77
Die letzte Folge

»Ach, übrigens«, bemerkte Gurney, »hast du deine Waffe bei dir?«

»Immer«, antwortete Hardwick. »Ohne das kleine Halfter würde sich mein Knöchel nackt anfühlen. Meiner bescheidenen Meinung nach kann eine Kugel manchmal genauso viel zur Lösung eines Problems beitragen wie ein wacher Verstand. Warum fragst du? Hast du irgendwas Dramatisches vor?«

»Im Augenblick noch nicht. Da müssen wir unserer Sache erst noch viel sicherer sein.«

»Gerade hast du dich verdammt sicher angehört.«

Gurney verzog das Gesicht. »Sicher ist nur, dass meine Version des Perry-Mords möglich ist. Oder dass sie nicht unmöglich ist. Scott Ashton könnte Jillian Perry umgebracht haben. Aber wir müssen noch weiter nachforschen, wir brauchen Fakten. Im Moment haben wir weder Beweise noch ein Motiv. Das Ganze ist nichts als eine Spekulation, eine logische Übung.«

»Aber wenn es doch …?«

Hardwicks Frage wurde vom dumpfen Geräusch der schweren Kapellentür einen Stock tiefer und einem scharfen metallischen Klicken unterbrochen. Reflexartig beugten sich beide zur Bürotür und lauschten auf die Schritte aus dem steinernen Treppenschacht.

Eine Minute später trat Scott Ashton mit der gleichen Aura von Macht und Sicherheit ins Büro, die sie am Monitor beobachtet hatten. Er ließ sich auf den weich gepolsterten Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken, nahm das Headset ab und schnippte es in die oberste Schublade. Dann legte er auf der wuchtigen schwarzen Schreibtischplatte die Hände zusammen und schob langsam die Finger ineinander – bis auf die Daumen, die er parallel hielt, als wollte er sie eingehend vergleichen. Der Vergleich schien ihn zu faszinieren. Nachdem er eine Weile über seine privaten Gedanken gelächelt hatte, löste er die Hände voneinander und breitete sie mit einer merkwürdig unbekümmerten Geste aus.

Dann griff er in die Jackentasche und zog eine kleinkalibrige Pistole heraus. Das geschah so vollkommen beiläufig, dass sich Gurney kurz der Illusion hingab, er hätte eine Packung Zigaretten zum Vorschein gebracht.

Mit einer fast schläfrigen Bewegung richtete er die halbautomatische Waffe, eine Beretta Kaliber .25, auf einen Punkt zwischen Gurney und Hardwick, doch sein Blick fixierte Hardwick.

»Tun Sie mir bitte einen Gefallen. Legen Sie die Hände auf die Stuhllehnen. Sofort, bitte. Danke. Und jetzt heben Sie die Füße langsam vom Boden, aber schön sitzen bleiben dabei. Danke. Ich weiß Ihre Kooperation zu schätzen. Höher bitte. Danke. Und jetzt strecken Sie die Beine bitte nach vorn zum Schreibtisch. Noch ein Stück, bis Sie die Füße auf die Platte legen können. Danke. Wirklich sehr entgegenkommend von Ihnen.«

Hardwick folgte den Anweisungen mit dem entspannten Ernst eines Yogaschülers, der seinem Lehrer zuhört. Sobald seine Füße auf dem Schreibtisch ruhten, beugte sich Ashton vor und zog eine Kel-Tec P-32 aus dem Halfter unter Hardwicks rechtem Hosenbein. Er wog sie kurz in der Hand, dann ließ er sie in die obere Schublade gleiten.

Lächelnd nahm er wieder Platz. »Ah ja. Schon viel besser. Bei zu vielen bewaffneten Menschen in einem Zimmer kommt es leicht zu einer Tragödie. Bitte, Detective, Sie dürfen gern die Füße wieder runternehmen. Ich denke, nachdem die Machtverhältnisse jetzt geklärt sind, können wir uns alle ein wenig entspannen.«

