22

DAS GEWÖLBE, IN DEM SIE sich befanden, mußte klaftertief unter Florenz liegen. Richard fuhr mit den Fingern über die Wand. Er vermutete, daß es sich um eine der unterirdischen Kellergrotten handelte, in denen Wein oder auch Nahrungsmittel kühl gelagert wurden. Paradoxerweise erinnerte ihn die Umgebung und die Menschen, die sich hier zusammendrängten, an das, was er über die ersten Christen in ihren römischen Katakomben gehört hatte, und er gab einen Laut von sich, der einem unterdrückten Gelächter ähnelte.

Die heiße, trockene Hand des Mädchens packte die seine. »Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe!« sagte sie mit gesenkter Stimme. »Ich gehe jetzt zu meinen Freunden, und denk daran, keinen Ton über mich, wenn sie dich erwischen, bevor du einer von uns wirst.« Richard nickte unmerklich.

Sie hatte ihm an der Porta alla Croce in aller Hast ein paar Anweisungen gegeben, die Losung genannt und ihn hineingeschleust. Er wußte nicht genau, was er erwartet hatte, wahrscheinlich einen Hexensabbat direkt aus dem ›Malleus Maleficarum‹, der in den deutschen Landen so populär geworden war.

Statt dessen versammelten sich hier nach und nach Männer und Frauen, die in keiner Weise aufreizend gekleidet waren und nicht anders als am hellichten Tage herumliefen. Reiche, prunkvoll bestickte Kleider schimmerten hier und da aus den Umhängen hervor, andere trugen geflickte und ärmliche Sachen. Jeder strahlte eine gewisse Unruhe aus, und in Wellen verbreitete sich aufgeregtes Raunen, als warteten sie alle auf etwas und wagten nicht, laut miteinander zu reden.

Richard fiel auf, daß in seiner Nähe zwei Gestalten standen, die im Gegensatz zu den meisten anderen Masken trugen. Ihre Gesichter waren vollständig verborgen. Sie sprachen nicht, starrten aber ebenfalls erwartungsvoll auf die Mitte des Raumes, wo ein Steinquader wahrscheinlich eine Art Altar darstellen sollte.

Das spärliche Fackellicht erlosch plötzlich. In der völligen Dunkelheit sah man ein weißes, wie körperloses Gesicht auftauchen, das von zwei neuen brennenden Fackeln gerahmt wurde und sich langsam dem ›Altar‹ näherte. Richard zuckte die Achseln. Sehr eindrucksvoll, aber kaum magisch. Neben jeder der jetzt erloschenen Fackeln war jemand postiert gewesen und was das Gesicht ohne Körper anging, derartiges hatten die Schüler des Klosters in Wandlingen ebenfalls fertiggebracht. Schwarze Kleidung und sehr viel Kalk, mehr brauchte man nicht.

Die übrigen Anwesenden jedoch hatten hörbar den Atem angehalten, als sich die Dunkelheit über den Raum gesenkt hatte und begannen jetzt leise zu singen. Richard, den Anweisungen Laurettas folgend, schloß sich ihnen an. Da es sich immer um dieselben beiden Zeilen handelte, fiel ihm das nicht weiter schwer.

»Asmodeus, erhöre uns. Belial, erscheine uns. Asmodeus, erhöre uns. Belial, erscheine uns. Asmodeus …«

Das Gesicht verschwand mit einem Mal und statt seiner zeigte das wenige Licht, welches die beiden Fackeln warfen, eine langsam aufsteigende Rauchwolke über dem Altar. Eine Stimme hallte in dem Gewölbe wider.

»Trinkt mein Blut! Eßt mein Fleisch!«

Die Gemeinde änderte ihren Gesang und wiederholte die letzten Worte. »Trinkt! Eßt! Trinkt mein Blut!« Richard spürte eine Bewegung an seinem Ellenbogen. Sein Nachbar drückte ihm etwas in die Hände, was er nur mühsam umfassen konnte und das zweifellos ein riesiger Pokal war – den Geräuschen nach zu schließen, nicht der einzige, der hier die Runde machte.

Richard nippte vorsichtig an der Flüssigkeit. Eine seltsame Mischung, salzig und bitter zugleich. Er schmeckte Alkohol, irgendwelche Kräuter oder Gewürze und zu seinem Abscheu tatsächlich auch Blut. Er mußte sich beherrschen, um sich nicht zu verraten, und reichte den Pokal der nächsten Gestalt weiter, die sich aus der Dunkelheit herausschälte. Aufatmend lehnte er sich gegen die Wand und sah erneut auf die Rauchwolke über dem Steinaltar. Sie schien dichter zu werden, immer dichter und dichter.

Richard kniff die Augen zusammen. Änderte sich wirklich die Farbe des Rauches oder lag es an dem Licht der beiden Fackeln, das unmerklich stärker und lodernder geworden war? Der Gesang wurde schneller und alle begannen, rhythmisch in die Hände zu schlagen. Diesmal wäre es für ihn gar nicht nötig gewesen, sich an irgendwelche Anweisungen zu erinnern. Irgend etwas, der Rhythmus, der Gesang, riß ihn fort, und er hörte seinen eigenen keuchenden Atem, als das weiße Gesicht zum zweiten Mal aus dem Nichts auftauchte und mit sich überschlagender Stimme schrie: »Seht ihn! Schaut das Wunder! Belial weilt unter uns!«

Die Rauchwolke explodierte mit einem Knall und für einen Moment sah Richard eine riesige rote Gestalt über dem Altar schweben. Die Gemeinde fiel erschauernd auf die Knie, und in der plötzlichen Stille vernahm er ein deutliches, scharfes Flüstern in seiner Nähe: »Warum muß ich das alles über mich ergehen lassen? Können wir es nicht auch so be…«

Der Unbekannte hatte offensichtlich bemerkt, daß er zu laut war oder war zum Schweigen gebracht worden, doch Richard holte diese kurze Unterbrechung wieder in die kühle, gesicherte Welt der Vernunft zurück.

In dem Getränk, das vorhin wie zur heiligen Kommunion herumgereicht worden war, befand sich offensichtlich eine Droge, die empfänglich für Sinnestäuschungen machen sollte und geschickte Beleuchtung tat ein übriges. Über dem Altar schwebte nunmehr nur noch das geschlechtslose, weiße Gesicht und Richard bezweifelte, daß die rote Gestalt je außerhalb seiner erhitzten Einbildungskraft dort gewesen war. Und, noch wichtiger, inmitten gläubiger Anhänger dieser Jahrmarktsgaukeleien, für die man nicht mehr Hexenkraft brauchte als zum Jonglieren, gab es offensichtlich noch jemanden, der das alles durchschaute.

Aber wer? Warum war er – denn es hatte sich um eine männliche Stimme gehandelt – hier? Und was wollte er?

»Neigt euch, meine Kinder!« psalmodierte das Etwas, das offensichtlich als Hohepriester diente. »Belial hat uns geehrt, Belial war unter uns.«

»Ruhm sei Belial!«

»Tretet vor und nennt mir nun eure Wünsche. Verbunden sind wir durch das Blut Belials, und wer einen der unseren verrät, den wird Belials Rache ereilen.«

Richard bemühte sich vergeblich, nicht von der Woge vordrängender Menschen erfaßt zu werden. Er konnte nicht alle Wünsche verstehen, aber nach einer Weile klangen sie alle gleich.

»Mein Nachbar soll seine Klage vor der Gilde zurückziehen …«

»Meine Tochter soll den reichen Rucellai zum Gemahl bekommen.«

»Ich will, daß die Geliebte meines Gemahls sämtliche Zähne verliert und kahlköpfig wird.«

Nach jeder Bitte intonierte der Hohepriester: »Gib Belial, und Belial wird dir geben.«

Dem Klang nach zu urteilen, folgerte Richard zynisch, verlangte Belial für seine Wohltaten einen hohen Preis – in schweren Münzen. Er überlegte, ob er den ganzen Unsinn jetzt unterbrechen und die Betrügereien offenlegen sollte. Aber dann bestand die Möglichkeit, daß die Verantwortlichen in der Dunkelheit entkamen und so nur neue Belial-Legenden ins Leben riefen. Oder die berauschte Gemeinde könnte sich entschließen, den plötzlich auftretenden Ketzer niederzumachen. Erneut stemmte er sich gegen die Menge, die ihn mittlerweile fast bis zum Altar mitgezogen hatte. Vielleicht sollte er das nächste Mal mit ein paar Fackeln bewaffnet und …

»Ich begehre von Belial den Tod für meinen Feind.«

Zwei volle Börsen landeten auf dem Altar. Richard gab dem Andrang der hinter ihm Stehenden nach und versuchte, sich dem Stein noch etwas zu nähern. Es war die Stimme von vorhin!

