11

INSGEHEIM SCHWOR SICH RICHARD, nach Möglichkeit nie wieder sein Zimmer mit einem Grafen zu teilen. Das wenige, was von der Nacht noch verblieben war, hatte Ulrich von Remar glücklicherweise damit verbracht, seinen Rausch auszuschlafen, doch am nächsten Morgen schrie er nach seinen Dienern, tobte über angebliche Dellen und Kratzer in seiner Rüstung und redete unentwegt von seinen ruhmreichen Taten.

Sein Knappe (Richard hatte keine Ahnung, wo dieser Unglückliche untergebracht war) hatte ihn schon fast völlig in seine Rüstung gekleidet, da fiel es dem Herrn von Remar ein, daß er etwas Zerstreuung gebrauchen könnte. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Wenn ich es recht bedenke … Nimm mir das Zeug wieder ab, los, mach schon!«

Der erschöpfte Knappe senkte sein Haupt und murmelte etwas wenig Respektvolles in seinen Bart, während er sich daranmachte, die Scharniere wieder zu öffnen. Remar wandte sich mit einem gönnerhaften Lächeln an Richard.

»Hört mal, Junge, ich brauche eine kleine Stärkung vor dem Turnier. So einen kleinen Glückszauber, Ihr versteht schon. Könnt Ihr mir nicht ein paar leckere Hexchen besorgen?«

In diesem Augenblick knickte dem knienden Knappen der Fuß ein, und der Mann fiel auf den Boden, was der erboste Ulrich von Remar mit einem Tritt quittierte. Als er sich wieder an seinen Gastgeber wenden wollte, hörte er nur noch die Tür des kleinen Zimmers knallen.

Richard brauchte eine Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte. Um ein Haar wäre er der Versuchung erlegen, Remar hinauszuwerfen – oder, dachte er düster, sich von Remar hinauswerfen zu lassen, denn damit hätte es angesichts der Situation wohl geendet. Das Geschwätz des Grafen war schlimm genug gewesen, aber warum hatte Ulrich von Remar ausgerechnet nach Schwarzer Magie verlangt? War es nur Zufall, oder lag es an ihm, Richard? Unwillkürlich erinnerte er sich an den Inquisitor, hörte den Dominikaner darüber sprechen, daß die Kinder von Hexen gezeichnet blieben, und fröstelte. Gleich darauf wallte Zorn in ihm auf, Zorn auf sich selbst. Seine Mutter war keine Hexe, es gab keine Hexen, und eine lächerliche Bemerkung dieses Laffen so wichtig zu nehmen, war nur ein Zeichen seiner eigenen Dummheit!

Um sich abzulenken, gesellte er sich Hänsle zu, der mit einem verdrossenen Gesicht herumlief und erklärte, seine Mutter sei wegen der Verlobung heute abend vollkommen durcheinander, fände plötzlich Annas Kleid unpassend und habe das Mädchen dadurch völlig hysterisch gemacht.

»Jetzt suchen sie alle wie die Verrückten nach einem besseren Kleid, nachdem Mama doch dieses aus Frankreich hat kommen lassen, als ob wir in Augsburg keinen Stoffhandel hätten!«

Sie beschlossen, sich schon vor die Stadtmauern zu begeben, wo später das Turnier stattfinden sollte. »Wir haben dann Zeit genug, festzustellen, wo man am besten sieht!« meinte Richard.

Ehe sie jedoch das Haus verlassen konnten, stießen sie auf Ursula, Ulrich und Veronikas Zweitälteste Tochter. »Wohin geht ihr? Nehmt mich mit!« rief sie. Ursula war ein Rotschopf mit Sommersprossen und einer Himmelfahrtsnase, Makel, die Veronika Sorgen bereiteten, doch durch Ursulas ständige gute Laune mehr als ausgeglichen wurden. Sie war nur wenige Monate älter als Richard und hakte sich ohne weiteres zwischen ihm und ihrem Bruder ein.

»Ich werde wahnsinnig, wenn ich noch mehr über Kleidung und Verlobungen höre! Ich weiß, ich sollte Anna jetzt zur Seite stehen, aber sie und Mama sind in einem Zustand, daß man glaubt, der Jüngste Tag sei gekommen!«

»Und dein Vater?« fragte Richard. Sie zuckte die Achseln. »Papa ist ins Kontor geflüchtet.« Mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: »In einer solchen Geschwindigkeit geht er sonst nie dorthin.«

Auf dem Turnierplatz wurden schon die Schilde der einzelnen Kämpen angebracht, und Richard erkannte das Wappen Ulrich von Remars wieder – ein Reh auf schwarzweißem Hintergrund. Die drei waren nicht die ersten Neugierigen; der Turnierplatz füllte sich bald, und obwohl sie einen Platz auf der Tribüne hätten beanspruchen können, beschlossen sie, vor der Absperrung stehenzubleiben. Dort war man näher am Geschehen, und nicht nur für Richard sollte es das erste Turnier sein.

