28
WEDER WOLFGANG SCHMITZ noch Anton Eberding erfuhren vorerst etwas von der Vereinbarung mit Michelangelo Buonarroti. Allerdings erwies sich Schmitz keineswegs als Hemmschuh. Er überließ Richard die Verhandlungen, die durch die grassierende Abscheu vor ›weltlicher Eitelkeit‹ erleichtert wurden. Bald stapelten sich ihre Ankäufe in den Handelshöfen, und ausgerüstet mit ausführlichen Beschreibungen der einzelnen Stücke und Angaben über die bisherigen und früheren Eigentümer, konnten sie ihre Reise beginnen.
Richard war es gelungen, bei Eberding noch die Kosten für einen weiteren Begleiter herauszuschlagen, einen Vermittler, der, wie er dem Leiter des Fondaco erklärte, bestens vertraut war mit den meisten Fürsten in der Romagna – Fra Mario Volterra.
Mario, fand Richard, lief in der letzten Zeit ohnehin mehr und mehr wie ein Gespenst herum; er vermutete, daß es immer noch der Zwiespalt zwischen Savonarola und Lorenzo de'Medici war, der seinen Freund so belastete. Es würde ihm guttun, Florenz für ein paar Wochen zu verlassen.
Richard hatte mit dem Gedanken gespielt, Saviya heimlich und Eberding zum Trotz mitzunehmen, doch zu seiner Überraschung lehnte sie das rundweg ab. »Ich habe mich oft genug aus einer Stadt geschlichen«, erklärte sie. »Nicht aus dieser. Mach du deine Reise – mit Mario.«
Sie betonte den Namen des Mönchs so eigenartig, daß Richard hellhörig wurde. »Saviya«, fragte er ungläubig, »du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«
So heftig wie damals in den Bergen entgegnete sie: »O Ricardo, du bist ein Esel! Geh, verlaß die Stadt. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komme hier sehr gut zurecht.«
Doch als er dann tatsächlich aufbrach und ihr versicherte, in ein paar Wochen sei er zurück, erkannte er Tränen in ihren Augen. Es erschreckte ihn; er hatte Saviya noch nie weinen sehen. Sie fuhr sich wütend mit dem Handrücken über die Augen, stellte sich auf die Zehenspitzen und preßte ihre Lippen fest auf seinen Mund. Dann rannte sie fort, und Richard grübelte noch stundenlang über diesen Abschied nach.
»Vielleicht hätte ich doch lieber in Florenz bleiben sollen«, meinte er zu Mario, während sie die alte römische Straße, die Via Emilia, überquerten. »Oder sie einfach mitnehmen, ganz offen. Zum Teufel mit ihren Skrupeln, und zum Teufel mit Eberding.« Mario blickte auf den Hals seines Maultiers und erwiderte nichts. Wolfgang Schmitz, der ein wenig zurückgeblieben war, näherte sich ihnen wieder und rief: »He, Bruder, was hat es denn mit dieser Prophezeiung auf sich, die euer Dauerredner von einem Prior von sich gegeben haben soll?«
»Er ist nicht mein Prior«, entgegnete Mario unerwartet zornig. »Ich bin Augustiner. Er gehört zu den domini canes.«
Von der barschen Antwort eingeschüchtert, fragte Schmitz nicht mehr, doch Richard war aufmerksam geworden. Es sah Mario nicht ähnlich, so zu reagieren, besonders, wo er nun schon ein dreiviertel Jahr Zeit gehabt hatte, sich an Savonarola zu gewöhnen. Am Abend, als sie in einer guten Herberge untergekommen waren und ihre Sachen verstaut hatten, forderte Richard den Priester daher zu einem Spaziergang auf. Mit einem Aufflackern seines alten Humors fragte Mario: »Du hast doch nicht etwa vor, dich zu erkundigen, wann ich zum letzten Mal zur Beichte gegangen bin, Riccardo?«
Richard schüttelte den Kopf. »Nein. Ich wollte mich nach Savonarolas Prophezeiung erkundigen.«
Ergeben ließ Mario die Schultern sinken. »Also gut. Gehen wir.«
Es war Neumond, und die Umrisse der kleinen Häuser, die ihre Herberge umgaben, ließen sich kaum erkennen. Marios schwarzes Haar, das sich so widerspenstig der Tonsur widersetzte, verschwamm mit der Nacht, und Richard konnte in der Dunkelheit nur das weiße Oval seines Gesichtes ausmachen.
