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FRA MARIO VOLTERRA NAHM die Brille ab, die er zur Entzifferung alter Handschriften benutzte, und seufzte. »Du kannst dir nicht vorstellen, was inzwischen geschehen ist, Riccardo«, sagte er. Er rieb sich die Nasenwurzel, wo die Brille Druckstellen hinterlassen hatte, und wies auf einen Stapel Bücher. »Wie du siehst, habe ich einige von den Prozeßabhandlungen, die du noch brauchst, erhalten. Aber verlassen wir besser das Skriptorium. Ich möchte den Bruder Bibliothekar nicht verärgern, und meine Erzählung dauert länger.«
Der Kreuzgang von Santo Spirito wirkte seltsam unbelebt für diese Tageszeit, wie auch die Bibliothek nicht so voll wie sonst gewesen war. Die kurzen Schatten, welche die Mittagssonne warf, fielen wie spitze Nadeln auf den hellen Steinfußboden.
»Im Fondaco schwirrt es auch von Gerüchten«, meinte Richard und setzte sich auf eine der Bänke. »Dieser berühmte Prediger ist endlich eingetroffen, nicht wahr? Wie hieß er doch gleich – Savonarola? Er hat sich Zeit gelassen. Du hast mir doch erzählt, daß ihn Lorenzo schon im letzten Winter eingeladen hat.«
»Hm. Ja. Er ist da und predigt in San Marco. Deswegen sind übrigens auch so wenige Leute hier, unter anderem«, antwortete Mario düster. »Die Mönche in San Marco sind entzückt, unser Abt ist es weniger, aber das ist eigentlich unwichtig. Ganz Florenz drängt sich nach San Marco, um Fra Savonarola zu sehen.«
Richard lachte. »War das denn nicht die Absicht?«
Doch dem Augustiner war nicht nach Scherzen zumute. »Der Mann vergleicht sich gerne mit einem Schwert, und er ist auch eines. Er hat die Stadt gespalten, und ich schließe mich da nicht aus. Ich weiß nicht, was ich … Geh und sieh ihn dir an. Wenn du danach eine feste Meinung über ihn hast, gratuliere ich dir. Ich gebe dir nur einen Hinweis. Er nennt Florenz ›Die Blume der Hölle‹.«
Im Fondaco stand Meister Eberding ein wenig hilflos vor einer Reihe von neuen Lieferungen. »Artzt, ich verstehe das nicht. Die Preise für Goldschmuck fallen, die Preise für bestickte Stoffe fallen, und ein paar Leute wollen mir sogar Gemälde und Statuen für einen absoluten Spottpreis andrehen. Was ist denn nur mit den Welschen los?«
Diese Frage konnte ihm Richard zwar auch nicht beantworten, doch dafür hatte er einen Vorschlag zur Hand: »Wenn Gemälde und Statuen so billig zu haben sind«, sagte er begeistert, »dann muß das Fondaco natürlich sofort kaufen – und …«
Die Andeutung von Hilflosigkeit in Eberdings Miene verschwand augenblicklich. »Kaufen? Schmuck und Juwelen vielleicht, aber dieses überflüssige Gerümpel ganz bestimmt nicht! Die Welschen mögen verrückt geworden sein, aber ich habe mich da noch nicht angesteckt, das kann ich Euch versichern!«
Auf dem Mercato Nuovo rottete sich eine Horde von Halbwüchsigen zusammen und warf mit Steinen nach den Geldwechslern. »Wucherer! Gottlose! Sünder!« schrien sie im Chor. Die Wache der Signoria schaffte bald Ordnung, doch mehr als ein Wechsler klappte seinen Stand zusammen und hastete davon.
In der Via Calimala war Messer Ridolfi gerade dabei, seine Gehilfen zu entlassen. Zwischen den Säulen seiner Loggia türmten sich Stapel kostbarer Seidenstoffe.
»Tut mir leid, Riccardo, aber ich habe mich entschlossen, wieder zu den reinen Wollwaren zurückzukehren. Wir Calimala sollten ohnehin mit nichts anderem handeln. Die Eitelkeit der Welt hat mich lange genug geblendet.«
Am Sonntag war Richard sehr früh in San Marco. Er hatte dieses Kloster noch nie besucht, teils, weil es keinen besonderen Anlaß dazu gegeben hatte, teils, weil es vom Orden der Dominikaner geführt wurde. Seine Freundschaft mit Mario hatte sein Verhältnis zum Klerus zwar etwas entkrampft, doch die ›Hunde des Herrn‹ lösten in ihm nach wie vor einen Schauder der Abneigung aus.