»Wie das wohl sein muß«, meinte er, »schon als Kind zu lernen, wie man kämpft – in unserem Alter müssen die Adeligen schon sämtliche Waffenkünste beherrschen.«

Hänsle lachte. »Anstrengend natürlich. Ich bin froh, daß ich es nicht lernen mußte. Mir reicht schon das Latein! Wozu soll ich Waffen gebrauchen … Das ist wieder eine von deinen nutzlosen Tagträumereien, Richard.«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich gerne kämpfen würde. Natürlich ist es das Privileg der Ritter. Aber wenn man auf Reisen ist und von Wegelagerern angefallen wird, könnte es ganz nützlich sein.«

»Aber wer geht denn schon ohne Eskorte …«, begann Hänsle, wurde jedoch von seiner Schwester unterbrochen.

»Ihr seid alle beide Heuchler. Selbstverständlich würdet ihr gerne kämpfen, sonst wärt ihr nicht hier, um euch das Turnier anzusehen.«

Hänsle grinste und gab ihr einen Rippenstoß. »Du hast doch gestern auch wie eine Mondsüchtige den Tanzenden zugeschaut, und ich habe noch nicht bemerkt, daß du tanzen kannst – so, wie du mir auf die Füße getreten bist … au!«

Ursula wandte sich mit der Miene einer vollendeten Dame an Richard.

»Kinder!« sagte sie verächtlich. »Warum hast du gestern nicht getanzt, Richard?«

Er wollte nicht zugeben, daß er es nicht konnte, und gab deshalb die erstbeste Begründung, die ihm in den Sinn kam: »Deine Mutter würde einen Wutanfall bekommen, wenn ich eine von euch auffordern würde.«

Ursulas Mund wölbte sich. »Stimmt«, sagte sie nachdenklich, »sie mag dich nicht.« Plötzlich bekam sie einen spitzbübischen Gesichtsausdruck. »Aber es zwingt dich niemand, sie aufzufordern!«

Unterdessen war der größte Teil der Familie eingetroffen, und Johannes, einer von Georg Fuggers Söhnen, hatte sie erspäht. Anläßlich des Königsbesuches war auch Georg in Augsburg, und Johannes konnte sich nichts Besseres vorstellen als dieses Turnier, um vor seinen Freunden in Nürnberg damit zu prahlen. Er lief zu seinen Vettern.

»Ihr habt einen echten Familienkrach verpaßt!«

Ursula sah Johannes nachsichtig an. »Wenn du den Streit um Annas Kleid meinst, Kleiner – davon habe ich mehr als genug mitbekommen.«

Johannes schüttelte heftig den Kopf. »Ach, es ging doch längst nicht mehr um das Kleid. Annas Mädchen holte Mama dazu, und Mama holte Tante Sybille, und Tante Sybille hatte ein Kleid für Anna. Aber als Tante Veronika das sah, regte sie sich wieder auf und brach in Tränen aus und sagte, ihre Tochter wäre viel zu schade für die ungarischen Barbaren, und Anna weinte ebenfalls, und dann schrie Tante Veronika Tante Sybille an und behauptete, sie täte alles, damit Onkel Jakob Onkel Ulrichs Kinder aus Augsburg vertreibt und sie nichts erben.«

Stolz auf den Effekt, den seine Worte erzielt hatten, sah er sich um. Hänsle und Ursula schauten betreten drein, Richard pfiff durch die Zähne. Es überraschte ihn nicht, daß Veronika so etwas einfiel, aber daß sie ausgerechnet am Verlobungstag ihrer Tochter, während des königlichen Besuches, es darauf anlegte, einen Streit vom Zaun zu brechen …

»Was hat Tante Sybille geantwortet?« fragte Ursula unvermittelt.

Genußvoll berichtete Johannes weiter: »Sie sagte, erstens träfe Onkel Jakob seine geschäftlichen Entscheidungen ohne sie, zweitens hätte Onkel Ulrich in die Verlobung eingewilligt, und drittens würde nach dem Gesellschaftervertrag ohnehin keiner der Kinder von Onkel Ulrich, Onkel Jakob und Papa etwas von dem Unternehmensvermögen erben oder entscheidungsberechtigt sein. Tante Veronikas Vorwurf wäre also vollkommen unsinnig. Daraufhin wurde Tante Veronika erst recht wütend, sagte, daß dieser Vertrag eine infame Intrige von Onkel Jakob gewesen wäre, nachdem er aus Italien zurückgekommen war, und fing an, über Onkel Jakob herzuziehen. Und dann kam Onkel Jakob herein. Tante Veronikas Geschrei muß man durch mehrere Stockwerke gehört haben, vielleicht hat es ihm auch jemand gesagt, inzwischen war ja fast die ganze Familie in Annas Kammer versammelt. Anna stand da und weinte und sagte, man solle sie endlich in Ruhe lassen, Tante Veronika schrie, und Tante Sybille war auch ziemlich aufgeregt.«