Im Gegensatz zu der Unruhe, die er vorher gezeigt hatte, klang Marios Stimme jedoch völlig ebenmäßig, während er erzählte.
»Es war in seiner letzten Sonntagspredigt. Er prophezeite den Tod dreier Tyrannen, nämlich Lorenzos, des Papstes und Ferrantes von Neapel, und eine ausländische Invasion, die Italien mit Feuer und Schwert von seinen Sünden reinigen würde.«
»Das ist billig«, sagte Richard. »Der Papst und Ferrante sind alte Männer, und jeder weiß, wie krank Lorenzo ist. Und wenn Ferrante stirbt, dann wird Charles von Frankreich Anspruch auf den Thron von Neapel erheben, das kann sich ein Kind ausrechnen. Savonarola geht wahrhaftig kein großes Risiko bei seinen Voraussagen ein! Das ist das erste Mal, daß ich höre, wie er zu Jahrmarkttricks greift.«
»Lorenzo ist nicht so krank«, sagte Mario überraschenderweise. »Sicher, die Gicht setzt ihm zu, aber wenn es so schlimm wäre wie bei seinem Vater, dann würde er im Bett liegen und nicht imstande sein, die Geschicke der Stadt weiter zu lenken und nebenbei auch noch Verhandlungen mit Neapel, Mailand, Caterina Sforza und Gott weiß wem noch alles zu führen.«
In seiner Stimme schwang eine verzweifelte Hoffnung mit, die Richard tief berührte. Er hielt Lorenzo für einen großen Mann, doch er hatte nie die absolute Anhänglichkeit für ihn empfunden, die Leute wie Mario aufbrachten und die fast an Liebe grenzte.
»Nun, er wird ganz bestimmt nicht sterben, nur weil Fra Savonarola es prophezeit«, meinte er tröstend. Mario zog seine Kapuze über den Kopf. Seine Worte schienen aus dem Nichts zu kommen.
»Du glaubst nicht an Prophezeiungen?«
Von seiner Antwort schien viel abzuhängen, also unterdrückte Richard die instinktive Verneinung, die ihm auf der Zunge lag, und überlegte lange. Endlich sagte er: »Nein. Wenn es Prophezeiungen gibt, dann heißt das, die Zukunft ist vorbestimmt, und nichts kann sie ändern, was immer man auch tut. Und das kann ich nicht hinnehmen.«
»Gott hat uns den freien Willen gegeben«, sagte Mario, doch ob das zustimmend oder ablehnend gemeint war, wußte Richard nicht; nichts schien sicher zu sein in dieser Nacht. Sie schwiegen beide, bis Mario plötzlich lachte.
»Der freie Wille! So sei es. Gehen wir hinein, Riccardo. Weißt du, es ist geradezu unflorentinisch, soviel zu grübeln. Wen kümmert schon das Morgen?«
Die Straße nach Ferrara, ihr erstes Ziel, war gleichzeitig auch der Weg, den die Handelszüge aus und von Venedig gewöhnlich nahmen und die Richard mittlerweile sehr vertraut war. Dennoch bot das von Olivenbäumen, Kornfeldern und Weinstöcken überzogene Land jedesmal einen leicht veränderten Anblick, und er fand schnell zu der beschwingten Unbekümmertheit zurück. Wolfgang Schmitz erklärte freimütig, er sähe diese Reise als ein Geschenk des Unternehmens an, ›selbst wenn niemand den Trödel kauft‹, und Mario überraschte sie beide, als er eines von Lorenzos Karnevalsliedern anstimmte:
Quant è bella giovinezza,
Che si fugge
tuttavia;
Chi vuol' esser lieto sia,
Di doman non
c'è certezza!
Er hatte eine reine, schöne Stimme, und der Klang der Melodie, vermischt mit der grünen, flirrenden Sommerhitze, sollte Richard noch jahrelang im Gedächtnis bleiben. Auf dem Weg nach Ferrara allerdings dachte er nichts weiter, als daß es richtig gewesen war, Mario mitzunehmen, und spürte höchstens einen Anflug von schlechtem Gewissen, wenn er an Saviya dachte.