Die im Vergleich zum Duomo eher kleine Kirche war bis zum Bersten gefüllt, so daß Richard, obwohl er recht zeitig gekommen war, keinen Platz mehr fand und sich zwischen zwei Kirchenstühle zwängen mußte. Er brauchte nicht lange auf Savonarola zu warten. Der Dominikaner schritt langsam, mit der Würde eines Königs, zur Kanzel. Er hatte ein ausgemergeltes Gesicht, tiefliegende Augen, die von den buschigen Augenbrauen fast völlig überschattet wurden, und eine riesige, stark gebogene Nase, die Richard an den Schnabel eines Adlers erinnerte.
Savonarola begann seine Predigt mit der Auslegung der Mysterien, lenkte aber bald auf anderes über. Seine rauhe, leidenschaftliche Stimme peitschte auf die Gemeinde ein, als er das herausschrie, was vor ihm noch keiner in dieser Deutlichkeit auszusprechen gewagt hatte:
»Ich habe wahrgenommen, wie stolzer Ehrgeiz Rom ergriffen und alle Dinge befleckt hat. O Italien, o Rom, o Florenz! Eure Schurkereien, eure Gottlosigkeiten, eure Unzucht und eure Grausamkeit bringen Trübsal über uns alle. Gebt auf euer Gepränge – gebt auf, sagte ich euch, eure Kurtisanen und Lustknaben! Die Erde ist besudelt von Blut, aber die Geistlichkeit kümmert es keinen Scudo. Sie sind meilenweit entfernt von Gott, jene Priester, deren Anbetung darin besteht, die Nächte bei Huren zu verbringen und die Tage zu verschwatzen in den Sakristeien. Selbst den Altar haben sie zu einem Kaufladen gemacht. Die Sakramente sind die Zahltische ihres Ämterhandels. Eure Lust hat euch frech gemacht wie die Blicke der Dirnen!«
Richard wunderte sich nicht mehr über die Unruhe, welche die Stadt ergriffen hatte. Jede dieser Beschuldigungen reichte schon aus, um Fra Savonarola auf den Scheiterhaufen zu bringen. Aber warum war Mario so verstört gewesen? Waren nicht all diese Aufrufe zur Reform in seinem Sinn?
Unterdessen ging Savonarola, nachdem er die Geistlichkeit mit Worten vernichtet hatte, auf sein nächstes Ziel über: »Seht die Geldverleiher, seht sie, die hier überall zugange sind! Ihr seid der Habsucht schuldig; ihr habt die Beamten bestochen und die Ämter. Auf taube Ohren trifft derjenige, der da sagt, daß es sündhaft sei, Wucher zu treiben, und ihr haltet jeden für einen Narren, der euch davon zurückhalten will.
Und du, Florenz, du Blume der Hölle! O ihr, die ihr in dieser Stadt lebt, habt wahrhaft den Spruch Jesajas erfüllt: ›Sie tuen kund ihre Sünden wie Sodom, denn sie verbergen sie nicht.‹ Und das Wort des Jeremias: ›Du hast die Stirn einer Hure, du weigerst dich aller Scham.‹«
Unter den Zuhörern mochten neben den gläubigen Kirchgängern auch nur Neugierige sein, vielleicht sogar Spötter und Skeptiker. Doch nichts davon war mehr zu erkennen. Savonarola hatte sie in seinen Bann gezogen, in atemloser Ehrfurcht. Er streckte seinen Arm über die Brüstung der Kanzel hinweg aus und rief mit einer heiseren, beinahe versagenden Stimme: »Doch warum ist es so weit gekommen? Warum? Weil die Stadt von einem verderbten Tyrannen beherrscht wird, einem Mann, der in seinem Hochmut heidnische Orgien feiert, einem Mann ohne christliche Demut, einem Mann, der noch schlimmer ist als die Sünder Roms! Er wird euch alle in das Heidentum zurückführen, wenn ihr nicht umkehrt und Buße tut! Das Ende der Zeiten ist nahe, und ganz Italien wird in Strömen von Blut ertrinken, tut ihr nicht Buße! Buße! Buße!«
Während die gesamte Gemeinde in den Schrei Savonarolas einstimmte, fragte sich Richard, ob er das Ende der Zeiten von Florenz nicht schon jetzt erlebte.