»Wer ist dein Feind, und warum begehrst du seinen Tod?«

»Vendetta. Ich muß ihn tot sehen!« Ein kurzes Zögern. »Seinen Namen kann ich nicht nennen, nicht hier.«

»Es gibt keine Geheimnisse vor Belial«, forderte der weißgesichtige Hohepriester streng, »enthülle also den Namen deines Feindes und dein eigenes Gesicht. Kein Begehren wird jenen erfüllt, die sich nicht als Kinder Belials zu erkennen geben.«

Richard war inzwischen mit einiger Mühe so weit gekommen, daß er die Gestalt des Bittstellers erkennen konnte, nicht jedoch sein Gesicht, denn der Unbekannte hatte ihm den Rücken zugewandt. Es mußte sich um einen der beiden Maskierten handeln. Der Mann stand ganz still, dann fuhr seine Hand hoch und kam blitzschnell mit der Maske wieder herunter.

»Sieh also, wer ich bin! Jetzt«, die Stimme wurde beinahe höhnisch, »kennt Belial auch meinen Feind, nicht wahr?«

»Belial kennt ihn.« Ein dumpfes Fallen, als würde noch eine dritte Börse hinzugeworfen. Die Maske war wieder an ihrem Platz. Niemand außer dem Hohepriester und möglicherweise dem nächsten Bittsteller konnte das Gesicht gesehen haben.

»Belial erweist dir Gnade. Er wird dein Begehren erfüllen.«

Neue Bittsteller drängten sich vor, und Richard versuchte verzweifelt, den Maskierten im Auge zu behalten. Doch als dieser aus dem spärlichen Lichtkreis der Fackeln trat, verschluckte ihn das Gewirr aus Schwärze und Masse, das die Grotte füllte. Nur zwei Satzfetzen verstand Richard noch, bei denen er nicht einmal sicher sein konnte, von wem sie stammten.

»… verdammt leichtsinnig von Euch … für immer aus der Stadt ver…«

»… Euer Einfall, Riario …«

Als Richard schon glaubte, den Mann und seinen Begleiter endgültig verloren zu haben, ertönte ein gedämpfter Aufschrei. »Halt, warte! Du bist es doch, ich habe mich nicht geirrt, Vittorio de'Pa –«

Richard schnellte herum, in die Richtung des Rufes, doch es war zu spät. Etwas Schweres, Weiches fiel gegen ihn, und er brauchte keinen großen Scharfsinn, um zu erkennen, was es war.

Eine noch warme, schwere Leiche.

Der Gottesdienst bei Morgengrauen gehörte bestimmt zu den unangenehmsten Dingen, die Fra Mario kannte. Vor seinem Eintritt in das Kloster hatte Mario Volterra, der ein ausgesprochener Nachtmensch war, oft den größten Teil des Vormittags im Bett verbracht. Er dachte manchmal nicht ohne Bedauern an die feinen weißen Laken, die weichen Kissen und all den übrigen Luxus, der zum Leben im Palazzo seiner Eltern gehört hatte. Die Volterra zählten zu den ersten Familien in Florenz, und Mario hatte in seiner Kindheit und Jugend nichts entbehren müssen.

In Santo Spirito herrschte um diese Tageszeit noch Ruhe, denn die Mönche bewegten sich fast lautlos im Kloster, und von den Florentinern kam keiner auf die Idee, zu solcher Stunde an der Messe teilzunehmen. Mario hätte beinahe offen protestiert, als einer der Novizen zu ihm eilte, die wohltätige Stille unterbrach und laut sagte: »Fra Mario, Ihr habt Besuch.«

Strafende Blicke trafen den Novizen von allen Seiten. Um diese Zeit sollte geschwiegen werden, und der Orden hatte für derartige Nachrichten genügend Handzeichen entwickelt. Der Novize senkte schuldbewußt das Haupt, fügte jedoch, wenn auch wesentlich leiser, hinzu: »Er wartet in Eurer Zelle.«

Mario nickte. Er beeilte sich nicht sonderlich. Besucher im Morgengrauen waren eine Zumutung, dachte er lustlos auf dem Weg zu seiner Zelle. Dann tadelte er sich innerlich; hing er nach all diesen Jahren noch so sehr an Bequemlichkeit? Wenn das zutraf, war diese morgendliche Unterbrechung eine angemessene Buße.

Er öffnete die Tür und blieb überrascht stehen. »Ich weiß, ich war sehr unhöflich zu Euch, und Ihr könnt mich gleich hinauswerfen«, sagte Richard hastig, »aber mir fiel sonst niemand ein, der mir glauben würde, was ich entdeckt habe, und in der Lage wäre, mir weiterzuhelfen.«

Der Augustiner schloß sorgfältig die Tür hinter sich, kam jedoch nicht näher, sondern blieb, gegen das rauhe Holz gelehnt, stehen. »Ich höre.«

Richard hatte die ganze Nacht lang schlaflos überlegt, was zu tun und zu sagen war. Seine Lider brannten, er spürte allmählich die Erschöpfung, und der Geschmack von ›Belials Blut‹ schien sich in seinem Mund festgesetzt zu haben.

»Ich … ich denke, ich habe ein Komplott entdeckt, dessen Ziel es ist, Lorenzo de'Medici zu ermorden.«

Wenn Fra Mario entsetzt, ungläubig oder empört war, so ließ er dies nicht erkennen. Er löste sich lediglich von der Tür und meinte: »Bevor Ihr mir erzählt, warum, wo und wann, nehmt doch bitte Platz auf dem Schemel dort. Ihr scheint mir nämlich dem Umfallen nahe zu sein. Was mich betrifft, ich bin aufrichtig gesprochen um diese Stunde auch nicht für Mordkomplotte gewappnet.«

Er ließ sich auf seiner Pritsche nieder. Richard tat, wie ihm geheißen.

»Also«, sagte Mario, »die ganze Geschichte, von Anfang an, bitte.«

Richard berichtete von seinem Besuch der schwarzen Messe und von den Geschehnissen, die er dort beobachtet hatte. Er achtete sehr darauf, mit keinem Wort zu erwähnen, aus welchem Grund er selbst sich dort befunden und wer ihn dort hingebracht hatte, schilderte aber die Zeremonien von Anfang an als offensichtliche Betrügerei. Abergläubisch und dadurch gefährlich mochten diese Menschen sein, doch er würde ihnen gewiß nicht die Inquisition auf den Hals hetzen. Als er zu den beiden Maskierten kam, insbesondere zu demjenigen, der vorgetreten war und den Mord verlangt hatte, veränderte sich Marios bis dahin ausdrucksloses Gesicht.

»Riario? Seid Ihr sicher, daß dieser Name fiel?«

»Ganz sicher. Und dann dieses abgerissene ›Pa –‹. Vielleicht hätte ich das gar nicht in Verbindung gebracht, doch Ihr hattet mir ja nur ein paar Tage zuvor von der Verschwörung der Pazzi erzählt. Und war der Familienname des damaligen Papstes, der Lorenzo dann exkommunizierte, nicht Riario?«

Mario erhob sich und begann, unruhig auf und ab zu gehen. »Das stimmt. Einer seiner Neffen, Girolamo Riario, der schon damals die Verschwörung von Rom aus leitete, ist heute das Oberhaupt der Familie. Und nur die Riario oder die Pazzi verfolgen die Medici nach den Gesetzen der Vendetta.«

Richard runzelte die Stirn. »Es fällt mir jetzt erst ein – sagtet Ihr nicht, die Pazzi wären nach Giuliano de'Medicis Ermordung von den Florentinern umgebracht worden?«

»Drei haben überlebt. Guglielmo de'Pazzi, weil er mit Lorenzos Schwester verheiratet ist, doch er wurde für immer aus Florenz verbannt, ebenso sein Vetter Vittorio, der damals als einziger entkommen konnte. Giovanni de'Pazzi sitzt heute noch im Kerker der Signoria. Es muß Vittorio sein. Ich bin ganz sicher, selbst wenn Ihr seinen Vornamen nicht gehört hättet. Guglielmo wäre dazu nie in der Lage.«