Allerdings war auch die Landstraße nicht frei von düsteren Seiten. Kurz vor Ferrara ritt ein Trupp Soldaten in scharfem Galopp an ihnen vorbei. Mario hob die Hand über die Augen, um sich vor der Sonne zu schützen, schaute ihnen nach und seufzte. »Das dachte ich mir. Die Este sind durch Heirat mit Guidobaldo da Montefeltro verbunden, und der bekriegt sich zur Zeit wieder mit einem anderen Fürsten der Romagna. Falls der Heilige Vater den Kirchenstaat je wieder unter seine Oberherrschaft bekommen wollte, bräuchte er eine Armee. Aber woher sollte er die nehmen? Von den italienischen Fürsten bestimmt nicht.«
In diesem Augenblick fügte sich ein weiteres Muster in Richards Kopf zusammen; Bruchteile einer lange zurückliegenden Unterhaltung beim Schachspiel tauchten in ihm auf, er fügte sie mit dem eben Gehörten zusammen und rief wie vom Donner gerührt: »Jakob! Die Schweizer, natürlich!«
»Wie? Was?« fragte Wolfgang Schmitz neugierig. Richard schüttelte den Kopf und lächelte. »Ach, nichts weiter. Ich mußte nur gerade an einen alten Scherz denken.«
Er hatte nichts gegen Schmitz, doch das hieß nicht, daß man ihm Vermutungen über Jakob Fuggers Pläne anvertrauen konnte. Während er sich die Witze anhörte, die Schmitz nun zum besten gab, und gelegentlich an den angebrachten Stellen lachte, versuchte er, seine Erkenntnis in Gedanken zu formulieren.
Schweizer Söldner waren kostspielig, sehr kostspielig; selbst der kriegsbegeisterte Maximilian hatte selten mehr als ein paar Hauptmänner anwerben können. Außerdem ließen sich Fremde nie sehr gut in einheimischen Armeen eingliedern; zu häufig kam es zu zersetzenden Eifersüchteleien.
»Wer kann sich Schweizer Söldner schon leisten?« hörte er sich über ein Schachbrett gebeugt Jakob fragen. Nun hatte er die Antwort. Der Papst konnte es. Nicht mehr der gegenwärtige Papst; der war nach allem, was man sich erzählte, kaum noch fähig, Audienzen zu geben. Aber sein Nachfolger. Ausländische Söldner waren sogar die einzige Möglichkeit, um gegen die kriegerischen Herren der Romagna vorzugehen; und nur die Kirche konnte sich eine ganze Armee davon leisten. Notfalls mit der gütigen Mithilfe von Jakob Fugger.
Die Schweizer sind ein unternehmungslustiges Völkchen.
Aber was bekam Jakob dafür? Mit Vermittlergebühren für eine gute Idee würde er sich kaum zufriedengeben. Was konnte die Kirche dem Unternehmen Fugger geben?
»Sieh, Riccardo«, sagte Mario und riß ihn aus seinen beunruhigenden Überlegungen. »Ferrara.«
Ercole d'Este, der Herzog von Ferrara, hatte seinen Ruf als begeisterter Sammler antiker Stücke nicht zu Unrecht. Die Statuen, die seinen weitläufigen Palast schmückten, konnten sich mit denen des Palazzo Medici in Florenz durchaus messen, doch anders als Lorenzo de'Medici hielt es der Herzog für unter seiner Würde, selbst über Neuerwerbungen zu verhandeln. Statt dessen hatten Richard, Wolfgang Schmitz und Mario es mit seinem Verwalter zu tun.
Richard war kein schlechter Kaufmann, doch am besten kam er mit Kunden und Käufern zurecht, die wie er in die Schönheit seiner Handelsobjekte verliebt waren. Dann konnte er seine ansteckende Freude über das Schöne voll zur Geltung bringen, er konnte Gespräche unter Gleichgesinnten führen, und in dieser Atmosphäre dachten die wenigsten Käufer daran, noch allzusehr zu feilschen. Der Verwalter dachte daran; mehr noch, er mußte davon überzeugt werden, daß die angebotenen Stücke überhaupt sein näheres Interesse verdienten.
»Und woher soll ich wissen, daß diese Beschreibungen zutreffen?« fragte er zum hundertsten Mal schlechtgelaunt, als sich das Gespräch bereits endlos lange hinzog.