Richards Zimmer im Fondaco hatte seine Vor- und Nachteile. Die Lage zum Innenhof hielt den Straßenlärm fern, doch die Hitze, die sich aufstaute, war manchmal fast greifbar. Wie in jedem anderen Raum stand auch hier eine Wasseramphore. Richard hielt seine Unterarme ein wenig in das kühlende Wasser, dann erklärte er, an seinen Besucher gewandt: »Ich verstehe jetzt, was du meinst. Man kann ihn nicht einordnen. Er hat recht – und er hat unrecht, beides zugleich.«
Mario nickte. »Korruption in der Kirche, Ämterkauf in allen Gebieten – dagegen muß etwas geschehen, und wir brauchen einen wie Fra Savonarola, der Volk und Klerus hinter sich bringt. Aber seine Angriffe auf die Platonische Akademie und auf Lorenzo …«
»Und was sagt Il Magnifico dazu?«
»Er hat Pico gebeten, Fra Savonarola auszurichten, er wolle keinen Streit, und ihm läge nichts so sehr am Herzen wie die Förderung und der Schutz der Kultur, einschließlich der christlichen Grundsätze. Und nun rate, was Savonarola antwortete.«
»Nach seiner Predigt«, entgegnete Richard, »kann ich es mir sinngemäß vorstellen.«
Ein Funke Erheiterung in Marios blauen Augen gab dem Mönch seine gewohnte Vitalität zurück. »Nein, es war noch unglaublicher. Unser Bruder von den domini canes sagte wörtlich: ›Lorenzos einzige Hoffnung besteht darin, seine Sünden zu bereuen, denn der Herr schont niemanden und fürchtet nicht die Fürsten dieser Erde. Zwar bin ich ein Fremder, und Lorenzo ist der erste Bürger, aber ich muß hier bleiben, und er muß gehen.‹«
Richard stieß einen tonlosen Pfiff aus. »Oh.«
»Ja. Und der arme Pico weiß nicht, was er tun soll. Er hat den Einfall mit Savonarola gehabt, und er ist auch jetzt noch von dem Mann begeistert, aber er ist auch Lorenzos Freund. Die letzten Treffen der Platonischen Akademie waren nicht gerade erbauend.«
Richard kam in den Sinn, daß die ganze Geschichte doch sehr, sehr bezeichnend für Florenz war. Er versuchte, sich einen deutschen Mönch vorzustellen, der mit Staatsoberhäuptern und Kirchenfürsten so umsprang, und konnte es nicht. Auch in den anderen italienischen Stadtstaaten wäre ein Savonarola wohl längst verbannt worden oder auf dem Scheiterhaufen gelandet – oder doch nicht? »Und was hat Lorenzo jetzt vor?« fragte er laut.
Mario zuckte die Achseln. »Was soll er machen? Savonarola den Mund zu verbieten, wäre despotisch, und eine Einigung scheint nicht möglich. Er wird ihn weiter predigen lassen und hoffen, daß der Mann entweder seine Lust an Angriffen auf die Medici verliert oder das Volk sein Interesse an ihm.«
»Und wenn …«
»Wenn Fra Savonarola tatsächlich zum Umsturz aufruft, statt nur zur Buße? Ich glaube nicht, daß die Bürger ihm dann folgen werden. Lorenzo regiert schon über zwanzig Jahre, er hat mehr für uns getan als jeder andere, und das Volk liebt ihn. Ich glaube auch nicht, daß Savonarola so weit gehen würde. Aber er hat einen Spalt in unser Denken und Fühlen getrieben, das ist es, was mir Sorge macht.«
Richard schaute versonnen auf den Innenhof hinunter, wo der Springbrunnen in immer neuen Wasserkaskaden seinen vergeblichen Kampf gegen die flirrende Hitze ausfocht. Mit einem Mal fiel ihm etwas ein, und er wandte sich beunruhigt an Mario.