Hänsle stieß die angehaltene Luft aus. Er hatte noch nicht erlebt, daß jemand seine Mutter zum Schweigen hätte bringen können, wenn sie erst richtig in Fahrt war. Andererseits hatte er auch noch nie erlebt, daß sie offen mit Jakob gestritten hätte. Er konnte sich nicht vorstellen, daß jemand Jakob lautstark widersprach … besonders in der Öffentlichkeit.

»Was hat er gemacht?« fragte er, nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte.

»Er scheuchte alle Familienmitglieder aus dem Zimmer, bat Tante Sybille, sich um Anna zu kümmern, und nahm Tante Veronika mit sich in ihre Kammer. Ich weiß nicht, was dann passiert ist.«

Richard schaute auf die Tribüne. Dort saßen Georg und seine Frau Regina, der Bürgermeister Anton Welser mit seiner Familie, denen unter all den Fuggern sichtlich unbehaglich zumute war, Ulrich, der versuchte, mit Welser ein Gespräch zu führen, eine eisig-schweigende und wie erstarrt dasitzende Veronika, der junge Thurzo, der wahrscheinlich nichts von all dem mitbekommen hatte, und Veronikas Kinder, außer Anna. Es fehlten nur noch Jakob und Sybille.

Ursula schien seine Gedanken erraten zu haben. Sie tippte ihm auf die Schulter und sagte leise: »Da kommen sie!« Wenn Jakob oder Sybille noch aufgeregt waren, so konnte man es ihnen nicht anmerken. Sybille begrüßte den Bürgermeister und seine Familie freundlich und setzte sich neben Regina Fugger. Sie vermied es, Veronika anzusehen.

Sybille glaubte nicht, daß die Auseinandersetzung über das Kleid dem Impuls eines Augenblicks entsprungen war. Veronika hatte es geplant, um endlich einen großen Streit mit Sybille anzufangen und ihr ein paar Dinge ins Gesicht werfen zu können, und es war ihr offensichtlich gleichgültig, ob ihre Tochter darunter litt!

Anna mochte sich vor dieser Ehe gefürchtet haben oder auch nicht, bis jetzt war es ihr gelungen, zumindest tapfer die Fassade aufrechtzuerhalten, und sie hatte keinen Widerwillen gegen Georg Thurzo oder die Verlobung mit ihm gezeigt, bis ihre eigennützige Mutter heute morgen begonnen hatte, die ganze Familie aufzubringen.

Sybille zwang sich zu einem Lächeln. Es war ihr gelungen, Anna einigermaßen zu beruhigen, und sie hoffte, daß die Stunden, die das Mädchen während des Turniers für sich hatte, ein übriges tun würden. Anna war so aufgelöst gewesen, daß sie beschlossen hatte, das Mädchen zu Hause zu lassen und lieber Gerede über ihre Abwesenheit in Kauf zu nehmen.

Die Fanfaren kündeten den Beginn des Turniers an; Sybille versuchte, ihre Aufmerksamkeit ganz Maximilians Lieblings-Zeitvertreib zu widmen. Bei den ersten Kämpfen beteiligte sich der König noch nicht persönlich. Traditionellerweise kämpften die Partei des Königs und die der Königin – auch wenn sie nicht anwesend war – gegeneinander; beide Parteien stammten natürlich aus Maximilians Gefolgschaft, so daß er in keinem Fall sein Gesicht verlor.

Remar von Remar, der Partei des Königs angehörend, erwies sich zunächst als ziemlich erfolgreich, dann aber als schlechter Verlierer; denn als er im letzten Gang der Vorrunde von Hans Peter Graf zu Moosach vom Pferd geworfen wurde, bekam er an Ort und Stelle einen Wutanfall, bezichtigte den Moosacher des Regelbruchs und mußte schließlich gezwungen werden, das Feld zu verlassen.

Nach den Vorrunden kam der Höhepunkt des Turniers; Maximilian trat in die Schranken. Er war sehr stolz darauf, als bester Recke zu gelten, und forderte jeden ausländischen Gast an seinem Hof zum Waffengang auf, um sein Können erneut zu beweisen.