Träge und amüsiert blickte Ashton von einem zum anderen. »Ich muss zugeben, der Tag wird immer faszinierender. So viele … Entwicklungen. Und Sie, Detective Gurney, Ihr Verstand ist ja wirklich auf Hochtouren gelaufen.« Ashtons schnurrende Stimme triefte vor Sarkasmus. »Was für ein reißerisches Komplott Sie sich da ausgedacht haben. Klingt ja fast wie ein Kinodrehbuch. Der angesehene Psychiater Scott Ashton ermordet seine Frau im Beisein von hundert Hochzeitsgästen. Und dazu muss er nur eins zu ihr sagen: ›Schließ die Augen.‹ Einen Hector Flores hat es nie gegeben. Die blutige Machete ist ein raffinierter Trick. In Wirklichkeit hat er ein Beil in der Tasche. Ein pseudozufälliger Sturz in die Rosen. Im Bad dann der clevere Anzugtausch. Und so weiter. Eine geniale Verschwörung enthüllt. Ein sensationeller Mordfall gelöst. Händler des Grauens entlarvt. Den Toten widerfährt Gerechtigkeit. Und die anderen leben vergnügt bis ans Ende ihrer Tage. Hab ich was vergessen?«

Wenn er eine schockierte oder verängstigte Reaktion erwartet hatte, wurde er enttäuscht. Eine von Gurneys Stärken war, dass er überraschenden Wendungen voller Sanftmut begegnete und obendrein in einem Ton, der eher für eine weniger kritische Situation gepasst hätte. So war es auch jetzt.

»Eine treffende Zusammenfassung.« Er ließ sich nichts von seiner Überraschung darüber anmerken, dass Ashton seine Unterhaltung mit Hardwick mitgehört hatte – wahrscheinlich war sie mit einem verborgenen Mikrofon zu seinem Headset übertragen worden. Ja, es war eindeutig so. Gurney versetzte sich innerlich eine Ohrfeige, weil ihm nicht aufgefallen war, dass Ashton in der Kapelle in ein eigenes Handy gesprochen hatte, was den Schluss nahelegte, dass das Headset anderen Zwecken diente. Es war schmerzlich, dass ihm etwas so Offensichtliches entgangen war, doch das verbarg er nach außen hin.

Gurney hatte es schon immer schwer gefunden, die Wirkung seiner ungerührten Reaktion einzuschätzen. Jetzt konnte er nur hoffen, dass er sein Gegenüber damit ein wenig aus der Fassung gebracht hatte. Jeder noch so geringe Zweifel, der in Ashton entstand, war ein Plus.

Ashton wandte seine Aufmerksamkeit Hardwick zu, dessen Blick auf der Pistole ruhte. Der Psychiater schüttelte den Kopf, als würde er ein ungezogenes Kind ermahnen. »Wie heißt es im Kino immer so schön, Detective: Lassen Sie es lieber. Bevor Sie aus dem Stuhl hochkommen, haben Sie schon drei Kugeln in der Brust.«

Im gleichen Ton redete er auch Gurney an. »Und Sie, Detective, Sie sind wie eine Fliege, die sich ins Haus verirrt hat. Sie summen herum und krabbeln über die Decke. Bsss. Sie schauen sich um. Bsss. Aber Sie begreifen nichts. Bsss. Und dann, klatsch! Das ganze Gesumm umsonst. Das Suchen und Wühlen – alles umsonst. Weil Sie einfach nicht verstehen, was Sie sehen. Wie könnten Sie auch? Sie sind ja nur eine Fliege.« Er gluckste lautlos.

Gurney wusste, dass es das strategische Gebot der Stunde war, die Dinge hinauszuzögern. Wenn Ashton tatsächlich der Mörder war, ging es wie immer in solchen Situationen um einen psychologischen Wettstreit, der auf Überlegenheit und emotionale Kontrolle abzielte. Damit stand Gurney vor der Aufgabe, seinen Gegner in dieses Spiel zu verwickeln und es in die Länge zu ziehen, bis sich die Chance bot, das Spiel zu beenden. Lächelnd lehnte er sich zurück. »Nur dass die Fliege in diesem Fall richtigliegt, nicht wahr, Ashton? Sonst hätten sie ja wohl kaum die Pistole in der Hand.«

Ashtons Lachen brach ab. »Richtig? Das deduktive Genie bildet sich was darauf ein, richtigzuliegen? Nachdem ich Ihnen so viele Hinweise gegeben habe? Das Verschwinden mehrerer Absolventinnen, der Auto-Streit, das Erscheinen der jungen Damen in den Anzeigen von Karnala. Wenn ich nicht der Versuchung nachgegeben hätte, Sie zu ködern – damit es ein bisschen spannender wird –, dann wären Sie keinen Schritt weitergekommen als Ihre schwachsinnigen Kollegen.«