»Es dürfte außerdem nicht viele Männer geben, die bei einer Blutfehde nur ein einziges Ziel haben und die so bekannt sind, daß man sie und ihren Feind nur durch einen bloßen Blick herausfinden kann.«

Mario hielt in seinen Schritten inne. »So ist es. Aber warum haben Vittorio de'Pazzi und ein Mitglied der Familie Riario es nötig, unter Lebensgefahr nach Florenz zu kommen, wo Gift oder Dolch in Rom doch soviel leichter zu haben sind?«

Richard blickte auf seine Hände. »Bei einem Mißerfolg«, entgegnete er, »wären diese Belial-Anbeter die Schuldigen, und die Entdeckung eines Teufelskults würde einen solchen Aufruhr verursachen, daß noch monatelang von nichts anderem als von Zauberern und Hexen gesprochen wird – und keinesfalls von den Pazzi.«

Mario fragte unvermittelt: »Warum seid Ihr damit nicht zu Eurem Capo Maestro, diesem Riesen im Fondaco, gegangen? Oder zu einem unserer zahlreichen Beamten.«

»Ich habe es Euch doch gesagt«, antwortete Richard müde, »Meister Eberding hätte mir nicht geglaubt. Eure Beamten vielleicht, aber … nun, sie hätten eine Hexenjagd in Florenz eröffnet.«

Mario fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Und Ihr glaubt, daß ich das nicht tue, daß es sich jetzt noch vermeiden läßt?«

Richard war es, als müsse er eine schmale Brücke überqueren, bei der zu beiden Seiten der Abgrund lauerte und jeder Schritt Gefahr bedeutete.

»Ihr verkehrt bei den Medici, seid befreundet mit Pico della Mirandola, Ihr habt Möglichkeiten, Lorenzo so zu warnen, daß die Sache mit der schwarzen Messe dabei nicht an die Öffentlichkeit dringt.«

Damit war Marios Frage nicht ganz beantwortet. »Riccardo, Ihr seid sturer als ein Toskaner«, stellte er resigniert fest. »Doch zu Eurer Beruhigung: Il Magnifico hat so wenig mit Hexenjagden im Sinn wie Ihr, und ich könnte mir auch einen angenehmeren Zeitvertreib vorstellen. Als ich Euch die Beichte vorschlug, habe ich auch an das Beichtgeheimnis gedacht, nicht nur an eine Gewissenserleichterung Eurerseits.«

Richard erstarrte. »Ich bin nicht bei der schwarzen Messe gewesen, um den Teufel anzubeten und zu hexen, falls Ihr das meint. Die ganze Sache hat mir nur bestätigt, daß nichts davon mit Magie oder Hexerei zu tun hatte. Es ist nichts als ein verdammt gefährliches Spiel mit der Leichtgläubigkeit der Menschen.«

»Es mag Euch überraschen, aber in diesem Punkt bin ich ganz Eurer Meinung. Riccardo, ich werde Euch helfen, doch ich bemerke zu meinem Erschrecken gerade, daß ich für einen Diener Gottes recht eigennützig bin. Ich will eine Gegenleistung von Euch dafür, daß die Stadt nun nicht nach Zauberern durchkämmt werden wird, obwohl das die Untersuchung wesentlich vereinfachen würde.«

Jemand pochte sachte an die Zellentür. »Fra Mario?«

Richard erhob sich langsam. Beide musterten sich eine Weile. Wieder klopfte es. »Also schön«, sagte Richard schließlich und erinnerte sich an etwas. »Quid pro quo.«

Lorenzo de'Medici war ein vielbeschäftigter Mann. Er hatte im Alter von sechzehn Jahren begonnen, seinen Vater Piero bei den Regierungsgeschäften zu vertreten, mit zwanzig war er ohne auch nur ein einziges offizielles Amt oder einen Titel Herrscher der Stadt Florenz geworden.

Der heutige Tag unterschied sich nicht sehr von den übrigen: Lorenzo empfing die Vertreter der Signoria, beriet mit ihnen über innere und äußere Probleme der Stadt. Gesandte von Ferrante von Neapel hatten sich angesagt, eine umfangreiche Korrespondenz mit Herrschern bis hin zu Mohammed II. von Konstantinopel mußte erledigt werden, von den Belangen der Bank ganz zu schweigen. Die Bank der Medici zu leiten, war nicht gerade Lorenzos Lieblingsaufgabe, doch sie bildete nicht nur eine der Lebensgrundlagen seiner Familie, sondern vor allem auch die der platonischen Akademie und der zahlreichen Künstler, die er förderte.

Dennoch fand er die Zeit, um das neueste Gemälde seines Freundes Sandro Botticelli zu bewundern und den ›Garten‹ zu besuchen, die Schule der Bildhauer, in die vor kurzem der junge Michelangelo Buonarroti aufgenommen worden war. Die Wiedererweckung des Geistes der Antike stellte eines von Lorenzos großen Zielen dar, und nach dem Besuch bei Bertoldo und seinen Bildhauerlehrlingen schrieb er ein wenig an seinem neuen Stück über Kaiser Julian, der seinerzeit versucht hatte, die heidnische Religion wieder einzuführen.

Dringende Botschaften aus Rom, wo der Papst darauf bestand, daß die Restsumme für die Kardinalswürde von Lorenzos zweitem Sohn Giovanni sofort gezahlt werden sollte, unterbrachen ihn jedoch bald. Giovanni war kaum vierzehn Jahre alt, so daß die Angelegenheit noch strikte Geheimhaltung erforderte.

Erst am späten Abend, nach dem Gastmahl, das wie immer jedem offenstand, zog sich Lorenzo in die private Atmosphäre seines Studiolos zurück. Marsilio Ficino, mit dem er eine Partie Schach spielte, bemerkte, daß sein ehemaliger Schüler unkonzentriert war und machte taktvoll den Vorschlag, das Spiel für heute zu beenden. Lorenzo schüttelte den Kopf und setzte seinen Springer. Ficino entschloß sich, von der Freiheit ihrer jahrzehntelangen Freundschaft Gebrauch zu machen.

»Aber du bist müde, Magnifico.«

Lorenzo lachte. »Nenne mich nicht so – der Titel war noch nie so lächerlich wie jetzt. Ich bin nicht müde. Die Gicht setzt mir wieder zu.«

Auf Marsilio Ficinos Stirn entstanden steile Falten. Der älteste der Platoniker hatte nacheinander Cosimo und Piero de'Medici an der Gicht sterben stehen. Piero, vom Volk Il Gottoso, der Gichtige, genannt, hatte seinen Vater nur um fünf Jahre überlebt und war schon vor der Machtübernahme von seiner Krankheit zum Krüppel gemacht worden. Und die Zeiten, in denen Lorenzo noch regelmäßig mit seinen Freunden auf die Falkenjagd ging, lagen mittlerweile weit zurück, obwohl Lorenzo erst vierzig Jahre alt war.

»Du solltest wieder nach Poggio a Caiano gehen und deinem Arzt endlich die Möglichkeit geben, dich zu behandeln.«

»Ich brauche keinen Arzt – ich bin selbst einer von den Ärzten«, entgegnete Lorenzo mit einem Wortspiel auf seinen Familiennamen. »Und im übrigen warte ich auf deinen Zug, Marsilio

Der Ältere schüttelte den Kopf. »Alle Medici sind so eigensinnig wie Ochsen. Geh trotzdem zu Bett, Lorenzo, wenigstens heute abend. Ich bin selbst müde.«

»Du bist in Gefahr, zu verlieren, das ist alles. Pico hat mir gesagt, er wolle heute abend etwas mit mir besprechen, du siehst, wir müssen auf ihn warten.«

»Ausreden«, brummte der Philosoph, griff jedoch ergeben nach einem der Bauern. Er war tatsächlich müde, aber die Aussicht auf eine Diskussion mit Pico della Mirandola belebte ihn zusehends. Pico war im vergangenen Monat in der Lombardei gewesen, um dort einen neuen Prediger zu hören, und war gerade erst nach Florenz zurückgekehrt. Marsilio hoffte nur, daß er aus der Lombardei nicht wieder einen Schub religiöser Schwermut mitgebracht hatte.