Sybille vermutete allerdings, daß kein Höfling, und wurde er auch noch so eindringlich aufgefordert, keine Rücksicht walten zu lassen, es wagen würde, seinen Herrscher zu besiegen – nicht, daß Maximilian das nie zugestoßen war; er wurde gelegentlich sehr wohl besiegt, doch nicht oft genug, um seinen Ruf als erster Turnierkämpfer des Reiches in Frage zu stellen. Es gab keinen Zweifel darüber, daß Maximilian unerbittlich seine Turnierkünste übte, während seine Untertanen nur mehr wenig Interesse an dieser Art des Kräftemessens hatten.

»Die Zeit für Turniere ist vorbei«, hatte Jakob gesagt.

Sybille fand die Weise, in welcher der König an der Vergangenheit hing, bewegend. Sie mußte sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, daß sie einen Mann beobachtete, der nicht zögerte, zur Befriedigung seines Ehrgeizes Krieg zu führen, und von dem ihr Gemahl gesagt hatte: »Ich traue ihm nicht, und er traut mir nicht.«

Doch während Maximilian hochmütig gegenüber anderen Herrschern und Adeligen auftrat, war er zu seinen bürgerlichen Untertanen durchwegs freundlich und nicht im geringsten gönnerhaft. Er hatte zahlreiche Geliebte, und Sybille hatte nie gehört, daß er eine Frau schlecht behandelt hätte, wenn er ihrer überdrüssig war, wie es so viele hohe Herren taten. Jedes seiner Bastardkinder erkannte er an.

Doch es fehlte ihm, dachte Sybille, während sie beobachtete, wie er unter dem Beifall der Menge seine Gegner besiegte, jene Eigenschaft, die Jakob besaß: die Fähigkeit, seiner Umgebung Ehrfurcht einzuflößen und sie durch bloße Willensstärke zu beherrschen.

Sie erinnerte sich an ein Gespräch mit Richard vor ein paar Tagen.

»Es gibt Menschen … und es gibt besondere Menschen«, hatte Richard gemeint, »Menschen, die man nicht vergessen kann. Wißt Ihr, Tante, das muß nicht mit Schönheit oder Klugheit zusammenhängen … Es kann auch jemand sein, der wahnsinnig ist. Aber wenn ich lese, daß jemand etwas Bestimmtes gesagt oder getan hat, dann ist es plötzlich, als würde ich ihn kennen, und dieser Mensch ist dann besonders für mich.«

Sybille verstand nun, worauf er hinausgewollt hatte. Maximilian war ein Mensch mit Fehlern und Vorzügen, den man … vergessen konnte. Sie lächelte über sich selbst. Was für eine Majestätsbeleidigung – und wie ungerecht König Max gegenüber, der sie so ausgezeichnet hatte. Sie verdoppelte ihren Applaus. Wo befand sich eigentlich Richard? Will hatte ihr berichtet, daß er sofort seine Kammer angeboten hatte, um einen tobsüchtigen Grafen zu besänftigen. Nach einigem Suchen stellte sie fest, daß er sich mit Ursula, Hänsle und Johannes unter den Zuschauern direkt hinter der Abschirmung befand.

Wie gut war es doch, daß Veronikas Kinder keinen Groll gegen ihren Neffen hegten. Sie wußte, was es bedeutete, von einer großen Familie als Außenseiter angesehen zu werden. Sybille hatte sich unaufhörlich bemüht, von den Fuggern akzeptiert zu werden, wenngleich nicht durch Demut und Schüchternheit. Schließlich war sie eine Artzt, keine Bettlerin, die Jakob auf der Straße aufgelesen hatte. Und obwohl sie, bis auf Veronika, schließlich die meisten Familienmitglieder für sich gewonnen hatte, war ihr Richards Ankunft als ein Geschenk des Himmels erschienen. Sie war nicht länger allein, jemand aus ihrer eigenen Familie würde bei ihr sein und Teil dieser neuen Familie werden.

Sie hatte wenig von Richards Vergangenheit preisgegeben. Er sollte nicht den Ruf des armen Waisen bekommen, der auf Wohltätigkeit angewiesen war. Daher hatte sie heimlich begonnen, ihre Eltern zu bearbeiten, damit diese ihren einzigen Enkel in ihr Testament einsetzten. Am Anfang erwähnte sie Richard überhaupt nicht, dann ließ sie allmählich Bemerkungen über seinen Lerneifer, sein Gedächtnis, seinen Fleiß und dergleichen in das Gespräch einfließen, wenn sie ihre Eltern besuchte. Es würde sich alles regeln, mit etwas Glück … Sie lehnte sich zurück und ärgerte Veronika mit einem strahlenden Lächeln. Das Leben war wundervoll.

Richard war anderer Ansicht, als er erhitzt, staubig und begeistert von dem Turnier zurückkehrte und mit geheimnisvollen Gesten von Barbara beiseite gezogen wurde. Sie führte ihn in den Gesindetrakt des Gebäudes.