Jetzt war es Gurney, der lachte. »Spannung war bestimmt nicht der Grund. Sie wussten doch genau, dass wir als Nächstes mit ehemaligen Schülerinnen reden und dann sofort auf diese Tatsachen stoßen würden. Sie haben uns also nichts verraten, das wir nicht in ein oder zwei Tagen selbst rausgefunden hätten. Ein kläglicher Versuch, unser Vertrauen mit Informationen zu kaufen, die Sie nicht mehr verheimlichen konnten.« Gurney registrierte Ashtons starres Bemühen um Gleichmut und war überzeugt, voll ins Schwarze getroffen zu haben. Doch manchmal konnte es bei solchen Konfrontationen passieren, dass ein Volltreffer zum Bumerang wurde.

Und Ashtons nächste Worte weckten den bösen Verdacht in ihm, dass dies auch hier der Fall war. »Es hat keinen Sinn, weiter Zeit zu verschwenden. Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Ich möchte Ihnen zeigen, wie die Geschichte endet.« Er stand auf und zerrte mit der freien Hand den Stuhl zu einer Stelle nahe der offenen Bürotür, die mit der Position des Flachbildschirms auf der Kommode und der beiden Stühle, auf denen Gurney und Hardwick saßen, ein Dreieck bildete. So stand er mit dem Rücken zur Tür und konnte zugleich den Monitor und sie im Auge behalten.

»Schauen Sie nicht mich an.« Ashton deutete zum Computer. »Schauen Sie auf den Bildschirm. Reality-TV. Mapleshade: Die letzte Folge. Es ist nicht das Finale, das ich mir vorgestellt habe, aber bei Reality-TV muss man flexibel sein. Sitzen Sie gut? Schön. Die Kamera läuft, die Handlung hat begonnen, nur ein bisschen mehr Licht brauchen wir noch da unten.« Er nahm die kleine elektronische Fernbedienung aus der Tasche und drückte auf einen Knopf.

In der Kapelle sprangen Wandleuchter an und tauchten den Raum in helles Licht. Das Stimmengewirr wurde kurz unterbrochen, als sich die Mädchen in den Diskussionsgruppen nach den Lampen umblickten.

»So ist es besser.« Zufrieden betrachtete Ashton die Szenerie auf dem Monitor. »Im Hinblick auf Ihren Beitrag, Detective Gurney, möchte ich ganz sicher sein, dass Sie alles deutlich sehen können.«

Welcher Beitrag?

Statt die Frage auszusprechen, legte sich Gurney die Hand vor den Mund und erstickte ein Gähnen.

Ashton bedachte ihn mit einem kühlen Blick. »Ihnen wird die Langeweile bald vergehen.« Eine Welle winziger Ticks wanderte über sein Gesicht. »Sie sind ein gebildeter Mann, Detective. Wissen Sie, was der mittelalterliche Begriff ›condigna reparatio‹ bedeutet?«

Seltsamerweise wusste er es. Aus einem Philosophiekurs am College. Condigna reparatio: eine Strafe, die einen vollkommenen Ausgleich zu einem Verstoß schafft. Eine ideal angemessene Sühne. »Ja, der Begriff ist mir bekannt.«

In Ashtons Augen blitzte ein Hauch von Überraschung auf.

Plötzlich bemerkte Gurney ganz am Rand seines Blickfelds etwas anderes – eine schnelle, schattenhafte Bewegung. Ein Teil von einem Kleidungsstück, ein Ärmel vielleicht? Was es auch war, es war bereits in einer Nische auf dem Treppenabsatz verschwunden, gleich hinter der Bürotür, wo für einen Menschen kaum genug Platz zum Stehen war.

»Dann können Sie vielleicht auch den Schaden ermessen, den Sie mit ihrer Ignoranz angerichtet haben.«

»Erklären Sie es mir.« Gurney setzte eine Miene wachsenden Interesses auf, um (besser als mit dem gespielten Gähnen) die aufsteigende Angst zu verbergen.