»Hat sich Savonarola eigentlich auch gegen fahrende Schausteller ausgesprochen?«
»Gewiß, er hat sie zusammen mit den Spielleuten und den Künstlern verdammt – hat gesagt, daß Lieder, Gemälde, Bildwerke und so weiter einzig dem Ruhme Gottes dienen sollten, aber warum …«
Richard suchte nach seinem Barett und seinem Mantel. »Mario«, sagte er eindringlich, »ich mache mir Sorgen um … ein paar Freunde von mir. Könntest du mich begleiten?«
Die Gaukler, die Florenz von Zeit zu Zeit besuchten, wurden traditionellerweise am jenseitigen Arnoufer untergebracht. Während sie über den Ponte alle Grazie eilten, faßte Richard für Mario die wichtigsten Gegebenheiten zusammen. Der junge Augustiner stieß ihn zwischen die Rippen und meinte mit einem Augenzwinkern: »Und ich dachte schon, du hast wieder ein paar Hexen aufgetrieben, Riccardo – du hast ein Talent, mich in Angst und Schrecken zu versetzen.«
Der Wagen der Zigeuner kam in Sicht, und wie Richard befürchtet hatte, hatte sich bereits eine größere Menschenmenge angesammelt. Es waren beileibe nicht nur Neugierige, die den nächsten Auftritt der Schausteller nicht mehr erwarten konnten. Das Gemurmel klang eher feindselig. Bald gelang es ihnen, einzelne Wortfetzen auszumachen.
»… am heiligen Sonntag … gottlos … Fra Savonarola hat gesagt … weltliche Eitelkeit … heidnische Späße …«
Die Zigeuner hatten sich ebenfalls zusammengerottet und starrten nicht minder feindselig zurück. Mit ihrer dunklen Haut und der merkwürdigen Kleidung wirkten sie selbst im farbenprächtigen Florenz ungeheuer fremdartig. Eine Frau rief furchtlos zurück: »Was ist los? Seid ihr nicht auf eure Kosten gekommen? Habt ihr uns nicht gestern noch Beifall geklatscht?«
Wenn eine streitlustige Menge an einem heißen Tag eines nicht hören wollte, dann waren es Vorwürfe. Das Geraune wurde heftiger, löste sich in Einzelstimmen auf, und Beschuldigungen flogen hin und her.
»Diebsgesindel!«
»Gorgios!«
»Teufelsbrut!«
»Dummköpfe!«
»Sollen wir uns das gefallen lassen?«
Jemand warf den ersten Stein, doch inzwischen hatten Richard und Mario den Ort des Geschehens erreicht. Richard schrie, so laut er konnte, um die Menge zu übertönen: »Aufhören! Hört sofort auf!« Verblüfft wandten sich Florentiner wie Zigeuner den Neuankömmlingen zu. Mario gab Richard ein Zeichen und kletterte auf die nächstbeste Kiste.
»Wollt ihr wohl aufhören«, donnerte er im besten Predigerstil und hob beide Arme wie Savonarola auf der Kanzel. »Was ist in euch gefahren, daß ihr mit Steinen auf die Armen werft, statt sie zu nähren und zu kleiden, wie der Herr es uns befohlen hat? Hartherzigkeit hat eure Herzen ergriffen! Oh, Florenz!«
Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, dann hätte Richard Marios Auftritt komisch gefunden, denn er begriff sehr wohl, daß der Mönch Savonarola parodierte. Betretenes Schweigen breitete sich aus, als Mario fortfuhr: »Wie wollt ihr nun gerettet werden, wenn ihr so blutgierig handelt wie die Heiden, die einst die ersten Christen zu Tode brachten? Steinigung! Büßen sollt ihr, nicht mordschatzen wie die Soldaten!«
»Aber, Padre«, kam der erste Einwand, »das sind keine Armen. Das sind Zigeuner, und sie wollen den heiligen Sonntag entweihen.«
Mario holte tief Luft. »Haben nicht auch Zigeuner ihren Platz in der Schöpfung? Habt ihr euch nicht selbst an ihren Kunststücken erfreut wie an den Lilien im Feld? Sie arbeiten nicht, sie ernten nicht, doch der himmlische Vater ernährt sie trotzdem, und selbst Salomo in seiner Pracht war nicht so schön wie diese Lilien. Habt ihr vergessen, wie unser Herr selbst das sagte?«
Richard schaute zu den ›Lilien‹. Sie waren über ihren unerwarteten Helfer womöglich noch überraschter gewesen als die Einheimischen. Die meisten von ihnen standen noch kampfbereit da. Er fand Saviya unter ihnen. Sie hielt immer noch ein Messer in der Hand und war offensichtlich auch bereit, es zu gebrauchen. Sie straffte sich, und eine Sekunde lang erwiderte sie seinen Blick. Ihre Augen wirkten eiskalt.