»Weil sie von drei ehrenwerten Vertretern der Gilden in Florenz unterschrieben und bestätigt sind«, erwiderte Richard geduldig, »und weil ich hier Briefe der bisherigen Eigentümer habe, die …«
Mario unterbrach ihn und fixierte den Verwalter streng. »Guter Mann«, sagte er herablassend, »für wie dumm haltet Ihr uns eigentlich? Die Tochter des Herzogs heiratet im nächsten Monat seine Exzellenz Francesco Gonzaga, und in Florenz weiß jeder, in welchen Schwierigkeiten Ihr steckt, weil die Prinzessin unbedingt so viele antike Stücke wie möglich als Mitgift mitnehmen und der Herzog sich von keinem trennen will. Wir erweisen Euch also einen großen Gefallen, und wenn Ihr dies nicht bald entsprechend würdigt, dann werden wir in dem Herzog von Urbino zweifellos einen verständnisvolleren Käufer finden.«
Der Verwalter schaute nur einen Moment betroffen drein, doch Richard hatte es registriert und handelte demgemäß. Er hätte sich ohrfeigen können, nicht selbst auf die Idee gekommen zu sein. Es war natürlich reine Spekulation; alles, was man sich in Florenz erzählte, war, daß die Prinzessin Isabella d'Este eine ebenso leidenschaftliche Verehrerin antiker Kunst war wie ihr Vater. Und eine standesgemäße Mitgift war in diesem Land, das wußte er, so wichtig, daß sie große Familien oft fast ruiniert hatte. Die Wahrscheinlichkeit, daß Mario sich irrte, war daher ziemlich gering.
»Ich hatte daran gedacht, Euch eine der wenigen Gemmen zu zeigen, die ich bei mir habe, eine Darstellung von Psyche und Amor«, sagte Richard nun betont gelangweilt, »aber ich sehe schon, es hat keinen Zweck. Kommt, meine Freunde, wir wollen den edlen Herrn nicht länger aufhalten.«
Sie hatten noch nicht das Ende des Raumes erreicht, als der Verwalter sie zurückrief. Von da an verliefen die Verhandlungen zu Richards Gunsten, und als sie Ferrara verließen, hatten sie zu ihrer eigenen Verwunderung nicht nur einige, sondern alle für den sofortigen Wiederverkauf vorgesehenen Kostbarkeiten losgebracht.
»Eigentlich schade«, meinte Wolfgang Schmitz bedauernd. »So müssen wir gleich nach Florenz zurückkehren.«
»Vielleicht auch nicht.« Mario schnalzte mit der Zunge, um sein Maultier dazu zu bewegen, schneller zu traben. »Riccardo, hast du dir schon einmal überlegt, diese Reise etwas länger auszudehnen? Ich meine, du könntest deinen Verwandten in Venedig besuchen, oder … nun, du hast die Ewige Stadt noch nicht gesehen …?«
»Wer hat mich denn einmal gewarnt, nie einen Fuß nach Rom zu setzen, solange Vittorio de'Pazzi sich dort aufhält?« gab Richard ein wenig spöttisch zurück. »Und Venedig kenne ich bereits. Außerdem – erstens kann ich es kaum erwarten, Meister Eberding die guten Neuigkeiten mitzuteilen, und zweitens gibt er mir dann vielleicht ein paar Tage frei, so daß ich Saviya dafür entschädigen kann, daß sie sich in Florenz langweilen mußte, während wir hier durch die Gegend ziehen. Saviya und ich brauchen wenig Geld, wenn wir zu zweit reisen – und in Pisa sollen ein paar alte Etruskergräber gefunden worden sein.«
Mario schwieg dazu; er kam auch später nicht mehr auf das Thema zu sprechen. Sie brauchten nur zwei Tage für die Rückreise nach Florenz; kurz bevor sie die Porta alla Croce erreichten, trafen sie auf einen weiteren Angestellten des Fondaco, der für Eberding in der näheren Umgebung unterwegs gewesen war, einen der florentinischen Gehilfen namens Matteo Balducci.