»Sie verfügen über außerordentliche mentale Gaben. Ein wirklich leistungsfähiges Gehirn zur Berechnung von Vektoren und Wahrscheinlichkeiten.«

Diese Beschreibung stand in krassem Gegensatz zu Gurneys aktueller Einschätzung seiner Fähigkeiten. Mit einem eisigen Schauer fragte er sich, ob Ashton seinen Geisteszustand so genau erfasste, dass er sich einen Witz erlaubt hatte.

Gurney selbst hatte das Gefühl, dass das Gehirn, das ihm seine großen beruflichen Erfolge beschert hatte, deshalb immer mehr an Bodenhaftung und Richtung verlor, weil es zu viele Faktoren auf einmal zusammenfügen musste: der imaginäre Hector, der falsche Jykynstyl, die enthauptete Jillian Perry, die enthauptete Kiki Muller, die enthauptete Melanie Strum, die enthauptete Savannah Liston. Die enthauptete Puppe in Madeleines Nähzimmer.

Wo lag bei all dem das Gravitationszentrum – der Punkt, wo die Kraftlinien zusammenliefen? Hier in Mapleshade? Oder in dem Sandsteinhaus, wo Steck mit seinen »Töchtern« residierte? Oder in einem dunklen sardischen Café, wo Giotto Skard vielleicht gerade in diesem Augenblick bitteren Espresso schlürfte – eine lauernde, runzlige Spinne im Mittelpunkt ihres Netzes, wo sich alle Fäden seiner Unternehmungen trafen?

Haushoch türmten sich die unbeantworteten Fragen.

Und dazu noch eine sehr persönliche: Warum hatte er nicht an die Möglichkeit gedacht, dass er abgehört wurde?

Eigentlich hatte er die Idee von der »Todessehnsucht« immer für eine oberflächliche, platte Vorstellung gehalten, doch jetzt musste er fast befürchten, dass sie die beste Erklärung für sein Verhalten lieferte.

Oder war einfach seine mentale Festplatte zu voll mit unverarbeiteten Details?

Unverarbeitete Details, wacklige Theorien, Morde.

Wenn alle Stricke reißen, muss man sich auf die Gegenwart konzentrieren.

Madeleines stehender Ratschlag: im Hier und Jetzt sein. Aufpassen.

Wahrnehmung des Augenblicks: der Heilige Gral des Bewusstseins.

Ashton war gerade mitten in einem Satz. »… tragikomische Unbeholfenheit der Strafjustiz, die eigentlich kriminell ist. Beim Umgang mit Sexualverbrechern ist dieses System auf geradezu lächerliche Weise inkompetent. Von denen, die es fasst, hilft es keinem einzigen und macht die meisten noch gefährlicher. Es lässt diejenigen laufen, die schlau genug sind, die sogenannten Fachleute zu überlisten. Es veröffentlicht Listen von Sexualstraftätern, die unvollständig und nutzlos sind. Und unter dem Deckmantel dieser PR-Masche lässt es Schlangen auf die Welt los, die Kinder verschlingen!« Sein böse funkelnder Blick wanderte von Gurney zu Hardwick und wieder zu Gurney. »Das ist das System, in dessen Dienst Sie sich mit all Ihren logischen Fähigkeiten, Ihrem ermittlerischen Geschick und Ihrer Intelligenz gestellt haben.«

Eine merkwürdige Rede, fand Gurney, eine elegante Kritik, die klang, als wäre sie schon öfter vorgetragen worden, vielleicht bei Fachtagungen; doch sie war geprägt von einem spürbaren Zorn, der alles andere als künstlich war. Als er Ashton in die Augen sah, erkannte er, dass ihm dieser Zorn nicht zum ersten Mal begegnete. Er hatte in den Augen der Opfer von sexuellem Missbrauch gebrannt. Am lebhaftesten war ihm eine fünfzigjährige Frau in Erinnerung geblieben, die gestanden hatte, ihren fünfundsiebzigjährigen Stiefvater mit der Axt erschlagen zu haben, weil er sie im Alter von fünf Jahren vergewaltigt hatte.