Als ein Diener Pico hereinführte, stand die Partie unentschieden. Lorenzo erhob sich und bemerkte sofort, daß Pico einen seiner Freunde bei sich hatte, den jungen Mario Volterra. Pico wartete, bis der Diener verschwunden war, dann sagte er mit drängender Stimme: »Magnifico, es ist etwas geschehen, was du wissen solltest. Laß dir von Mario berichten.«

Während Marios Erzählung verfinsterte sich Lorenzos Miene mehr und mehr. Er spürte, wie Zorn in ihm aufstieg, jenes heftige, schwer zu bändigende Gefühl, das danach verlangte, zu töten oder töten zu lassen. »Vittorio de'Pazzi!« Zischte er, als Mario geendet hatte, und spie den Namen aus, als handle es sich um eine Obszönität. »Seit zehn Jahren gab es in Florenz keine Familienfehden mehr. Das war ihm offensichtlich zu lange.«

»Warum ist er wohl selbst gekommen, statt einen anderen zu schicken, wo er doch genau weiß, was ihm droht?« fragte der alte Marsilio, der die Nachricht noch nicht ganz verarbeitet hatte, verwundert. Lorenzo hob den Kopf.

»Er möchte es selbst erleben, wenn ich sterbe, er möchte dabei sein.«

In diesem Punkt verstand er Vittorio de'Pazzi besser, als ihm selbst lieb war. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, um über derartige Gefühle nachzudenken. Abrupt sagte Lorenzo: »Von der Geschichte darf auf keinen Fall etwas bekannt werden. Wenn sich herumspricht, daß ein Pazzi wieder in Florenz ist, werden auch noch andere laut von neuem Vendetta schwören. Auch Francesco Nori wurde damals im Duomo umgebracht, als er mich verteidigte, und die Nori haben mir nie verziehen, daß ich Giovanni und Guglielmo am Leben ließ. Und sie sind nicht die einzigen. Wir müssen Vittorio heimlich dingfest machen und ebenso die Männer, die er beauftragt hat.«

»Ich bin nicht sicher, ob es nur Männer sind«, warf Mario ein. Er hatte bei seinem Bericht nichts von Belials Gemeinde erwähnt, sondern vorgegeben, ein Freund von ihm habe zufällig nachts Vittorio de'Pazzi und seinen Gefährten an einer Straßenecke von Santa Croce belauscht.

»Er könnte auch eine Magd bestochen haben. Etwas Gift in Euren Becher genügt schon, Magnifico.«

»Ich kann unmöglich bei jedem Bissen, den ich zu mir nehme, einen Vorkoster einsetzen«, sagte Lorenzo energisch. »Wir müssen dem Mörder eine Falle stellen, anders geht es nicht. Doch abgesehen von der unmittelbaren Gefahr – der Zeitpunkt gibt mir zu denken.«

Er trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Das sanfte Licht der Kerzen ließ seine scharfen Züge weicher erscheinen. »Pazzi verläßt sich darauf, daß die Riario, wahrscheinlich Girolamo selbst, mit ihrem Geld hinter ihm stehen. Girolamo Riario hat seine eigenen Gründe, mich tot zu wünschen, doch er tut nichts, was dem Papst mißfällt, dazu ist seine Stellung in Rom seit dem Tod des letzten Papstes viel zu unsicher.«

Marsilio Ficino sagte langsam: »Ihr meint, daß der Heilige Vater …«

»Ich glaube nicht, daß er es abgesegnet hat, wie sein Vorgänger. Aber er könnte stillschweigend seine Billigung gegeben haben. Florenz und die Medici sind jedem Papst ein Dorn im Auge.«

Keiner der Anwesenden machte sich darüber Gedanken, dergleichen vor einem Mönch auszusprechen. Fra Mario war, wie die meisten Mönche in Florenz, in erster Linie Florentiner. Bei Lorenzos Exkommunikationen hatte sich die ganze Stadt hinter ihn gestellt, einschließlich der Orden.

»Ich glaube, wir könnten in Florenz irgend jemanden gebrauchen, der sich gelegentlich als Druckmittel einsetzen läßt, damit sich solche … Billigungen nicht mehr wiederholen«, schloß Lorenzo. Er hatte seinen Sohn Giovanni nicht zuletzt deshalb für ein hohes Kirchenamt bestimmt, doch es würde noch Jahre dauern, bis Giovanni alt genug war, um als Kardinal handeln zu können.

Pico della Mirandola, in der Lombardei deutlich schmaler geworden, beugte sich vor. Lebhaft warf er ein: »Ich habe da jemanden kennengelernt … einen ganz außergewöhnlichen Mann. Der beste Prediger, den ich je gehört habe, und er geißelt die Mißstände der Kirche erbarmungslos. Wenn du ihn unterstützt, Lorenzo, wenn er bekannt wird und überall Gehör findet, dann könnte sich die Welt ändern. Und du hättest keine Schwierigkeiten mehr mit dem Papst.«

»Ist der Mann auch gebildet?« forschte Ficino besorgt. »Eiferer gibt es überall.«

Pico war fast entrüstet. »Er kennt Aristoteles so gut wie Thomas von Aquin. Er ist ein Heiliger, das beschwöre ich.«

Lorenzo lächelte schwach. »Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Wie heißt dieses Wunder?«

»Fra Girolamo Savonarola.«

Mario konnte einen verblüfften Ausruf nicht unterdrücken. »Girolamo Savonarola von den Dominikanern? Aber er stammt aus Florenz, ich habe vor etwa zehn Jahren einmal eine seiner Fastenpredigten gehört, in San Lorenzo. Die halbe Gemeinde ist dabei eingeschlafen.«

Pico errötete. »Das war vor seiner Erleuchtung. Auch Moses war kein Redner, bevor Gott ihn berührte.«

»Ich werde es mir überlegen«, schnitt Lorenzo de'Medici ihren Disput ab. »Kehren wir noch einmal auf das viel weniger erhebende, aber leider unumgängliche Thema meiner geplanten Ermordung zurück. Hat einer von euch vielleicht irgendwelche Vorschläge?«

Die Goldschmiede hatten wie alle Florentiner Zünfte ihre eigene Straße. Ihr Sitz lag passenderweise in der Nähe der Geldwechsler, wenn auch nicht direkt am Mercato Nuovo, sondern in einer nahegelegenen Straße, der Canto di Vacchereccia.

Richard stand in einem der vielen Läden und prüfte die Geschmeide, die man ihm vorlegte. Daß Anton Eberding ihm den Juwelenhandel übertragen hatte, war eine rein geschäftliche Entscheidung gewesen, doch sie bereitete Richard Freude. Fast zärtlich strich er über die feingearbeiteten goldenen Blätter, die Perlen und Smaragde von makelloser Reinheit. Er konnte es sich leisten, sein Entzücken über die Schönheit dieser Dinge unverhüllt zu zeigen. Der Capo Maestro war voll und ganz damit beschäftigt, einen der Lehrlinge niederzumachen, da Richard mit Hilfe der mitgebrachten Waage entdeckt hatte, daß der Goldgehalt einiger Stücke nicht dem in Florenz streng vorgeschriebenen Maß entsprach.

»Du Hund! Wenn ich deinetwegen vor dem Gildengericht lande, kostet mich dieses Vergehen bei der Zunft zwanzig Soldi, und von was soll ich dann leben? Das ist fast mein gesamtes Einkommen als Capo Maestro!«

Er ballte die Faust und hielt sie dem unglücklichen Schüler unter die Nase. »Von was soll ich leben, eh? Von zwei Pfund Pfeffer und zwei Unzen Safran? Oder vielleicht von den sechs Weinflaschen und zwei neuen Hosen, die es außerdem noch gibt? Genügt das für einen Roberto Bottazi?«

»Nein, Maestro«, murmelte sein Lehrling gehorsam.

»Ah, und die Schande – ich kann meine Wiederwahl im Winter vergessen! O dio

Er hätte zweifellos noch weiter ausgeholt, doch Richard unterbrach ihn. »Falls Ihr vielleicht ein wenig Zeit erübrigen könnt«, sagte er beiläufig, »diese Stücke hier würde ich gerne für das Fondaco kaufen. Die Sache mit dem Goldgehalt bei dem Ohrgehänge bleibt natürlich unter uns … Wie könnte ich einen Freund wie Euch bei seiner Zunft anzeigen, einen Freund, der mir gewiß für all das einen Vorzugspreis einräumen wird?«

Der Capo Maestro stürzte sich in weitere Trauerelogen, doch am Ende ging Richard aus dem stundenlangen Feilschen mit einem nicht unbeträchtlichen Gewinn. Er verließ die Canto di Vacchereccia so würdevoll wie möglich, doch als er die Glocken des Campanile schlagen hörte, begann er zu laufen. Er war mit Fra Mario am Mercato Nuovo verabredet.