Er erkannte sie und begrüßte sie erfreut. »Ah, Messer Riccardo, Messer Wuolfgan'! Ihr ahnt nicht, was hier inzwischen alles geschehen ist!«
»Wir werden's ja gleich erfahren«, murmelte Wolfgang Schmitz gottergeben, denn Balducci galt als der Redseligsten einer. »Caterina Sforza hat versprochen, Gianni de'Medici zu heiraten«, teilte der Florentiner ihnen vergnügt mit, »und das, obwohl es heißt, daß Vittorio de'Pazzi ihr ebenfalls einen Antrag gemacht hat. Il Magnifico richtet schon die Verlobung aus. Fra Savonarola bereitet eine Predigt über entartete Mannsweiber vor, so heißt es, und in Fiesole hat eine Frau ein Kind mit zwei Köpfen zur Welt gebracht. Doch die beste Neuigkeit ist und bleibt immer noch, daß wir jetzt keine Angst mehr vor unerwarteten Überraschungen zu haben brauchen – jetzt, wo wir in Florenz eine Hexe haben, die in die Zukunft sieht wie durch ein Glas.«
»Wahrhaftig?« erkundigte sich Wolfgang Schmitz neugierig. Doch Balducci achtete nicht auf ihn; die plötzliche Wandlung des umgänglichen Messer Riccardo in einen feindseligen Steinbock verwunderte ihn. Richards Lippen bildeten nur noch zwei schmale Striche.
»Ihr solltet nicht soviel dummes Zeug nachplappern«, sagte er ungehalten.
Nun fühlte sich Balducci in seiner Ehre gekränkt. »Ich rede nur von dem, was ich selbst gesehen habe«, protestierte der Florentiner und fügte beleidigt hinzu: »Ihr solltet es doch am besten wissen, schließlich wohnt sie bei Euch.«
Die Hände, in denen die Zügel seines Pferdes ruhten, verkrampften und öffneten sich wieder. »Bei Gott, Balducci«, stieß Richard mühsam beherrscht hervor, »wenn Ihr nicht so dumm wärt, daß es eigentlich fast alles entschuldigt, würdet Ihr dafür bezahlen. So kann ich Euch nur raten, diese Verleumdung nie zu wiederholen, wenn Euch Eure Stellung im Fondaco lieb ist.«
»Er wird es nicht wiederholen«, sagte Mario beruhigend. »Es ist nur Geschwätz, Riccardo, nicht weiter wichtig. Laß uns weiterreiten, wir vertun hier nur kostbare Zeit.«
»Genau«, stimmte Schmitz erleichtert zu, dem die Wendung, welche die Unterhaltung genommen hatte, mehr als unangenehm war. »Reiten wir weiter und zeigen dem alten Eberding die Kreditbriefe der Este, er wird sicher Augen und Nase …«
Möglicherweise lag es an dem ein wenig übereifrigen Drängen seiner Gefährten, vielleicht war es auch der heiße Tag und die Überzeugung, daß ein derartiges Gerede, einmal in Umlauf gesetzt, zu gefährlich war, um es zu dulden: Richard jedenfalls war nicht gesonnen, den Zwischenfall einfach zu übergehen.
»Ich verlange eine Entschuldigung wegen Eurer Behauptung über Madonna Saviya und Euer Versprechen, daß Ihr so etwas nie wiederholen werdet«, beharrte er.
Doch die sommerliche Hitze hatte auch auf Balducci ihre Wirkung; er arbeitete vielleicht für die Tedeschi, aber als freier Florentiner war er nicht bereit, sich eine derart ungerechte Behandlung bieten zu lassen.
»Eine Entschuldigung steht höchstens mir zu«, entrüstete er sich, »und ich werde sie bekommen, o ja. Gehen wir doch zu Messer Salviati – er hat mir erst vorgestern erzählt, daß Eure Hexe ihm heute nachmittag die Zukunft lesen wird!«
Bisher hatte die Empörung über Richards unerwartete Reaktion die ganze Aufmerksamkeit des Gehilfen in Anspruch genommen, doch nun wurde er gewahr, daß ihm auch der Priester mörderische Blicke zuwarf.
»Verschwindet, Balducci«, sagte Mario kalt, »ehe ich auf die Idee komme, mit dem Bischof über Euren Umgang mit Hexen zu sprechen.«
Von dieser Seite hatte es Balducci noch gar nicht betrachtet. Vor einem Jahr noch mochte Florenz eher heidnisch als christlich gewesen sein, doch Savonarola hatte die religiöse Inbrunst der Bürger neu entfacht, und von einem Mitglied des Klerus angezeigt zu werden, war nicht gerade das, was er sich in diesen Zeiten wünschte.
»Nun, Padre«, begann er unbehaglich, »wenn Ihr es wünscht.«
»Aber ich wünsche es nicht!« Richards Stimme klang scharf und befehlend. Ihn irritierte, daß es Mario offenkundig eiliger hatte, Balducci loszuwerden, ohne den Verleumdungen gegen Saviya auf den Grund zu gehen.
»Wir gehen jetzt zu Messer Salviati, und Ihr begleitet uns.«
»Tu das nicht, Riccardo«, sagte Mario ruhig.