»Und wenn sie den Sonntag entheiligen wollten«, predigte Mario weiter, »wer seid ihr, um darüber zu richten? Das steht allein der Kirche zu. Ich werde mich darum kümmern. Denkt lieber über eure eigenen Sünden nach, statt den Splitter aus dem Auge eures Bruders zu ziehen, und schert euch fort. Jeder von euch betet mir mindestens drei Ave Maria für seine Unchristlichkeit.«
Mit verschränkten Armen stand er da wie das Gericht Gottes, und einer nach dem anderen zogen die Florentiner die Köpfe ein und verschwanden, manche schnell, manche zögernd und langsam. Richard ging zu den Zigeunern hinüber, die wohl noch nie von einem Gorgio-Priester verteidigt worden waren und wie gebannt auf Mario starrten. Das harte Gesicht des grauhaarigen Woiwoden brach in ein Lächeln auf, als Richard vor ihm stand.
»Ah, Riccardo! Du hast ihn hierhergebracht, nicht wahr? Wahrhaftig, du bist ein Bruder, du hast gespürt, daß der Stamm in Gefahr war.«
Neben dem Woiwoden wandte sich Saviya ab. Richard berührte ihre Schulter. »Saviya …«
»Laß mich los«, sagte sie kalt. »Ja, ich weiß, du hast dir Sorgen um mich gemacht, und also bist du gekommen. Das ist in einem Satz der ganze Riccardo. Du kommst immer und hilfst, aber du bleibst nie, weil du Angst hast, zu bleiben. Und was nützt deine Hilfe dann, Riccardo? Was nützt sie?«
»Chut!« rief der Woiwode scharf. Saviya stampfte mit dem Fuß auf, drehte sich um und rannte davon. Richard wäre ihr nachgegangen, hätte er nicht gespürt, daß sie recht hatte, und wäre in diesem Moment nicht Mario zu ihm getreten. Er schluckte die Worte hinunter, die ihm auf der Zunge lagen, und sagte statt dessen: »Das ist Fra Mario Volterra, Woiwode, ein Freund.«
»Und ein Retter in der Not«, ergänzte Mario gutgelaunt. »Nehmt den Vorfall nicht so schwer. Die Stadt wird sich wieder beruhigen. Inzwischen würde ich Euch empfehlen, nicht auf den Marktplätzen, sondern in den Palazzi der großen Familien aufzutreten. Die Stadt wird bald einen neuen, wichtigen Gast haben, und dann sind nie genügend Gaukler zu finden.«
»Was für einen neuen Gast?« fragte Richard auf dem Rückweg zum Fondaco. »Noch ein Prediger?«
Mario hüstelte. »Hm … nein. Eher das Gegenteil. Giovanni de'Medici kommt aus Pisa zurück, wo er bei Filippo Decio Theologie studiert. Und er bringt einen seiner Mitstudenten mit oder, besser gesagt, der Mitstudent hat sich selbst eingeladen, wahrscheinlich auf Geheiß seines Vaters.«
»Mario«, kommentierte Richard tadelnd, »du hast einen entschiedenen Hang zum Dramatischen. Sag schon, wer ist es?«
»Der älteste Sohn des Kardinals Rodrigo Borgia: Cesare.«
Papst Innozenz VIII. war immer kränklich gewesen, doch nun verfiel seine Gesundheit zusehends, und die Spekulationen über seinen Nachfolger schlugen immer höhere Wellen. Kardinal Giuliano della Rovere? Kardinal Rodrigo Borgia? Diese beiden waren die Mächtigsten, und beide bemühten sich jetzt schon, Stimmen zu sammeln – und einflußreiche Freunde. Giuliano della Rovere war der engste Vertraute des jetzigen Papstes, doch Rodrigo Borgia war Vizekanzler für drei frühere Päpste gewesen und hatte seine herausragenden Fähigkeiten als Verwalter bewiesen. Er war sehr reich und hatte zumindest eines mit Innozenz VIII. gemein, der ihm ansonsten eher mißtraute: Beide trieben geradezu einen Kult mit ihren Kindern.