Der Mönch wartete an einem der zahlreichen Geldwechslerstände auf ihn. Seine sonst unerschütterliche Ausgeglichenheit hatte ihn wohl doch teilweise verlassen, denn nach der Begrüßung sagte er sofort: »Gehen wir, Riccardo, aber langsam, als würden wir uns die Angebote ringsum ansehen.«

In gesenktem Tonfall fragte Richard: »Und? Wie ist es gelaufen?«

»Ein paar vertrauenswürdige Männer sind auf der Suche nach Vittorio de'Pazzi, und Lorenzo zieht sich nach Poggio a Caiano zurück. In der Villa oder auf dem Weg dorthin wäre ein, sagen wir, tödlicher Unfall viel leichter zu bewerkstelligen als in Florenz, und er hofft, daß Pazzis Leute die Gelegenheit ergreifen.«

Nach kurzem Schweigen fügte Mario hinzu: »Und Eure Belial-Anhänger sind sicher. Was habt Ihr eigentlich mit ihnen vor, wenn das alles vorbei ist?«

Richard wich geschickt einer Fuhre aus und erwiderte: »Ich werde noch einmal hingehen, diesmal besser vorbereitet, und den Leuten beweisen, daß hier jemand mit ihrem Glauben und ihrem Geld Schindluder treibt. Und den, hm, Anführern damit drohen, sie Eurer Signoria auszuliefern, wenn sie dergleichen noch einmal tun sollten. Ich weiß, eigentlich gehörten sie ins Gefängnis, immerhin haben sie sich zu einem Mord bereit erklärt, und ich möchte wetten, es war nicht das erste Mal. Doch wie ich schon das letzte Mal …«

Verblüfft stellte er fest, daß der Augustiner in sich hineinlachte und den Kopf schüttelte. »Was ist daran so lustig?«

»Verzeiht, Riccardo, aber Ihr seid rührend naiv für jemanden, der sich mit derart finsteren Angelegenheiten befaßt. Selbst wenn Ihr die nächste schwarze Messe unterbrechen und den Leuten ausführlich alle Einzelheiten erläutern würdet – seid Ihr ernsthaft der Meinung, sie würden Euch anhören? Menschen wie diese glauben das, was sie glauben wollen, und sie wollen etwas Starkes, Magisches, das sie anbeten können. Ihr brauchtet schon ein unglaubliches Glück, um überhaupt wieder lebendig ans Tageslicht zu kommen.«

Mario hielt inne. »Vielleicht ist es gut, wenn Fra Savonarola hierherkommt und Pico recht mit ihm behält«, murmelte er. »Die Menschen haben das Vertrauen in die Kirche verloren und wenden sich nächtlichen Spukgestalten zu. Er könnte sie wieder zurückführen.«

Er räusperte sich. »Aber zurück zu Euch, Riccardo. Was den zweiten Teil Eures Plans anbelangt, so stimme ich zu, die Anführer müssen unschädlich gemacht werden. Nur, wenn Ihr ihnen droht, werden sie Euch auslachen. Welche Beweise habt Ihr schon? Außerdem seid Ihr ein Fremder und damit nicht aussageberechtigt hier in Florenz.«

Richard kam sich vor wie damals, als ihm Bruder Albert eine schlechte Argumentation nachgewiesen hatte. Es war dasselbe peinliche Gefühl, und er haßte es. Doch die Logik zwang ihn zu der Erkenntnis, daß der andere im Recht war. Unmutig gab er zurück: »Und was schlagt Ihr statt dessen vor … Padre?«

Mario blieb stehen und hob in einer sehr florentinischen Geste die Hände. »Das liegt doch auf der Hand. Ihr und ich werden diesem weißgesichtigen Messer vor den Gewölben auflauern und ihn vor die Wahl stellen: Entweder die Inquisition oder … Wohlgemerkt, ich werde sprechen. Ihr macht bei der Sache nicht den Mund auf. Vielleicht erfahren wir so sogar den Namen des Mörders. Übrigens, das erinnert mich an etwas. Il Magnifico möchte Euch seinen Dank aussprechen, bevor er Florenz verläßt. Damit das niemandem auffällt, insbesondere unserem Freund Vittorio und seinen Spionen nicht, wird er Euren ganzen Fondaco in die Via Larga einladen.«

Sie berieten noch eine ganze Weile über den nächsten Sonntag, die einzige Möglichkeit, den unbekannten Belialpriester zu finden, und Richard entschloß sich, Mario von dem Mädchen aus der Schenke zu erzählen, um auszuschließen, daß Lauretta dabei zu Schaden kam. Erst als er wieder inmitten von Waren und Rechnungen saß und fast einen Streit mit Wolfgang Schmitz gehabt hätte, fiel ihm auf, daß Fra Mario ihn während ihres Gespräches niemals an die Gegenleistung erinnert hatte, die er dem Mönch versprochen hatte.

Anton Eberding nahm die Einladung in den Palazzo Medici mit einiger Verwirrung und Freude entgegen. Das Fondaco lief soweit gut an, nur mit der Calimala gab es noch immer Schwierigkeiten, und er hätte gern mit Lorenzo de'Medici darüber gesprochen. Doch seit mehreren Wochen hatten dessen Angestellte immer erklärt, Il Magnifico sei zu beschäftigt. In Eberding waren schon schwere Befürchtungen wach geworden, und er sah mit unangenehmer Deutlichkeit einen scharfen Tadel von Jakob Fugger voraus. Kein Wunder, daß er die Kuriere aus Augsburg nicht sehr gutgelaunt empfing. Andererseits, was sollte er denn tun? Die Florentiner waren noch glattzüngiger als die Venezianer, wenn es darum ging, sich um Verpflichtungen herumzureden.

Er scharte seine Gehilfen um sich wie ein Feldherr seine Mannen und wies sie an, ihre Festtagskleidung anzulegen; Prunk und äußeres Erscheinen waren sehr wichtig in Florenz. »Und alle«, ein strenger Blick auf Richard Artzt, der inzwischen wohl begriffen hatte, daß er nicht mehr war als die anderen auch, »bleiben in meiner Nähe!«

Die Schwaben hatten sich zwar schon etwas eingelebt, doch die Zwanglosigkeit der italienischen Gastmahle wirkte immer noch ein wenig befremdend auf sie, besonders, da es keine feste Tischordnung gab. Eberding war nicht zimperlich, wenn es um Geschäfte ging, aber er hielt es dennoch nicht für passend, sofort damit herauszuplatzen. Er ließ sich mit seinen Gehilfen am linken Tischende nieder. Lorenzo unterhielt sich gerade mit einem etwas mürrisch aussehenden Jungen, der sich in seiner Umgebung nicht sehr wohl zu fühlen schien, doch er bemerkte Eberding sofort und begrüßte ihn namentlich.

Wider Willen fühlte der Leiter des Fondaco sich geschmeichelt. Er war Lorenzo de'Medici erst einmal begegnet, doch offensichtlich hatte er Eindruck gemacht.

»Es freut mich, daß Ihr Eure jungen Leute mitgebracht habt«, erklärte Lorenzo. »Das hier ist Michelangelo Buonarroti, Bertoldos bester Schüler im Garten der Bildhauer.«

Der Junge errötete und murmelte etwas in sich hinein. Eberding gab einen ebenso unverständlichen Kommentar. Er hatte keine Verwendung für Bildhauer. Aber er fühlte sich nun verpflichtet, seine Gehilfen ebenfalls vorzustellen. »… Wolfgang Schmitz, und das ist Richard Artzt.«

»Ah ja«, sagte Lorenzo, »Pico della Mirandola hat mir von Euch erzählt, Riccardo. Meinen Glückwunsch – es gelingt nicht vielen, Pico zu beeindrucken.«

»Ich war der Beeindruckte«, entgegnete Richard und spürte die neugierigen Blicke der anderen Deutschen wie Brennesselstiche. Den Florentinern fiel nichts weiter auf. Lorenzo versuchte bei seinen Gastmählern immer, auf so viele der Anwesenden wie möglich einzugehen.