Richard starrte ihn überrascht an. »Wie meinst du das?«
»Geh nicht.«
Das war Verrat von einer Seite, wo er es nicht erwartet hatte, und das brachte ihn nur noch mehr auf. »Anscheinend«, sagte er durch zusammengebissene Zähne hindurch, »hängst du doch immer noch an deinem mönchischen Aberglauben. Wir gehen – Padre!«
Jacobo Salviati erwartete an diesem Nachmittag keine Gäste, und als man ihm vier Besucher meldete, war er unangenehm berührt. Nicht, daß er etwas zu verbergen gehabt hätte; schließlich war die kleine Zigeunerhexe in ganz Florenz Mode geworden, doch für einen gediegenen Geschäftsmann mochte es doch ein wenig anrüchig sein, derartige Methoden zu benutzen. Immerhin besser, man galt als anrüchig denn als altmodisch und überholt. Seine Verstimmung hob sich jedoch, als er seine Besucher erkannte.
»Ah, unsere jungen Tedeschi vom Fondaco«, sagte er und ging lächelnd auf sie zu. »Hört, Riccardo, ich müßte es Euch eigentlich übelnehmen, daß Ihr mir die Talente Eurer Schönen so lange verheimlicht habt. Das war kein Freundschaftsdienst, eh?«
Die Zigeunerin hatte beim Eintritt der vier Männer zunächst eine instinktive Fluchtbewegung gemacht, war dann aber stehengeblieben, ruhig, mit gekreuzten Armen; nur die Tatsache, daß sie reglos auf den Boden schaute, war ungewöhnlich. Sie hatte ihm gegenüber bisher nicht den Eindruck von Bescheidenheit oder Schüchternheit gemacht. Doch es verwunderte ihn noch mehr, daß der sonst so höfliche Riccardo auf seinen Gruß überhaupt nicht antwortete, sondern seinerseits auf die Zigeunerin starrte. Auch seine Begleiter schienen Salviati kaum zu beachten. Der andere Tedesco mit dem unaussprechlichen Namen schaute entsetzlich verlegen drein, Balducci triumphierend, und der junge Mario Volterra, mit dem Salviati fast einmal seine Tochter verlobt hätte, bis der Sohn seines alten Freundes es sich in den Kopf gesetzt hatte, Priester zu werden, wirkte regelrecht verzweifelt.
»Saviya«, sagte Richard endlich, und seine Stimme war für alle Anwesenden kaum wiederzuerkennen, »hast du Messer Salviati und anderen erzählt, du wärest eine Hexe?«
Die Zigeunerin hob die Augen, und ihr kühler, fast unbeteiligter Blick traf ihn wie ein Eissplitter ins Herz. »Ja, das habe ich. Und ich habe es getan, weil es stimmt. Frag deinen Freund Mario.«
Richard drehte sich zu Mario um. »Du wußtest es«, sagte er bitter, »du wußtest es die ganze Zeit.«
Mario wollte zu einer Rechtfertigung ansetzen, doch Richard machte eine abwehrende Handbewegung. »Oh, schon gut, ich weiß. Du warst dir ja nie ganz sicher, ob es Hexen gibt oder nicht. Daß sie sich durch ihren Aberglauben in Lebensgefahr begibt, ist nichts neben dem Umstand, daß du endlich die Bestätigung für die Lehren der Kirche hast, nicht wahr?«
Er wandte sich an Saviya. »Komm mit«, sagte er ausdruckslos, packte sie am Arm und drehte ihn ihr auf den Rücken, so daß sie keine andere Wahl hatte, als ihm zu gehorchen.
Wolfgang Schmitz, der noch nie erlebt hatte, daß Richard Hand an irgend jemanden gelegt hatte, starrte ihn fassungslos an. Das war der geradezu unheimlich selbstbeherrschte, im Grunde ein wenig langweilige Richard Artzt, der einer anständigen Rauferei ebenso aus dem Weg ging wie dem Rausch, den ein Mann hin und wieder brauchte?
Kurz bevor sie den Raum verließen, schien sich Richard endlich wieder an den Hausherrn zu erinnern. »Verzeiht, Messer Salviati«, sagte er in einem bloßen Echo auf seine gewohnte Höflichkeit, »wenn wir uns jetzt verabschieden, doch es gibt dringend etwas zu erledigen.«
Jacobo Salviati blinzelte ein wenig, nickte und schaute den beiden nach. Es blieb dem peinlich berührten Wolfgang Schmitz überlassen, unterstützt von einem erleichterten Balducci, die Situation zu klären, denn auch Fra Mario war keine große Hilfe.