Cesare Borgia, der älteste von drei Söhnen und einer Tochter, die Rodrigo anerkannt hatte, war ebenso wie Giovanni de'Medici für den Kardinalshut bestimmt. Beiden war eine sorgfältige Erziehung zuteil geworden, beide hatten schon in jungen Jahren Zugang zu den besten theologischen Universitäten gefunden. Doch während Giovannis Studium und seine Anwartschaft auf das Kardinalsamt von dem Vermögen der Medici finanziert wurde, waren Cesare Borgia durch den Einfluß seines Vaters schon vor seinem zehnten Lebensjahr Pfründen in Aragon und Italien zugeschanzt worden, die mindestens zwei Äbte zufriedengestellt hätten. Als er von der Universität von Perugia nach Pisa wechselte, war er gerade achtzehn Jahre alt und Bischof von Pamplona geworden.
Giovanni de'Medici war fünfzehn und hatte von seinem Vater genaue Anweisungen über den Umgang mit Cesare erhalten: Er sollte höflich, aber nie vertraulich sein. Lorenzo hegte keine persönliche Antipathie gegen Rodrigo Borgia, doch er hielt ihn nicht für das Amt des Papstes geeignet. Daß der zunächst ebenfalls sehr zurückhaltende Cesare Giovanni plötzlich mit Gefälligkeiten und Geschenken überhäufte, bis eine Einladung nach Florenz nahezu unumgänglich war, konnte man als einen eindeutigen Eröffnungszug Borgias werten. Er kam zu einem ungelegenen Zeitpunkt.
»Die Wetten auf das Thema von Savonarolas nächster Predigt stehen beinahe eins zu eins«, sagte Angelo Poliziano, der zynische Dichter, zu Lorenzo. »Wen haßt er mehr, dich oder Rodrigo Borgia? Für wen wird er mehr Schimpfworte finden, wen wird er weiter verdammen? Was meinst du, Magnifico?«
»Savonarola ist ein Mann mit Prioritäten. Er hat sich eine Reihenfolge gesetzt. Und ich habe die zweifelhafte Ehre, noch vor dem Katalanen auf der Liste zu stehen.«
Da andererseits auch nicht ausgeschlossen werden konnte, daß Rodrigo Borgia Giuliano della Rovere bei dem Wettrennen auf den Heiligen Stuhl schlug, war eine sehr behutsame Taktik gefragt. Der junge Borgia sollte in allen Ehren und mit genügend Pomp empfangen werden, um florentinische Gastfreundschaft und Stärke zu demonstrieren, andererseits konnte eine flammende Predigt von Fra Savonarola vielleicht sogar dazu genutzt werden, die Borgia auf den Boden der Tatsachen herunterzuholen. Die Medici hatten es nicht nötig, sich bei den Borgia anzubiedern.
Als Giovanni de'Medici und sein Mitstudent in Florenz eintrafen, stellten die Florentiner fest, daß der Prunk des Empfangs von dem Auftreten des Gastes noch überboten wurde. Der achtzehnjährige Cesare Borgia saß auf seinem Araberhengst wie ein römischer Triumphator. Ihm zur Seite ritten in Gold und Rot gekleidete Gefolgsleute, die das Banner der Borgia trugen: ein roter Stier. Falkeniere, Soldaten und Schatzbeamte folgten, jeder mit einem Ornat ausstaffiert, wie es nur bei den wohlhabendsten Familien in Florenz üblich war. Giovanni, der selbst nicht gerade ärmlich reiste, verschwand neben dieser Pracht fast völlig.
»Geschmacklosigkeit«, kommentierte der älteste der Medici-Söhne, Piero, ärgerlich, während die Familie den Einzug vom Palazzo in der Via Larga aus beobachtete.