»Was ist geschehen?«

»Ich muß mit Euch sprechen«, sagte sie. »Es geht um die Käthe.« Richard erinnerte sich. Käthe war eines der neueren Mädchen, ein hübsches flachshaariges Ding etwa in seinem Alter, vielleicht ein wenig jünger.

»Der Herr, der mit in Eurer Kammer wohnt, der Graf …«

Richard spürte einen schalen Geschmack im Mund. Das war es also gewesen, was Remar unter einem ›Hexchen‹ verstanden hatte! Er schalt sich einen Narren. Ekel stieg in ihm auf. Remar hätte bei seinem Aussehen und seiner Stellung leicht eine der zahlreichen Frauen, die es hier gab, in sein Bett bekommen können, aber nein, es mußte dieses halbe Kind sein.

»Ich verstehe«, sagte er düster.

Barbara ergriff wieder seinen Arm. »Er hat es nicht ernst genommen, daß sie sich gewehrt hat, die Herren nehmen das nie ernst. Und jetzt hat sie Angst, daß er sie wieder zu sich bestellt …« Sie brach ab, löste sich von ihm und rieb sich unsicher die Hände. »Ich dachte, weil … ich dachte, Ihr könntet …«

»Schon gut«, sagte Richard beruhigend und überlegte. Zwei Jahre in enger Nachbarschaft mit Jakob Fugger hatten ihm einen anderen Blick auf die Welt eröffnet. Wenn er jetzt zu Remar ging und ihn der Notzucht beschuldigte, würde der Graf nur lachen, ebenso, wenn er, Richard, die Angelegenheit mit Käthe als Bitte vortrug. Wenn er ihm auch nur eine Ohrfeige gab, was er im Augenblick liebend gern getan hätte, oder ihm seine Meinung über die Vergewaltigung kleiner Mädchen sagte, hätte er einen adeligen Gast beleidigt. Aber er konnte auch nicht darauf vertrauen, daß Remar Käthe schon satt hatte, und selbst wenn es so war – es gab noch andere kindliche Mädchen beim Gesinde.

Barbara starrte ihn mit ihren großen, braunen Augen an. Er schluckte. »Keine Sorge«, sagte er schnell. »Mir ist eben etwas eingefallen.«

Es dauerte etwas, bis er die Schreiber Norbert und Heinz fand, die sich, wie nicht anders zu erwarten, an einem Krug Wein gütlich taten.

»Wen haben wir denn da?« fragte Heinz und grinste. »Den großen Mann mit dem kleinen Magen?«

Richard fühlte, wie seine Haut brannte. Er wünschte sich Jakobs unerschütterliche Maske und versuchte, möglichst gelassen zu sagen: »Hat einer von euch Burschen Lust, einem Grafen die weiblichen Sehenswürdigkeiten Augsburgs zu zeigen?«

»Hä?«

»Wie?«

»Der Mann ist ungeheuer reich und großzügig, und er brennt darauf, unsere hiesigen Bordelle kennenzulernen. Er braucht nur jemanden, der ihn durch die Stadt führt und dafür sorgt, daß er gebührend empfangen wird.«

»Hört sich nicht schlecht an«, murmelte Norbert und griff nach dem Krug, der bereits fast leer war. »Aber warum tust du es nicht selber? Wo ist der Haken?«

Weil ich nicht weiß, wie man ein Bordell besucht, dachte Richard. Aber er wäre eher gestorben, als das ausgerechnet diesen beiden zu erzählen. Sicher, ihm war durch Getuschel und anzügliche Bemerkungen klar, wo die verrufenen Häuser sich in etwa befanden, aber erstens kannte er sich nicht aus, und an seinem Plan mußte alles klappen, und zweitens würde er sich bestimmt nicht noch einmal lächerlich machen, und gewiß nicht vor diesem Remar!

»Meine Tante hat mich überhäuft mit Pflichten. Ich komme wahrscheinlich erst morgen zur Messe einen Schritt aus dem Haus! Also, was ist mit euch? Der Mann wird euch mit Gold überschütten, und außerdem könnte es sein, daß er euch bei Hof empfiehlt, wenn ihr Augsburg einmal verlassen wollt. Aber macht etwas schneller mit der Entscheidung, ich habe es eilig!«

»In Ordnung«, entgegnete Norbert und rülpste. »Wir machen es. Wo steckt der Knabe, und wie heißt er?«

»Ulrich von Remar, und im Augenblick erholt er sich wahrscheinlich in meiner Kammer von dem Turnier. Ich werde ihm sagen, daß ihr seine Führer sein werdet. Ach, übrigens – sorgt dafür, daß die Frauen nicht zu alt sind.«

Remar zu überreden, er müsse unbedingt einen Streifzug durch Augsburg unternehmen, war leichter, als er erwartet hatte. Der gekränkte Graf befand sich tatsächlich noch in seiner Kammer und pflegte die Wunde, die die Niederlage bei dem Turnier seiner Eitelkeit zugefügt hatte.