Bis zu ihrer Ankunft in der Herberge hatte sich die eisige Zurückhaltung auf beiden Seiten zu glühendem Zorn gewandelt. Richard begann noch verhältnismäßig gelassen, als er erklärte: »Du wirst nie – nie wieder irgend jemandem gegenüber behaupten, daß du eine Hexe bist. Falls dir noch nicht klar ist, wie verdammt gefährlich das werden kann, dann stell dir eine Frau vor, der die Knie zerquetscht wurden, die mit Feuer und Eisen gefoltert wurde, immer wieder, stell dir diese Frau dann auf dem Scheiterhaufen vor, und stell dir vor, das wärst du! Das ist meine Prophezeiung für die Zukunft!«
»Was weißt du schon von Gefahr – Gorgio!« gab Saviya zornig zurück. Ihre Hand zitterte über ihrer Taille, und erst jetzt registrierte er, daß sie dort ihren Dolch trug. »Was weißt du schon davon! Hast ein Leben zwischen Daunendecken und Palästen! Hast du jemals nicht gewußt, wo du am nächsten Tag sein wirst, ob du überhaupt etwas zu essen bekommst, ob du überhaupt noch einen Sonnenaufgang sehen wirst? Du weißt ja noch nicht einmal, was Gefahr ist. Wenn mich irgend jemand anderer so behandelt hätte wie du heute, läge er jetzt schon tot zu meinen Füßen. Ich weiß, wie man kämpft.«
»Du weißt überhaupt nichts, wenn du dir einbildest, dich mit einem Messer und ein paar abergläubischen Sprüchen gegen die Inquisition schützen zu können!«
Saviya holte tief Atem, und als sie weitersprach, hatte sie sich in einen Mantel von trügerischer Sanftheit gehüllt, der unter seinem Samt den tödlichen Stahl verbarg.
»Armer Riccardo. Der Priester hatte recht, du kannst es einfach nicht aushalten, wenn es etwas gibt, was du nicht in deine Welt der Zahlen und Worte einordnen kannst. Du glaubst nicht, daß ich eine Hexe bin, Gorgio? Soll ich dir sagen, was ich von dir weiß? Soll ich dir von deiner Mutter erzählen, die von den Schwarzkutten verbrannt wurde?«
»Mario hat dir das gesagt!« unterbrach Richard sie wütend. Er mußte sie zum Schweigen bringen; er mußte sie dazu bringen, einzusehen, wie sehr sie sich irrte, damit endlich wieder alles wie vorher war, damit sie sich wieder in das Mädchen zurückverwandelte, mit dem er glücklich gewesen war.
»Mario, bah!« Etwas veränderte sich in Saviyas Gesicht; es war, als habe sie in diesem Moment etwas begriffen, das ihr vorher verschlossen geblieben war. Sie biß sich auf die Lippen, und ihr Zorn verlor sich ein wenig.
»Riccardo, kannst du denn nicht begreifen, was ich bin? Es hat nichts mit dem Teufel zu tun, wie ihr Gorgios glaubt. Ein paar von meinem Volk haben diese besondere Gabe, schon immer; jeder von uns kann den Mond singen hören, aber ich kann auch mit den Schatten in der Nacht sprechen, mit Flamme, Wasser, Reisig und den Geistern der Luft, und sie sagen mir die Wahrheit. Deswegen weiß ich, daß du fort mußt aus Florenz, und du wirst gehen. Du hast mein Blut in dir. Du mußt mir vertrauen …«
Richard erkannte nicht die Möglichkeit zur Versöhnung, die sie ihm bot. Er sah nur, daß sie all das verkörperte, was er als Aberglauben bekämpfte; daß sie in der Tat den Tod heraufbeschwor, den Tod für sich und Hunderte von unschuldigen Frauen, die sterben mußten, weil es Gläubige wie sie gab.
»Du wirst dich nie wieder als Hexe bezeichnen«, wiederholte er hartnäckig, »und du wirst mit diesem Unsinn aufhören.«
Saviyas Arme, die sie ihm entgegengestreckt hatte, sanken herab. Ihre grünen Augen verloren ihren Glanz und wurden grau und kalt wie Flußkiesel.