Vor Gericht verteidigte sie sich mit dem Argument, sie habe sicher sein wollen, dass ihre Enkelin und auch die Enkelinnen anderer Menschen nichts von ihm zu befürchten hatten. In ihren Augen loderte ein wilder, beschützerischer Zorn, und obwohl ihr Anwalt besänftigend eingreifen wollte, schwor sie, dass sie nur noch den einzigen Wunsch hatte, sie alle zu töten, jedes einzelne dieser Ungeheuer. Jeden Missbraucher wollte sie umbringen und zerstückeln. Als man sie aus dem Gerichtssaal schaffte, verkündete sie schreiend ihre Absicht, sich vor den Toren der Gefängnisse zu postieren und jeden Missbraucher zu töten, der auf freien Fuß kam, jeden einzelnen von ihnen, der auf die Welt losgelassen wurde. Jeden Funken Energie, den ihr Gott gegeben hatte, wollte sie dafür verwenden, sie in Stücke zu hacken.

In dem Moment stellte Gurney die letzte Verbindung her: die einfache Gleichung, die alles erklärte.

Gurney sprach so beiläufig, als hätten sie schon den ganzen Abend über dieses Thema geredet. »Tirana wird bestimmt auf niemanden mehr losgelassen.«

Zuerst zeigte Ashton keine Reaktion, als hätte er Gurneys Worte gar nicht gehört.

Hinter ihm auf dem dunklen Treppenabsatz nahm Gurney erneut eine Bewegung wahr – besser erkennbar jetzt als braun gekleideter Arm, an dessen Ende etwas Metallisches schimmerte. Dann zog er sich wieder in die schmale Nische hinter der Tür zurück.

Bis dahin hatte Ashton den Kopf leicht nach links gehalten. Nun drehte er ihn unglaublich langsam zur anderen Seite. Er nahm die Pistole in die linke Hand. Dann hob er die rechte Hand, bis die Fingerspitzen leicht das Ohr und die Schläfe berührten und dort in einer Geste verharrten, die zugleich gebrechlich und gefährlich wirkte. Zusammen mit der Haltung des Kopfs entstand der Eindruck, als würde er auf eine ferne Melodie lauschen.

Schließlich blickte er Gurney in die Augen und senkte den Arm auf die Stuhllehne. Zugleich hob er die Hand mit der Pistole. Auf seinem Gesicht erblühte und erlosch ein Lächeln wie eine groteske, kurzlebige Blume. »Sie sind so ein kluger Mann.«

Das Stimmengewirr aus den Monitorlautsprechern hinter ihm wurde lauter, heftiger.

Ashton schien es nicht zu registrieren. »So klug, so scharfsinnig, so eitel. Wen wollen Sie denn beeindrucken?«

»Da brennt was«, rief Hardwick.

»Sie sind wie ein Kind.« Ungerührt setzte Ashton seinen Gedankengang fort. »Ein Kind, das einen Kartentrick gelernt hat und ihn den Leuten immer wieder vorführt, um die gleiche Reaktion wie beim ersten Mal zu erleben.«

Gurney beobachtete abwechselnd die Waffe und die täuschend gelassenen Augen des Mannes, der sie umklammerte. Was immer auch auf dem Monitor los war, es musste warten. Wichtig war, dass Ashton weiterredete.

Erneut entstand auf dem Treppenabsatz Bewegung, und eine kleine Gestalt in einer braunen Strickjacke stahl sich leise in die Öffnung der Bürotür. Erst nach einer Sekunde erkannte Gurney in dem Mann Hobart Ashton.

Gurney richtete den Blick bewusst auf die Waffe. Er fragte sich, wie viel der Vater von den Ereignissen verstand. Und was, wenn überhaupt, hatte er vor? Weshalb diese Heimlichkeit? Hatte ihn ein Verdacht dazu bewogen, behutsam die Stufen hinaufzuschleichen und sich oben in die Nische zu drücken? Wichtiger noch, konnte er von seiner Position aus die Pistole seines Sohns sehen? Begriff er die Situation überhaupt? Wie wahnhaft war seine Einschätzung der Realität? Und falls der Alte seinen Sohn absichtlich oder unabsichtlich einen Moment ablenkte, würde sich Gurney dadurch die Chance bieten, sich auf Ashton zu stürzen, bevor er schießen konnte?

Plötzlich wurden diese verzweifelten Überlegungen von Hardwick unterbrochen. »Scheiße! Die Kapelle brennt!«

Gurney schaute auf den Monitor, ohne jedoch Scott Ashton und seinen Vater ganz aus den Augen zu lassen. Die hochauflösenden Kamerabilder zeigten unmissverständlich, dass aus den Wandleuchtern in der Kapelle Rauch aufstieg. Die Schülerinnen stürzten hektisch von den Bänken, um sich im Mittelgang und auf der erhobenen Plattform zusammenzudrängen.