Doch auch ein Ulrich von Remar wurde es einmal müde, Hans Peter Graf zu Moosach mit sämtlichen Schimpfnamen zu belegen, die ihm einfielen, und er stimmte schließlich zu. Richard war so vorsichtig, nicht direkt das Ziel des vorgeschlagenen Ausflugs zu nennen – wer konnte wissen, ob Remar nicht auch dies als Kränkung empfinden würde –, doch er machte allerlei Andeutungen, und der Graf verabschiedete sich, von Norbert und Heinz in Empfang genommen, mit einem Augenzwinkern und der gönnerhaften Bemerkung: »Ihr verkommt hier bei diesen Pfeffersäcken, Junge. Wenn Ihr besserer Abstammung wäret, würde ich sagen, Ihr seid ein wahrer Freund.«

Es war nun fast schon Zeit für das große abendliche Fest, auf dem Annas Verlobung verkündet werden sollte, und sowie Richard sicher war, daß Remar das Haus verlassen und wahrscheinlich nicht die Absicht hatte, bald wiederzukommen, sank er erleichtert auf einen Stuhl. Es stand zu hoffen, daß Remar Geschmack an dem Ausflug finden und sich nicht wieder an Dienstmädchen vergreifen würde. Nicht sehr moralisch und auch kaum ritterlich, was ich getan habe, dachte Richard zynisch. Aber mit Bemerkungen wie ›Schurke, du wagst es‹, konnte man in diesem Fall nichts erreichen, besonders nicht als bürgerlicher Vierzehnjähriger – auch wenn König Max vielleicht anderer Meinung war. Zum Teufel mit Ulrich von Remar!

Erst an diesem zweiten Abend fiel Sybille auf, daß Richard nicht am Tanz teilnahm. Mit einem Anflug von Beschämung erkannte sie, daß niemand daran gedacht hatte, ihm das Tanzen beizubringen, ganz einfach, weil die Söhne und Töchter des reichen Bürgertums dies schon als Kinder lernten.

Richard schien sich jedoch nicht zu langweilen, er sprach gerade mit Georg Thurzo. Sybille war erleichtert. Bald sollte als Höhepunkt des Abends Annas Verlobung verkündet werden, doch bis dahin wußte niemand so recht, was man mit dem jungen Ungarn anfangen sollte. Er sprach nicht viel, und das wenige mit schwer verständlichem Akzent. Richard war es offenbar gelungen, ihn etwas auftauen zu lassen.

Sybille wäre wesentlich weniger erleichtert gewesen, hätte sie gewußt, daß Richards Fragen über Ungarn Georg Thurzo nur die Zunge gelöst hatten, um eine lang aufgestaute Erbitterung loszuwerden. »Ich habe es so satt«, sagte er gerade wütend, »daß mich jeder so behandelt, als sei es eine … ein Wunder, daß ich überhaupt eure Sprache sprechen kann, und als sei ich obendrein noch taub. Meint Ihr, ich hätte nichts von dem Gezeter heute morgen gemerkt? Eure Schwester will mich nicht heiraten …«

»Meine Base«, korrigierte Richard, »und sie will Euch sehr wohl heiraten. In dem Streit heute morgen ging es nur um ein albernes Kleid. Ihre Mutter …«

»Ihre Mutter! Ha! Da hast du es«, sagte der junge Thurzo düster, »diese Frau als Schwiegermutter ist ein Grund, sich zu betrinken, Bruder. Eins kann ich dir sagen, ihr glaubt vielleicht alle, die Verlobung sei eine Ehre für mich, aber ich bin ein Thurzo! Ein Thurzo heiratet sonst nur eine Ungarin! Und dann noch der verdammte Maximilian, der erst unsere Truppen in Wien gemeuchelt und dann unseren König zu einem Schandvertrag gezwungen hat …«

Richard verbiß sich die Bemerkung, daß das ungarische Heer sich in Wien auch nicht gerade vorbildlich verhalten hatte.

»Er will Ungarn zum Teil seines Reiches machen, der Habsburger«, fuhr Thurzo erbittert fort, »es fängt schon an. Keinem hier kommt in den Sinn, daß mein Name nicht Georg ist. Ihr laßt uns noch nicht einmal unsere eigenen Namen!«

»Wie heißt Ihr also?« fragte Richard sachlich. Der Ungar seufzte, trank und strich sich über den Schnurrbart.