Richard war erleichtert, daß Lorenzo nun auch mit den anderen Gehilfen ein paar Worte wechselte, und entspannte sich. Eine Weile lauschte er der Musik im Hintergrund und verzehrte mit Genuß die delikat zubereiteten Fische. Er hielt Ausschau nach Mario, konnte die schwarze Kutte des Augustiners jedoch nirgendwo entdecken. Als ihm ein Page von dem Spanferkel anbot, das man eben auf Spießen hereingebracht hatte, lehnte er dankend ab.

Etwas später spürte er, daß die Speisen ihn durstig gemacht hatten, und er schaute sich nach dem Pagen um. Er entdeckte ihn schließlich, einen Weinkrug in der Hand, wie erstarrt hinter Lorenzo stehend. Richard wollte ihn anrufen, doch etwas in der völligen Reglosigkeit des Pagen hielt ihn zurück. Es war ein blonder, etwas dicklicher Jüngling, in das Rot und Weiß der Medici gekleidet, der ihm irgendwie bekannt vorkam.

Endlich hob der Page eine Hand, murmelte etwas, zu leise, um es Richard verstehen zu lassen, und strich über den Weinkrug. Er trat vor und füllte mit einer präzisen, geschmeidigen Geste Lorenzos Becher.

Von dem, was nun geschah, wurden in Florenz bis zum nächsten Morgen mindestens ein Dutzend verschiedene Versionen herumerzählt. Die einen schworen, der junge, dunkelhaarige Tedesco aus dem Fondaco sei mit einem einzigen Satz quer über den Tisch gesprungen und habe Lorenzo den Becher aus der Hand geschlagen, die anderen sagten, nein, er habe sich auf den Pagen gestürzt und diesen niedergerungen. Einmal galt Richard als Held, der Il Magnifico das Leben gerettet habe, dann wieder hieß es, er sei ein Mitverschwörer, den nur in letzter Sekunde die Reue gepackt habe. Warum sonst hätten die Wachen, die wie aus dem Nichts auftauchten und den Pagen abführten, auch ihn wegbringen sollen?

Florenz brodelte bereits vor Gerüchten, als Richard noch in Lorenzo de'Medicis Studiolo saß und sich wartend die Zeit damit vertrieb, die Einrichtung des Raums zu bewundern. Es war eindeutig, daß dieser Raum allein der Entspannung diente, obwohl an der rückwärtigen Wand ein kleiner Schreibtisch stand. Richards Augen wanderten von den Kameen und Flachreliefs über die in sanften Farben gehaltenen Tafelbilder bis zu den antiken Bronzen. In dem Kamin, auf dessen Sims ein nackter Herkules stand, erhellte ein kleines Feuer den Raum. Richard wußte nicht, wohin er zuerst schauen sollte; endlich blieb sein Blick an der Faunsmaske hängen, die an der Wand hing. Der Marmor sah zu hell, zu … frisch aus, als daß es sich um ein Werk der Antike handeln konnte.

»Eine Arbeit von Michelangelo Buonarroti. Erstaunlich, nicht wahr?« Il Magnifico trug eine nachtblaue festliche Robe, doch inzwischen wirkte sie verknittert. Lorenzo durchquerte den Raum und ließ sich auf einem der bequemen Sessel nieder.

»Warum«, fragte er ernst, »hat mir Mario nicht erzählt, daß die von Pazzi bestochenen Helfer Teufelsanbeter sind?«

Lorenzo kam offensichtlich gerade von der Vernehmung des Pagen, schlußfolgerte Richard. Er bemühte sich, ruhig und sachlich zu wirken und nicht an die möglichen Konsequenzen zu denken, die sich aus Lorenzos Fragen ergaben.

»Das ist meine Schuld. Ich hatte ihn darum gebeten, da ich«, Richard stockte kurz, »befürchtete, sonst würde in Florenz hinter jeder Haustür die Suche nach Hexen beginnen.«

Lorenzo seufzte. »In der Tat. Ich habe als Kind einmal eine solche Hexenjagd erlebt, glaubt nicht, ich könnte Euch nicht verstehen. Aber ich kann auch keine Gruppe von möglichen Mördern mitten in Florenz dulden. Meine Leute haben Anweisung, bei den Verhaftungen äußerst vorsichtig vorzugehen und auf keinen Fall Vittorio de'Pazzi oder die schwarze Messe zu erwähnen. Nur, eine undichte Stelle gibt es immer. Hoffen wir, daß der Jagdeifer sich in Grenzen hält.«

Richard blieb stumm. Er starrte auf die Faunsmaske, ohne sie wirklich zu sehen. Endlich sagte er: »Dann hat der Page also alles gestanden?«

»Alles, bis hin zu den Namen der einzelnen Mitglieder. Übrigens spricht das dafür, daß dieser Belial-Kult noch nicht lange besteht, sonst wäre der Anführer erfahren genug gewesen, um für einen Mord jemanden zu nehmen, der ihn nicht kennt.«

Richard überlegte noch, wie er seine Bitte am besten formulieren könnte, als Lorenzo, der ihn aufmerksam beobachtete, bemerkte: »Selbstverständlich werden die meisten dieser Toren mit ein paar Tagen Haft und einer Kirchenstrafe davonkommen, wie etwa die Teilnahme an regelmäßigen Buß- und Fastenübungen. Ich möchte behaupten, daß so etwas für jeden sehr ernüchternd wirken dürfte.«

Noch wagte Richard nicht, seiner Erleichterung Raum zu geben. Er räusperte sich und meinte: »Da ist jemand, eine von denen, die es nicht verdient, auch nur verhaftet zu werden.«

Zuerst zögernd, dann immer flüssiger erzählte er Lorenzo von der kleinen verzweifelten Magd in der Schenke und schloß mit der Bitte, sie nicht zu behelligen und ihr, wenn möglich, irgendwoanders Arbeit zu verschaffen.

»Nun, das läßt sich gewiß machen«, sagte der Medici. »Ich werde diesbezügliche Anweisungen erteilen. Aber Ihr, Riccardo, was ist mit Euch? Ihr habt mir das Leben gerettet, eigentlich sogar zweimal, durch Eure Warnung und Euer Handeln.«

Richard versuchte, sich wie ein Held zu fühlen, doch es gelang ihm nicht. Die einzige Empfindung, zu der er in der Lage war, schien dumpfe Erleichterung zu sein und die leise, immer noch pochende Sorge, daß er Lorenzos Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz dennoch der Auslöser für eine Wiederholung der Ereignisse von Wandlingen gewesen war. In seinem Bemühen, die Existenz von Hexen zu widerlegen, war er keinen Schritt weitergekommen. Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren.

»Ich tat nur, was jeder andere an meiner Stelle auch getan hätte.« Lorenzo lächelte, und sein Gesicht mit den holzschnittartigen Zügen wirkte mit einem Mal gelöst. »Das bezweifle ich. Gibt es nichts, was Ihr Euch für Euch selbst wünscht, keinen Gefallen, den ich Euch erweisen könnte?«

Richard lag schon ein ›Nein‹ auf der Zunge, da fiel ihm etwas ein. Er strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und fragte sich dabei, ob er zu unbescheiden war.

»Doch … es gibt da zwei Dinge.«

Er holte tief Atem. »Es würde mir sehr daran liegen, wenn die Calimala mit dem Unternehmen Fugger statt mit, nun, französischen Kaufleuten arbeiteten … und ich wollte schon immer an der platonischen Akademie studieren!«

Lorenzo de'Medici war nicht leicht zu verblüffen, aber diesmal brauchte er einige Sekunden, um sich von der Überraschung zu erholen. Er musterte Richard, dem man nicht die geringste Unsicherheit mehr anmerken konnte, und seine Mundwinkel zuckten.