Gurney sprang reflexartig auf, gefolgt von Hardwick.

»Vorsicht, Detective.« Ashton ließ die Pistole in die rechte Hand gleiten und zielte auf Gurneys Brust.

»Schließen Sie die Türen auf«, rief Gurney.

»Noch nicht.«

»Was treiben Sie da eigentlich, verdammt?«

Aus dem Monitor drangen laute Schreie. Mit einem Blick über die Schulter erkannte Gurney gerade noch eine Schülerin mit einem Feuerlöscher, der sich in einen Flammenwerfer verwandelt hatte und eine Holzbank mit einem Schwall brennender Flüssigkeit überzog. Ein zweites Mädchen rannte mit einem anderen Feuerlöscher herbei – mit dem gleichen Ergebnis: ein flüssiger Strahl, der sich bei der Berührung mit dem Feuer sofort entzündete. Offenbar waren die Feuerlöscher präpariert worden, um ihre Wirkung ins Gegenteil zu verkehren. Gurney fühlte sich an einen Mordfall vor zwanzig Jahren in der Bronx erinnert, bei dem festgestellt wurde, dass ein Feuerlöscher in einer kleinen Eisenwarenhandlung geleert und mit geliertem Benzin – also selbst gemachtem Napalm – gefüllt worden war.

Inzwischen war in der Kapelle Panik ausgebrochen.

»Mach die verdammten Türen auf, du bescheuertes Arschloch!«, brüllte Hardwick.

Ashtons Vater griff in seine Strickjacke und zog etwas mit einem glitzernden Ende heraus. Als er die kleine Klinge aus dem Griff klappte, erkannte Gurney, was es war: ein schlichtes Taschenmesser, wie es ein Pfadfinder zum Schnitzen benutzte. Er hielt es seitlich angelegt und fixierte mit ausdruckslosem Gesicht die hohe Stuhllehne, die seinen Sohn verdeckte.

Scott Ashton sah Gurney an. »Das ist nicht das Finale, das ich mir vorgestellt habe, doch dank Ihrer brillanten Einmischung hat es sich nicht vermeiden lassen. Es ist die zweitbeste Lösung.«

Hardwick tobte. »Mein Gott, lass sie raus, du Scheißwichser!«

»Ich habe mein Bestes getan«, bemerkte Ashton gelassen. »Ich hatte große Hoffnungen. Jedes Jahr wurde einigen geholfen; aber nach einer Weile musste ich einsehen, dass die meisten nicht geheilt wurden. Die meisten waren bei ihrem Abschied genauso krank wie bei ihrer Ankunft und sind in die Welt hinausgegangen, um andere zu vergiften und zu vernichten.«

»Und dagegen konnten Sie nichts tun«, sagte Gurney.

»Das dachte ich auch … bis ich meine Mission und meine Methode erkannt habe. Wenn sich manche Menschen unbedingt für ein unheilbringendes Leben entscheiden mussten, konnte ich zumindest den Zeitraum ihrer Schädlichkeit für andere begrenzen.«

Das Rufen und Kreischen aus den Lautsprechern wurde immer chaotischer. Mit finsterer Miene machte Hardwick einen Schritt auf Ashton zu. Gurney hielt ihn mit einer Hand zurück, während Ashton ruhig die Waffe hob und auf Hardwicks Brust zielte.

»Verdammt, Jack«, zischte Gurney. »Bitte keine Problemlösung mit Kugeln, wenn wir keine haben.«

Mit mahlendem Kiefer stoppte Hardwick ab.

Gurney bedachte Ashton mit einem bewundernden Lächeln. »Daher also die Abmachung mit Karnala.«