»Unsicherheit«, erwiderte sein Vater und musterte den jugendlichen Bischof von Pamplona, der sich sehr gerade hielt, den Blick starr auf die Straße vor ihm gerichtet. »Die Borgia sind nun schon Jahrzehnte im Land, und die Kinder des Kardinals sind alle hier geboren, doch keiner von ihnen wird jemals vergessen, daß man sie immer noch als Fremde ansieht.«
Man hatte Richard zu dem Festessen für Cesare Borgia eingeladen, doch ihm fehlte jede Begeisterung dafür. »Mir hat der Einzug schon genügt«, sagte er mit einer Grimasse zu Mario. »Das einzige, was ihm fehlte, war etwas Priesterliches. Ich beneide die Medici nicht. Wenn ich ihn öfter sehen müßte, würde ich freiwillig Savonarolas Anhänger.«
»Warum bleibst du dann nicht fort und schreibst an deinem Buch weiter?«
»Ich hoffe, du unterstellst mir keine vulgäre Neugier auf den Kardinalssohn bei Tisch«, entgegnete Richard und versuchte vergeblich, wie ein Märtyrer zu wirken, »mich treibt nur die Pflicht. Jakob Fugger rechnet so etwas unbedingt unter ›richtige Informationen‹.«
Zur allgemeinen Überraschung entpuppte sich Cesare Borgia in der entspannten Atmosphäre eines Festessens als aufgeschlossen und äußerst umgänglich. Er schien seine Arroganz zusammen mit dem Reitzeug abgelegt zu haben, war von tadelloser Höflichkeit gegen seine Gastgeber und machte den Töchtern der Familien, die ihm vorgestellt wurden, den Hof. Die Damen, die sich vorgenommen hatten, äußerst kritisch zu sein – Rodrigo Borgias Ruf als Frauenheld war bekannt, doch die Anspruchslosigkeit der Römerinnen nicht minder –, mußten zugeben, daß der uneheliche Sohn dieses berüchtigten Kardinals auf gefährliche Weise gut aussah. Sein Körper war muskulös wie der eines Soldaten, und mit seinem rotbraunen Haar und dem klassischen Profil wirkte er eher venezianisch als spanisch, bis auf den dünnlippigen, klingenscharfen Mund.
Er beherrschte die Klassiker so gut wie jeder der jüngeren Medici, doch was ihn deutlich mehr als die gelehrten Diskussionen reizte, waren die florentinischen Schönheiten, die durch die derzeitige Mode mit engen Miedern und hauchdünnen, oft durchsichtigen Stoffen, die direkt oben am Hals abschlossen, ihre Reize sehr frei entfalten konnten. Richard beobachtete aus einiger Entfernung, wie Cesare Borgia mit Maddalena Strozzi und einem Mitglied der Familie Pitti scherzte und dachte, daß selbst Hänsle, der in Venedig das Leben wahrlich genoß, besser für die kirchliche Laufbahn geeignet wäre. Andererseits – vielleicht kam es wirklich nicht mehr darauf an.
Die Hauptgänge waren schon vorüber, als die Pagen einige Pflanzenkübel in die muschelförmige Nische rückten, die vorher von den Musikanten besetzt gewesen war, um so Platz für die neuen Darbietungen zu schaffen. Ein gellender Pfiff ertönte, und zum Klang der Nacchere stürmten die Zigeuner herein, allen voran Saviya.
Richard hatte gerade eines der angebotenen Gebäckstücke genommen, und er vergaß für längere Zeit, daß er es noch in der Hand hielt, bis ihn ein Nachbar darauf aufmerksam machte. Er hatte Saviya noch nie so gesehen. Sie trug ein Kostüm aus schwarzem, anschmiegsamem Stoff, der mit silbernen Fäden durchwirkt war und sie wie ein Geschöpf der Nacht, in den Sternenhimmel gehüllt, wirken ließ. Noch nie hatte er eine Frau derart gekleidet und gleichzeitig so nackt erlebt. In ihm stieg der Wunsch auf, ihr sofort ein solches Auftreten zu verbieten, und er war ärgerlich über sich selbst. War er etwa ihr Vater?
Saviyas Jonglieren mit den brennenden Fackeln, die ihr, eine nach der anderen, immer schneller und schneller, von ihren Helfern zugeworfen wurden, ließ bald jedes Gespräch verstummen. Sie drehte sich dabei um sich selbst, eine schwarze Nymphe, die von einer flirrenden Feueraureole umgeben wurde, bis man nicht einmal mehr sagen konnte, wie viele Fackeln es waren, die diesen Flammenkreis bildeten. Mit einem gewaltigen Trommelschlag endete Saviya. Sie tauchte die Fackeln in einen Wassereimer, der dafür bereitstand, drehte sich blitzschnell um und verschwand, ohne den stürmischen Beifall abzuwarten.