»Wie alt seid Ihr, Riccardo?«

»Gerade siebzehn.«

»Per Bacco«, sagte Lorenzo, »ich möchte nicht mit Euch verhandeln, wenn Ihr erst in mein Alter kommt. Also schön, ich werde dafür sorgen, daß die Calimala Euch alle Konzessionen zugestehen, die Ihr haben wollt. Was die platonische Akademie angeht«, er blinzelte dem Deutschen zu, »wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, Wissen an alle, die dafür offen sind, weiterzugeben. Und außerdem, wie könnte ich meinen Freunden die aufschlußreiche Erfahrung verwehren, mit Euch zu disputieren?«

Richard verbrachte den nächsten Tag damit, den neugierigen Fragen aller Fondaco-Angehörigen mit einer Miene geheimnisvoller Undurchdringlichkeit auszuweichen, was ihm ein diebisches Vergnügen bereitete, auch wenn es, wie er sich selbst eingestand, kindisch war. Im übrigen kam er zu aller Verwunderung seinen täglichen Pflichten beim Goldhandel und der Buchhaltung nach, präsentierte Eberding seine eigene monatliche Abrechnung und die des gesamten Gold- und Stoffbereichs und schrieb am Spätnachmittag bester Laune einen ausführlichen Brief nach Augsburg.

»Daher glaube ich«, schloß er triumphierend, »daß Ihr Euch wegen der Konzessionen keine Sorgen mehr zu machen braucht.«

Teilweise gelang ihm die Verschlüsselung schon während des Schreibens, und Richard nahm sich vor, so lange zu üben, bis er es nicht mehr nötig hatte, jedesmal alles doppelt zu schreiben. Er schaute aus dem Fenster auf die Sonnenuhr im Hof, die Eberding vor zwei Wochen dort hatte aufstellen lassen, und kniff die Augen zusammen, um die genaue Zeit erkennen zu können. Beruhigt stellte er fest, daß er noch genügend Freiraum hatte, um sowohl das Mädchen im ›Lachenden Bacchus‹ aufzusuchen und über ihr Schicksal zu beruhigen, als auch rechtzeitig an dem mit Mario verabredeten Treffpunkt zu sein.

Vor beidem empfand Richard ein gewisses Unbehagen, das sich noch verstärkte, als er die Via Calimala entlangging. Er konnte sich denken, was Fra Mario als Gegenleistung von ihm haben wollte, und was Lauretta anging, so konnte er sich ebenfalls lebhaft vorstellen, was sie dazu sagte, wenn er ihr erzählte, daß ihr Belial-Kult der Obrigkeit bekannt war. Aber schließlich hatte sich für sie dadurch alles zum Besten gewendet, ohne Zauber, und als er schließlich die Schenke betrat, war er fest davon überzeugt, das Mädchen versöhnen zu können.

Es wunderte ihn allerdings, daß er sie nicht sofort sah, denn bei seinen bisherigen Besuchen hatte Richard nicht den Eindruck gewonnen, daß der Wirt seiner Magd viele freie Stunden gönnte. Den Wirt allerdings fand er augenblicklich und sah, wie sich das feiste Gesicht in ein diensteifriges Lächeln faltete, als er sich näherte.

»Verzeiht, aber könnt Ihr mir sagen, wo ich Lauretta finde?« erkundigte sich Richard mit distanzierter Höflichkeit. Schlagartig verschwand das Lächeln.

»Lauretta? Die kleine Schlampe hat sich umgebracht«, sagte der Wirt ärgerlich. »Hat heute nachmittag mit einer von diesen merkwürdigen Gestalten getuschelt, die sie hier manchmal besuchen, und kam dann heulend zu mir, schwatzte etwas davon, daß sie ihren Lohn haben wollte, weil sie die Stadt verlassen müsse. Ist das zu fassen? Und wie ich sage, nein, und wenn du mir davonläufst, zeig ich dich bei der Signoria an, rennt sie weg, und mein Nichtsnutz von einem Sohn findet sie zwei Stunden später auf dem Dachboden. Hat sich erhängt. Bei allen Heiligen, ich hab sie immer wie meine Tochter behandelt, und sie bringt sich um, gerade jetzt, wo hier ein Zunftfest nach dem anderen stattfindet. Undankbare Schlampe. Und es hat sich schon rumgesprochen. Schaut Euch das an. So wenig Gäste waren noch nie da!«

Während der Wirt sprach, sich immer mehr ereiferte, bis auch andere Gäste aufmerksam wurden, spürte Richard in sich das immer stärker werdende Bedürfnis zu schreien, auf den Mann vor ihm einzuschlagen, den sich immer rascher bewegenden Mund zu stopfen. Aber er tat nichts dergleichen. Dazu kannte er den wahren Schuldigen nur zu genau. Schließlich wandte er sich ruckartig ab und verließ mit steifen Schritten den Raum, als sei er aus Holz, und er wünschte, er wäre es, wünschte es sich wie nichts anderes sonst.

»Ich habe sie umgebracht«, sagte Richard zu Fra Mario Volterra, der auf die Erfüllung eines Versprechens wartete, »so sicher, als ob ich ihr selbst den Strick um den Hals gelegt hätte. Wenn ich schon am Morgen zu ihr gegangen wäre oder gleich noch in derselben Nacht, nachdem ich mit Lorenzo gesprochen hatte …«

Sie standen auf der alten Bergfeste über dem Arno, wo man sehen konnte, wie der Fluß mit einem Arm die Innenstadt umschlang. Die rötlichen Dächer der Stadt glichen im Mondlicht zahlreichen kleinen Stufen, die zum Duomo und seinem Campanile hinführten. Der schlanke, goldglänzende Turm der Signoria ragte wie der Mast eines Schiffes aus dem Häusermeer empor, und zu einem anderen Zeitpunkt wäre es Richard wohl in den Sinn gekommen, daß man den Duomo mit seiner riesigen Kuppel auch als den behäbigen Bug dieses Schiffes sehen konnte. Doch so unterstrich die Schönheit, auf die er schaute, nur die Ungeheuerlichkeit des Geschehenen.

»Ja«, sagte Mario. »Ich könnte Euch jetzt trösten und behaupten, daß es ihr eigener Entschluß und der Wille Gottes war, aber das wäre eine Lüge. Mit dieser Last müßt Ihr fertig werden. Ihr habt sie getötet, zusammen mit ihrem Aberglauben und ihrer Furcht und ihrem ganzen gequälten Leben, aus dem sie keinen Ausweg mehr sah. Doch ich trage selbst ein Stück an dieser Schuld, denn schließlich hattet Ihr mir von ihr erzählt, und ich hätte wissen müssen, daß diese Gefahr bestand.«

»Aber Ihr versteht nicht«, sagte Richard tonlos. »Das war nicht das erste Mal, daß … Ich habe schon einmal jemandem den Tod gebracht.«

Er starrte auf die Türme, welche die weiß schimmernde Stadtmauer immer wieder unterbrachen wie die ringförmigen Glieder einer Kette. Fünf der acht Türme ließen sich von hier aus erkennen, fünf Türme für die fünf Jahre seines Lebens, die vergangen waren, seit in Wandlingen ein Scheiterhaufen gebrannt hatte, bis er hier wieder ein neues Schließen des Kreises erlebte, in dem er gefangen war.

»Warum ausgerechnet dort?« hatte Richard gefragt, als Mario ihm den Treffpunkt nannte, und der Augustiner hatte geantwortet: »Wenn Ihr es nicht über Euch bringt, Eure Geschichte einem Menschen zu erzählen, dann könnt Ihr sie dort der Stadt erzählen, Riccardo.«

Mit monotoner Stimme begann er jetzt zu sprechen, den Blick starr auf die Stadt gerichtet. Bilder quälten sich aus ihm hervor, die er für immer sicher in seinem Innersten bewahrt geglaubt hatte: der Inquisitor, Bruder Ludwig, der schwitzend vor der Tür ihres Hauses stand, Bruder Albert und der Abt und die maßlose Enttäuschung, der Haß, den beide in ihm wachgerufen hatten, und endlich der lange Gang seiner Mutter zum Scheiterhaufen, seiner Mutter, die von der Folter so zugerichtet worden war, daß er sie unter hundert anderen Gefangenen noch nicht einmal erkannt hätte.

Er sprach auch von Augsburg, von Sybille und ihrer selbstverständlichen, liebevollen Art, von Jakob und der seltsamen Faszination, die von ihm ausging, und zu Richards eigener Überraschung sprach er auch von dem Fiasko mit Barbara und der aufreizenden Versuchung, die sie für ihn dargestellt hatte.