»Ah, Mr Ballston hat geplaudert.«

»Ja, ein wenig. Ich würde gern mehr darüber erfahren.«

»Sie wissen doch sowieso schon so viel.«

»Erzählen Sie mir den Rest.«

»Eigentlich eine einfache Geschichte, Detective. Ich stamme aus einer zerrütteten Familie.« Sein grausiges Grinsen brachte das Albtraumhafte zum Ausdruck, das sich hinter diesem abgegriffenen Begriff der Populärpsychologie verbarg. Seine Lippen zuckten, als hätte er Insekten unter der Haut. »Zuletzt wurde ich gerettet und adoptiert. Bekam eine Ausbildung. Eine bestimmte Art von Arbeit hat mich angezogen. Doch zum größten Teil bin ich damit gescheitert. Meine Patienten haben weiter Kinder vergewaltigt. Ich wusste keinen Rat – bis mir einfiel, dass ich dank meiner Familienbeziehungen eine Möglichkeit hatte, die schlimmsten Frauen mit den schlimmsten Männern zusammenzubringen.« Wieder grinste er. »Condigna reparatio. Die perfekte Lösung.« Das Grinsen verblasste. »Die intelligente Jillian hat einen Tick zu viel herausgefunden. Hat ein paar Worte eines Telefongesprächs mitbekommen und ihrer unglückseligen Neugier nachgegeben. Dadurch wurde sie zur Bedrohung für das ganze Arrangement. Natürlich hat sie den Gesamtzusammenhang nie durchschaut. Trotzdem hat sie sich eingebildet, sie kann aus ihrem bruchstückhaften Wissen Kapital schlagen. Die Heirat war ihre erste Forderung. Mir war klar, dass es nicht dabei bleiben würde. Also habe ich die Sache auf eine Weise bereinigt, die ich besonders befriedigend und angemessen fand. Eine Zeit lang war alles gut. Doch dann sind Sie aufgetaucht.« Er richtete die Pistole auf Gurneys Gesicht.

Auf dem Bildschirm brannten zwei Bänke, aus der Hälfte der Wandleuchter schlugen Flammen, mehrere Tücher schwelten. Die meisten Mädchen lagen auf dem Boden und bedeckten das Gesicht, atmeteten durch abgerissene Kleiderfetzen, weinten, husteten oder übergaben sich.

Hardwick schien knapp davor zu explodieren.

»Ja, dann sind Sie aufgetaucht. Der kluge, kluge David Gurney. Und das ist das Ergebnis.« Er fuchtelte mit der Waffe Richtung Monitor. »Warum hat Ihnen Ihr kluger Kopf nicht verraten, dass es auf diese Weise enden wird? Denn wie hätte es sonst enden können? Dachten Sie wirklich, ich lasse diese Mädchen einfach gehen? Ist der kluge, kluge David Gurney wirklich so dumm?«

Mit wenigen kurzen Schritten huschte Hobart Ashton hinter den Stuhl seines Sohns.

Hardwick brüllte: »Und das ist deine Lösung, Ashton? Du blöder Wichser! Hundertzwanzig halbwüchsige Mädchen verbrennen? Das ist deine Scheißlösung?«

»Aber ja. Ja, das ist es! Dachten Sie wirklich, ich lasse sie frei, wenn ich in der Falle sitze?« Ashtons lauter werdende Stimme fuhr Gurney und Hardwick entgegen wie ein wildes Tier. »Glauben Sie, ich lasse eine Brut von Schlangen auf die kleinen Babys dieser Welt los? Diese giftigen, schleimigen, bösartigen Nattern! Wahnsinnige, niederträchtige, gefräßige Nattern mit zuckenden …«

Es passierte so schnell, dass Gurney es fast nicht mitbekam. Plötzlich schoss hinter der Stuhllehne ein Arm hervor und machte eine schnelle, geschwungene Bewegung, das war alles. Ashtons Tirade brach mitten im Wort ab. Dann trat der Alte mit einem einzigen kraftvollen Schritt neben den Stuhl, packte Ashtons Waffe am Lauf und entriss sie ihm mit einem Ruck, der vom scharfen Knacken eines brechenden Fingerknochens begleitet wurde. Ashtons Kopf sackte auf die Brust, dann rutschte sein ganzer Körper nach unten und blieb zusammengerollt wie der eines Embryos auf dem Boden liegen. Erst durch die Blutlache, die sich um seine Kehle bildete, wurde klar, wie er getötet worden war.

Hardwick biss die Zähne aufeinander.

Der kleine Mann in der braunen Strickjacke wischte das Taschenmesser am Polster des Stuhls ab, auf dem Ashton gesessen hatte, klappte es geschickt zusammen und steckte es ein.

Sein Blick fiel auf Ashton. Dann sagte er leise, als wollte er die flüchtige Seele seines Sohnes segnen: »Du Stück Scheiße.«

Schließe deine Augen
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