn es nur einfach vorbei ist, dann wird alles in Ordnung kommen. Es muß einfach so sein.
Von vier Seiten traten nun Büttel heran, die Fackeln in der Hand hielten. Auf ein Zeichen warfen sie sie auf den Scheiterhaufen. In diesem Augenblick rief Zobeida etwas mit einer Stimme, die keiner wiedererkannte, und niemand verstand die Worte, die sie gerufen hatte. In der Menge machte sich ein Raunen breit.
»Sie hat uns verwünscht! Die Hexe hat uns verwünscht!« Dem Inquisitor, der sich eingebildet hatte, sie vollkommen unterjocht zu haben, schwollen die Adern auf der Stirn, und er sollte noch einige Zeit brauchen, um seinen Zorn zu unterdrücken.
Der Abt jedoch hatte sofort, als Zobeida den Mund geöffnet hatte, gewußt, weswegen sie schreien würde, und so schnell reagiert wie noch nie in seinem Leben. Er packte Richard, der sich vorwerfen wollte, und riß ihn zurück. Der Abt war nicht sehr kräftig, und auf ein Zeichen eilte ihm einer seiner Benediktiner zu Hilfe und hielt den Jungen fest.
Durch den unregelmäßigen Wind verbreitete sich das Feuer schnell auf dem gesamten Holzstoß. Das Knistern der Flammen wurde immer lauter, und Zobeida begann wieder zu schreien, diesmal nur noch unartikulierte, schrille Laute des Entsetzens.
In einem Anflug von Mitleid legte der Mönch, der Richard umklammert hielt, ihm die Hand vor Augen. In den beizenden Geruch des brennenden Holzes begann sich nun ein anderer zu mischen. Mit einem Mal verstummten die Schreie.
»Das ist manchmal so«, hörte man den Inquisitor sagen. »Der Rauch und der Schmerz haben sie ohnmächtig gemacht.«
»Gott helfe uns«, murmelte der Abt. »Gott helfe uns allen.«
In der Menge begann nun der Streit darüber, was die Hexe gesagt und welche Verwünschungen sie ausgestoßen hatte. Jeder hatte etwas anderes verstanden. »Ihr Narren, das ist doch ganz einfach«, sagte jemand. »Sie hat den Teufel angerufen!« Schließlich ließ der Bruder, der Zobeidas Sohn festhielt, seine Hand sinken.
Das erste, was Richard sah, war, wie ein Windstoß die Flammen auseinandertrieb, und für einen Moment wurde der zuckende, halbverkohlte Leib einer Frau sichtbar. Dann schloß sich die Feuerwand wieder, und über den Platz wehte der Rauch, der sich süß und widerlich in allen Kleidern festsetzte.