»Aber warum habt Ihr ihr nie nachgegeben, Riccardo?«

»Weil ich … weil sie … weil es falsch war. Weil sie eine Frau war. Es mag Euch vielleicht wie eine Lüge vorkommen, aber ich habe es bis jetzt noch nicht fertiggebracht, bei einer Frau zu liegen.«

»Statt dessen sucht Ihr nach Hexen.«

Richard krallte sich an der Festungsmauer fest, und seine Knöchel wurden weiß. »Das hat überhaupt nichts miteinander zu tun. Und im übrigen suche ich nicht nach Hexen. Ich habe es Euch doch erklärt, ich will beweisen, daß es keine gibt.«

Mario sah ihm nicht in die Augen. »Habt Ihr Euch eigentlich je gefragt, warum? Ich meine, wollt Ihr die Unschuld Eurer Mutter beweisen?«

»Nein«, entgegnete Richard heftig. »Ich weiß, daß sie unschuldig war. Sie wurde aus drei Gründen verbrannt: der Lüsternheit eines Mönchs wegen, weil ein Inquisitor unbedingt Blut sehen wollte und dafür sorgte, daß der Prozeß noch nicht einmal im entferntesten gerecht ablief, und weil niemand da war, um ihr zu helfen. Nicht, nachdem die Mönche erkannten, daß ihr eigenes Leben in Gefahr sein würde. Und ich wette, so ist es auch bei all den anderen Prozessen, die Bruder Heinrich von den domini canes durchführt.«

Mario streifte seine Kapuze ab und hob sein Gesicht dem Mond entgegen. »Was wollt Ihr dann beweisen, wenn Ihr doch überzeugt seid, daß die Prozesse nicht rechtsgültig sind?«

»Die Prozesse sind nur ein äußeres Zeichen, wie ein Geschwür, das die Krankheit verrät. Der Glaube an Hexen ist es, der erschüttert werden muß.«

Richard wies auf die schlafende Stadt. »Das«, sagte er, »ist ein Ort voller Wissen, voller Glanz, vielleicht der beste Ort der Welt, um dort zu leben. Aber was würde geschehen, wenn Ihr oder ich uns unter den Campanile stellen und schreien würden, es gebe keine Hexen? Ein öffentlicher Aufruhr wäre noch das mindeste. Und selbst hier, in dieser Stadt voller Gelehrter, in dieser Stadt, die sich so weit von Rom entfernt hat, finden sich Menschen, die sich sogar Hexerei wünschen. Ihr habt diese schwarze Messe nicht gesehen, aber ich. Das muß ein Ende haben, Mario. Die Hexenverbrennungen und die schwarzen Messen, beides.«

Er sprach mit einer glühenden Eindringlichkeit, und es fiel ihm nicht auf, daß er den Priester zum ersten Mal nur mit seinem Taufnamen angesprochen hatte. Mario bemerkte es, doch er sagte nichts dazu. Beide schwiegen. Ein leichter Wind kam auf, der die drückende Hitze, die sich auch in der Nacht noch über die Erde legte, ein wenig zersetzte. Endlich antwortete der Augustiner: »Ich verstehe Euer Ziel, Riccardo, aber ich glaube, Ihr irrt Euch in Eurer Argumentation und Euren Methoden. Oder vielleicht sollte ich es anders ausdrücken. Ihr habt eben nicht alle Eure Gründe genannt.«

»Und welchen weiteren Grund sollte ich noch haben?« fragte Richard langsam.

»Habt Ihr nie daran gedacht, Euch an Heinrich Institoris zu rächen? Und nicht nur die Mönche haben Eurer Mutter damals nicht mehr geholfen, als es gefährlich wurde. Auch Ihr habt ihr nicht geholfen, genausowenig wie dem Mädchen Lauretta.«

Mario drehte sich um und sah Richard direkt an. Richards Augen waren im Mondlicht tiefschwarz, wie tiefe, bodenlose Schächte, und sein ganzer Körper war angespannt wie der einer Katze, die zum Sprung ansetzen will. Seine Hände öffneten und schlossen sich wieder.

»Verdammt sollt Ihr sein, ja«, stieß Richard hervor. »Ich habe ihr nicht geholfen. Nichts, was ich tat, hat ihr auch nur im entferntesten genützt. Und ohne mich wäre Bruder Ludwig nie zu ihr gekommen.«

»Und wenn Ihr jetzt genügend Hexen rettet, indem Ihr den Gegenbeweis antretet, macht Ihr diese Schuld wieder gut, Hexe für Hexe, Stück für Stück?«

»Ja.«

»Und wenn Ihr den Glauben an Hexen erst aus der Welt verbannt habt, hat Bruder Heinrich das verloren, was ihm die meiste Freude bereitete – was viel qualvoller ist, als zu sterben, schnell und auf einen Schlag. Eure Mutter ist sehr langsam gestorben. Ihr Inquisitor soll ebenfalls lange leiden.«

»Ja.«

Der Wind trug den seltsamen Duft von Pinien und Stechginster mit sich. Die alte Bergfeste wurde schon lange nicht mehr bewohnt, und die Bäume, die in ihrem Hof wuchsen, streckten ihre Arme aus wie Schatten, die ans Tageslicht wollen.

»Ihr seht viel zu gut und viel zuviel«, sagte Richard nach einer Weile ausdruckslos, »lernt man das als Priester im Noviziat?«

Das Gesicht des Mönchs verzog sich. »Man lernt es durch Beobachtung. Aber, Riccardo, denkt Ihr denn, wenn Ihr einem Teufelskult nach dem anderen nachlauft, einer Hexe nach der anderen, könnt Ihr Euer Ziel erreichen? Bestenfalls könnt Ihr, wie diesmal, sagen, daß es nur mechanische Kniffe waren. Doch was sagt das über den Rest aus? Und schlechtestenfalls trefft Ihr auf etwas, das Ihr nicht mehr durchschaut – und was dann?«

Richard lehnte sich gegen die Brustwehr. Der rauhe Stein fühlte sich warm, fast vertraut unter seiner Handfläche an. »Mario«, fragte er und betonte jedes einzelne Wort, »glaubt Ihr an Hexen?«

Zum ersten Mal am heutigen Abend spürte er, wie sein Gegenüber in die schwächere Position geriet. Der Priester zögerte mit der Antwort, wandte sich wieder ab und erwiderte leise: »Ich weiß es nicht. Ich halte die Art, wie Hexenprozesse heute geführt werden, für ganz und gar unrechtmäßig, und ich sehe in Euren Belial-Anbetern nicht mehr Teuflisches als in jedem leichtgläubigen Menschen, der sich auch zu Bösem mißbrauchen läßt. Aber Hexen im allgemeinen … Ich weiß es wahrhaftig nicht, Gott helfe mir.«

»Welche Methode würdet Ihr also für mich vorschlagen?«

»Studiert die Prozesse. Weist nach, wie und mit welchen Mitteln sie Unschuldige auf die Scheiterhaufen bringen, und schreibt darüber. Bücher vermögen viel, seht Euch nur den ›Malleus Maleficarum‹ Eures alten Bekannten Institoris an. Studiert meinethalben auch alle Schriften über Schwarze Magie, um dort Fehler nachzuweisen, ich besorge sie Euch. Aber verschwendet Euer Leben nicht damit, nach den Hexen selbst zu suchen.«

Wieder kam ein Windstoß, und Richard spürte plötzlich die ersten Regentropfen. »Ist das meine Buße, Padre?« fragte er nicht ohne Ironie.

»Warum nicht? Ihr sehnt Euch doch nach Absolution, nach Vergebung für Eure Schuld. Übrigens, Riccardo, wie wäre es, wenn wir das ständige ›Ihr‹ und ›Euch‹ fallenlassen? Bei Tedeschi mag das üblich sein, für einen Florentiner ist es auf die Dauer sehr beschwerlich.«

Mario beobachtete, wie Richard zögerte, und streckte seine Hand aus. Einen Augenblick später ergriff Richard sie und hielt sie fest. »Sicuro«, entgegnete er, mit einem Mal befreit von allem Mißtrauen, »gerne, Mario.«

Aus dem tröpfelnden Regen wurde ein ausgewachsener Sturm. Wassermassen peitschten vom Himmel, und beide rannten, so schnell sie konnten. Richard glitt einmal aus, doch bemerkte es kaum. Durch den Regen zu laufen, auf Florenz zu, nachdem er endlich einmal ausgesprochen hatte, was sich durch Jahre hinweg in ihm angesammelt hatte, schien ihn frei zu machen, völlig frei, für kurze Zeit lang sogar frei von dem Tod, der sich erst heute ereignet hatte.