»György. Thurzo György, so würden wir in Ungarn sagen. Und der Name meines Vaters«, sagte er herausfordernd, »ist Thurzo Janos, nicht Johann Thurzo! Aber er hat sich schon längst angewöhnt, im Umgang mit euch deutsch zu reden und deutsche Namen zu gebrauchen.«

»Sagt mir noch mehr ungarische Namen, sie klingen so … anders, Thurzo György«, sagte Richard zu Thurzos Überraschung und mühte sich redlich ab, den Namen korrekt auszusprechen. Doch der nasale Zischlaut am Ende des ›György‹ war zuviel für ihn. Er versuchte es noch einige Male, und der junge Ungar brach in Gelächter aus.

»Ah, die Deutschen«, rief er und wiederholte ganz langsam: »György.«

Richard schoß der Gedanke durch den Kopf, wie seltsam es doch war, daß Thurzo von ›den Deutschen‹ sprach. Es gab Schwaben, Franken, Tiroler, Bajuwaren, Sachsen und was dergleichen mehr, aber ›Deutsche‹ als Volk? Niemand dachte so oder gebrauchte das Wort auf diese Art. Doch davon sagte er nichts, sondern bat Thurzo, ihm noch ein paar ungarische Ausdrücke beizubringen. Unter Gelächter verflog die Zeit, und mehr als einmal warf ein Mitglied der Familie Fugger einen verwunderten Blick in ihre Richtung. Wer hätte gedacht, daß der Fremde so lebhaft werden könnte?

»Ah«, sagte György schließlich und schlug Richard auf die Schulter, »Bruder, du verstehst es, einem die Seele zu halten. Du mußt nach Ungarn kommen und mich besuchen. Wir werden zusammen Stierblut trinken und …«

»Wie bitte?« fragte Richard verblüfft. »Stierblut?«

»Der beste Wein in ganz Ungarn, mein Freund.«

»Und was bedeutet ›die Seele halten‹?« forschte Richard. Der Ausdruck faszinierte ihn.

»Ah, das kann man nicht übersetzen, nicht in diese Sprache voller Umständlichkeit. Die Seele halten … Wenn jemand dabei ist, zu toben über Unabänderliches und töricht redet und trinkt, so wie ich, und dann kommt jemand, so wie du, und hält ihm die Seele … nun, dann tut er es eben.«

»Jemanden aufmuntern?« schlug Richard vor.

György schüttelte den Kopf. »Nein, nein, mehr … Ah, da kommt meine Braut.«

Annas Gesicht ließ keine Tränenspuren mehr erkennen, als sie den Raum betrat, und wenn sie unglücklich war, so konnte man es ihr nicht anmerken. Sie trug schließlich doch das blaue Gewand, mit zahlreichen Silberfäden bestickt und modisch geschlitzten Ärmeln, aus denen goldener Brokat hervorlugte, und den etwas altmodischen Kopfputz, der für diesen Abend vorgesehen gewesen war, denn letztendlich hatte ihre Mutter entschieden, daß nichts schlimmer war, als Sybille verpflichtet zu sein.

Richard begriff nicht, was Veronika an diesem Kleid auszusetzen gehabt hatte. Anna war keine Schönheit und hatte das ein wenig derbe, resolute Gesicht ihrer Großmutter, der geschäftstüchtigen Barbara Basinger, die nach dem Tod ihres Gemahls das Unternehmen geführt hatte, bis Ulrich alt genug dazu war. Doch das Blau des Kleides fand sich in ihren Augen wieder und schmeichelte ihrem blonden Haar, und der Schnitt betonte ihre schlanke Taille. Das sanfte Licht der Fackeln und Kerzen warf vorteilhafte Schatten auf sie, verwischte die kräftigeren Linien und ließ sie hübsch und noch jünger erscheinen, als sie ohnehin war. Richard stieß Thurzo an.

»Also dann, György« – sie hatten sich inzwischen endgültig auf das freundschaftliche Du geeinigt – »geh und halte ihr die Seele!«

Auch György Thurzo gab eine stattliche Erscheinung ab, wie er da, ganz in Weinrot gekleidet, neben Anna stand und mit ihr ein feierliches Heiratsversprechen austauschte. Aber Richard blickte auf den König, als sähe er ihn zum ersten Mal, noch immer gefangen in dem seltsamen Gefühl, einen Spiegel von der anderen Seite zu betrachten. Er erinnerte sich an das Weihnachtsfest im letzten Jahr, als er zum ersten Mal seine Schlußfolgerungen laut ausgesprochen hatte. »Die ungarischen Erzvorkommen!«