»Der Woiwode hatte recht«, sagte sie dumpf. »Wir können nicht mit euch zusammenleben. Was willst du tun, mich einsperren, während du fort bist, wie ihr Stadtmenschen es mit euren Frauen haltet? O nein, Riccardo. Nein.«
Zu spät erkannte Richard, daß er einen Fehler gemacht hatte, doch er war zu aufgewühlt, um jetzt nachzugeben. »Wenn es nötig ist, um dich vor deiner eigenen Dummheit zu bewahren – ja«, erwiderte er barsch. Saviya zog ihren Dolch, richtete die Klinge jedoch auf sich selbst, nicht auf ihn.
»Wenn dir an meinem Leben etwas liegt, dann bewege dich nicht«, sagte sie warnend. »Ich weiß, wo mein Herz ist, und ich stoße eher zu, als daß ich mich einsperren lasse.«
Mit ihrer gewohnten unglaublichen Behendigkeit glitt sie, den Dolch immer gegen ihre Brust gerichtet, zu ihrer Truhe und zerrte einige Beutel heraus, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Erst als sie sich rückwärts zur Tür bewegte, fand Richard seine Sprache wieder.
»Geh jetzt«, sagte er mit der ganzen anklagenden Verbitterung, die sich in ihm aufgestaut hatte, seit er ihr bei Salviati gegenübergestanden war, »und wir werden uns nie mehr wiedersehen. Ich werde dich nicht noch einmal suchen, Saviya, und wenn du über diese Schwelle dort gehst, dann ist es mir gleich, was aus dir wird.«
Sie antwortete nicht, bis er nur noch ihre Schritte vernahm. Dann hörte er sie leise sagen, so leise, daß er sie kaum verstand: »Gut.«
Unter anderen Umständen hätte Anton Eberding es genossen, dem allzu selbstsicheren und allzu vollkommenen Richard Artzt berechtigte Vorwürfe zu machen, denn Salviati war schließlich ein wichtiger Partner, den man nicht brüskieren durfte, doch die Neuigkeiten aus Augsburg ließen seinen Groll hinfällig werden.
»Herr Fugger hat uns einen Eilboten gesandt«, sagte er, nachdem Richard seinen Rechenschaftsbericht über den Besuch in Ferrara beendet hatte, und bemühte sich, nicht allzu gutgelaunt zu wirken. »Schon wieder?« fragte Richard teilnahmslos. Eberding trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch.
»Ja, in der Tat, schon wieder. Familiennachrichten, die Euch betreffen, und … aber seht selbst.«
Er drückte ihm zwei Briefe in die Hand. Der eine stammte von Jakob, war unverschlüsselt und bestand nur aus einem Satz; der andere war über und über mit Sybilles hohen, geschwungenen Schriftzügen bedeckt.
»Man darf Euch wohl Glück wünschen … oder ist Euch Beileid lieber?« kommentierte Eberding, während Richard Sybilles Brief überflog. Der Leiter des Fondaco war enttäuscht, als sich Richards Miene nicht veränderte, denn man hatte ihn in einem Begleitbrief über die Neuigkeiten informiert. Der Vater der Frau Fugger, Wilhelm Artzt, war gestorben und hatte neben dem Anteil für seine Frau und Tochter auch einen erheblichen Teil seines Vermögens an den Enkel vererbt.
»Nun«, sagte Richard, immer noch ohne erkennbare Empfindung, ließ den Brief seiner Tante sinken und schaute wieder auf das kurze Schreiben von Jakob, »das heißt wohl, daß ich mich dem nächsten Zug über die Alpen anschließen werde. Ich nehme an, Ihr gebt mir noch die Zeit, vorher den Transport der Waren nach Ferrara zu regeln?«
»Selbstverständlich«, gab Eberding zurück und fühlte sich einmal mehr in seiner ursprünglichen Einschätzung von Richard Artzt bestätigt: Der Junge mußte Fischblut in den Adern haben. Allerdings konnte man auch nicht behaupten, daß Jakob Fugger in dieser Angelegenheit viele Worte verschwendet hatte. Eberding hatte es sich nicht versagen können, einen Blick auf den Brief an Richard zu werfen. Dort standen, unterzeichnet mit seinem Namen und geschrieben in der italienischen Schmuckschrift, die Jakob Fugger sich in seinen Jahren in Venedig angeeignet hatte, nur zwei Worte: »Komm zurück.«