Die Salti und Kraftakte der drei Männer, die ihrer Darbietung folgten, waren vergleichsweise entspannend, und in manchen Ecken begannen wieder leise Gespräche. Richard schüttelte den Kopf. Was hatte er nur? Es war eine hervorragende Leistung gewesen, weiter nichts. Wie schön für Saviya und ihre Freunde, in den Palazzo gebeten worden zu sein.
Ein zweites Mal begannen die Nacchere, gleichmäßig zu klappern, diesmal aber deutlich langsamer. Die Akrobaten zogen sich Schritt für Schritt in den Hintergrund zurück, und mit jedem ihrer Schritte kam Saviya ein wenig nach vorne. Diesmal bedeckte sie ein Umhang, der von Kopf bis Fuß reichte – bis sie ihn, in der Mitte angelangt, abwarf. Ein allgemeines Aufseufzen war im Saal zu hören.
Wieder war sie in Schwarz, doch nun trug sie ein Kleid, das nur noch aus lose zusammengeknüpften Tüchern bestand. Ihre Haut hob sich glatt und schimmernd gegen das Schwarz ab. Saviya fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar und begann zu tanzen. Sie tanzte für einen unsichtbaren Partner, umarmte ihn, umschlang ihn, entfloh ihm. In der Stille des Saals erklangen nur noch die fremdartigen Instrumente der Zigeuner. Jemand fing rhythmisch zu klatschen an, und als Richard, wie aus einem Traum gerissen, den Kopf wandte, sah er, daß es Cesare Borgia war.
Die übrigen Zuschauer nahmen sein Klatschen auf, doch es war Cesare, der aufsprang, Cesare, der der zusammensinkenden Saviya seine goldene Kette zuwarf, Cesare, gegen den Richard jäh Mordgedanken empfand. Saviya atmete schwer, dann nahm sie sehr langsam die Kette auf und hängte sie sich um. Der junge Borgia winkte sie zu sich. Er sieht sie an, dachte Richard, und ballte die Faust zusammen, er sieht sie an, als würde er sie dabei entkleiden!
Cesare beugte sich zu dem Zigeunermädchen, zog sie an sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Richard erhob sich langsam. Mittlerweile war es auch den übrigen Gästen aufgefallen, daß der künftige Kardinal mehr als begeistert von der Tänzerin war, und peinliches Schweigen machte sich breit. Lorenzo rettete die Situation, indem er laut sagte: »Das war wundervoll«, und Saviya eine kleine Geldbörse in die Hand drückte. Sie knickste und ging mit hoch erhobenem Kopf hinaus, gefolgt von den übrigen Zigeunern. Der Cardiere, ein Spaßmacher, der bei keinem Mahl fehlen durfte, begann, auf seiner Leier satirische Verse über den neuesten Klatsch und Tratsch zu improvisieren, doch Richard achtete nicht mehr darauf. Er folgte Saviya so schnell wie möglich.
In der Vorhalle mit ihren riesigen Säulen holte er sie schließlich ein. »Was, zum Teufel«, sagte er wütend, »hast du dir dabei gedacht?«
Saviya lächelte süß. »Hat dir mein Tanz nicht gefallen, Riccardo? Oder vielleicht mein Jonglieren? Anderen hat es gefallen.«
Richard hielt sie fest. »Das war kein Tanz mehr, sondern …«
»Sondern was?«
Ihre Stimme wurde hart. Einer ihrer Begleiter, den Richard vage als ›Zindelo‹ in Erinnerung hatte, warf ein: »Ach, laß nur, Riccardo, wir hatten doch großen Erfolg.«
Richard achtete nicht auf ihn. »Ist dir eigentlich klar«, sagte er zornbebend, »wer dieser Mann war, dem du dich da an den Hals geworfen hast?«
»Er hat sich mir an den Hals geworfen«, gab Saviya freundlieh zurück. »Und ich brauche nicht zu wissen, wer er ist, weil ich genau sehe, was er ist – ein Mann nämlich, mehr als du es jemals sein wirst. Geh zurück zu deinem Mönch, Riccardo, geh in eines von euren christlichen Klöstern, da gehörst du hin.«
Er bewegte sich nicht. Mit einem Mal völlig kalt, entgegnete er: »Dein Mann ist der Bischof von Pamplona, und er reist bald wieder ab – und du hoffentlich auch. Wenn ich um etwas bete, dann darum, dir nie wieder zu begegnen, Saviya!«