Über Maximilians Ehrgeiz und Jakobs Geschäftspläne zu spekulieren, war ein aufregendes, ein wenig gefährliches Denkspiel gewesen. Aber er hatte nie versucht, sich in die Ungarn hineinzuversetzen. Die Ungarn, die nun vor der Aussicht standen, entweder von den Türken erobert oder nach dem Tod Wladislaws von Maximilian annektiert zu werden …

Und Györgys Vater, Johann oder Janos Thurzo (er konnte sich nicht an die verdrehte Stellung von Tauf- und Familiennamen gewöhnen), war bestimmt ein vorausblickender Mann, der sich auf die neuen Verhältnisse einrichtete, sonst hätte er sich nicht mit Jakob Fugger verbündet. Wenn schon György Thurzo, erzogen im Geist seines Vaters, so über die Ereignisse dachte – wie mußten dann die Gefühle der anderen Ungarn sein?

Er spürte eine leichte Berührung an der Schulter und drehte sich um. Sybille stand hinter ihm und fragte ihn lächelnd: »Möchtest du nicht lernen, wie man tanzt, Richard? Du solltest heute abend nämlich wirklich einmal Anna auffordern, selbst der kleine Johannes hat das vor.«

»Es ist nicht sehr freundlich«, erwiderte Richard mit einer Grimasse, »einen so zu überrumpeln, Tante. Ihr zwingt mich, meine Unkenntnis zuzugeben, und gebt mir keine Möglichkeit, zu protestieren.«

Sybille lachte. »Warum solltest du auch? Es ist ganz einfach, Richard, und du hast schon den ganzen Abend lang zugesehen.«

Sie hoffte, es nicht falsch angefangen zu haben und vertraute darauf, daß seine Abneigung gegen jede körperliche Berührung nachgelassen hatte. Richard folgte ihr ohne weiteren Widerspruch, ließ sich die notwendigen Schritte der komplizierteren Figuren erklären, und sie atmete innerlich erleichtert auf. Seine Angst war überwunden, dachte sie.

Sybille hatte recht und unrecht zugleich. Richard machte es in der Tat nichts mehr aus, sie zu berühren oder Ursula oder auch Anna, die mit ihrem Verlobten den Reigen anführte. Für jede von ihnen empfand er ein gewisses, wenn auch unterschiedliches Maß von Zuneigung, etwa wie für eine Schwester.

Doch als ihn Barbara heute zur Seite gezogen hatte, hätte er ihren Arm am liebsten abgeschüttelt, denn sie so nah zu spüren, verwirrte ihn, und er hatte längst beschlossen, sich nie mehr in eine Situation zu begeben, wie sie ihn mit Barbara verband. Barbara zu berühren, und sei es auch nur mit den Fingerspitzen, war ihm so unangenehm wie nur irgend etwas.

Aber daran dachte er nicht, als er, anfangs unsicher, mit seiner Tante tanzte. Im Gegenteil, es war schön, zu tanzen; die Musik und die rhythmischen Schritte der Tänzer schienen sich zu einer tragenden, schwebenden Harmonie zusammenzufügen, der man sich unmöglich entziehen konnte. Es war so ähnlich, wie Hans Basinger zu beobachten, wenn er das Gold in einen Kreislauf trieb, nur daß er, Richard, nun selbst Teil des Kreislaufs war.

»Du bist so ruhig, Richard«, neckte ihn Sybille. »Keine Fragen, ob der König vielleicht etwas über Mailand oder die anderen italienischen Staaten erzählt hat oder ob es sonst Neuigkeiten gibt – du wirst doch nicht krank geworden sein?«

»Tanzen ist so wunderbar«, platzte er heraus, und Sybille erwiderte belustigt: »Du hast Glück, daß ich nicht dieses Mädchen bin, das neben Regina steht und dir schon die ganze Zeit nachsieht, sonst wäre ich sehr beleidigt, und daß du nicht gesagt hast: Tanzen mit Euch ist so wunderbar.«

Sie hatte Erfolg; er grinste und entgegnete: »Nein, Tante, diesmal falle ich nicht darauf herein – da steht gar kein Mädchen. Ihr wolltet Euch nur ein Kompliment ergattern; Ihr habt Euch die Methoden Eures Gemahls angeeignet.«

Sybille hob die Brauen. »Ist das so schlimm? Wenn ich den gleichen Erfolg habe … Nun, Richard, was soll ich machen, nicht jeder kann mit dem Schwert in den Kampf ziehen wie Maximilian.«

Richard lachte. Es war ein herrlicher Abend, und es war so überraschend angenehm, sich mit einer Frau zu unterhalten und mit ihr zu scherzen. »Ihr seid aber sehr viel erfolgreicher als er … Es ist wundervoll, mit Euch zu tanzen. Was gibt es Neues?«

Sybille brach in Lachen aus.