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Perfect Memories
»Wenn sich die Tatsachen widersprechen, bedeutet das, dass einige davon keine Tatsachen sind.«
Diese Feststellung hatte einer seiner Lehrer an der New Yorker Polizeiakademie eines Tages in einem Seminar getroffen. Gurney hatte das nie vergessen.
Bevor er aus dem Bildmaterial irgendwelche Schlüsse ziehen konnte, musste er ganz sichergehen, dass es die Realität widerspiegelte. Auf der DVD-Hülle stand die Telefonnummer der Firma Perfect Memories, die die Filmaufnahmen gemacht hatte.
Er rief an und hinterließ eine Nachricht, in der er die Namen Ashton und Perry erwähnte. Kaum hatte er geendet, als das Handy läutete und auf dem Display PERFECT MEMORIES erschien.
Eine professionell angenehme und wache Frauenstimme fragte: »Was kann ich für Sie tun?«
Nachdem er sich als Berater von Val Perry vorgestellt hatte, erklärte Gurney, wie wichtig das von Perfect Memories produzierte Filmmaterial war, damit der wahnsinnige Mörder Jillians gefasst wurde und ihre Familie endlich zur Ruhe kommen konnte. Dafür benötigte er nur eine absolut eindeutige Antwort auf eine einzige Frage, und zwar vom Leiter des Projekts persönlich.
»Das bin ich.«
»Und Sie sind …?«
»Jennifer Stillman. Ich bin die Geschäftsführerin.«
»Jennifer, ich muss wissen, ob es bei den Orginalaufnahmen irgendwelche Zeitunterbrechungen gegeben hat.«
»Auf keinen Fall.« Ihre Antwort kam knapp und klar.
»Nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde?«
»Ausgeschlossen.«
»Sie sind sich Ihrer Sache erstaunlich sicher. Ist die Frage schon mal zur Sprache gekommen?«
»Nicht als Frage, aber als exakte Anweisung.«
»Anweisung?«
»Im Produktionsvertrag stand, dass die Aufnahmen die gesamten Örtlichkeiten und den kompletten Empfang von Anfang bis Ende erfassen müssen, ohne dass auch nur das Geringste weggelassen wird. Anscheinend wollte die Braut, dass buchstäblich alles aufgezeichnet wird – jeder Zentimeter, jede Sekunde.«
Aus Jennifer Stillmans Ton schloss Gurney, dass diese Anforderung nicht unbedingt üblich war. Sicherheitshalber fragte er daher nach.
»Nun …« Sie zögerte. »Ich würde sagen, dass es ihnen äußerst wichtig war. Oder zumindest ihr. Als Dr. Ashton die Bitte an uns weitergegeben hat, wirkte er ein wenig …« Erneut zögerte sie. »Ich sollte mich nicht dazu äußern. Schließlich kann ich keine Gedanken lesen.«
»Jennifer, das ist wichtig. Wie Sie wissen, handelt es sich um einen Mordfall. Mir geht es vor allem darum, sicherzustellen, dass die DVDs eine ununterbrochene Filmsequenz enthalten – dass nichts fehlt, dass keine Einzelbilder rausgeschnitten wurden.«
»Es wurde absolut nichts rausgeschnitten. Solche Lücken würden zu Störungen im Zeitcode führen, die unser Computer sofort anzeigen würde.«
»Okay, gut zu wissen. Vielen Dank. Eins noch – Sie wollten gerade etwas über Dr. Ashton sagen?«
»Eigentlich nicht. Nur … Anscheinend war es ihm ein wenig peinlich, dass seine Verlobte so davon besessen war, jede Sekunde des Empfangs aufzunehmen. Ob ihn die romantische Sentimentalität verlegen gemacht hat, oder ob er es einfach kindisch fand, kann ich nicht sagen. Und es steht mir nicht zu, über die Beweggründe von Menschen zu spekulieren. Der Kunde hat immer recht.«
»Danke Jennifer, das hat mir sehr weitergeholfen.«
Es gehörte vielleicht nicht zu Jennifer Stillmans Arbeit, über die Beweggründe von Menschen zu spekulieren, aber zu Gurneys Arbeit gehörte es sehr wohl. Das Begreifen von Motiven konnte entscheidend sein, und in diesem Fall fiel ihm etwas Merkwürdiges ein. Wenn jemand wollte, dass eine Veranstaltung komplett gefilmt wurde, konnte sich dahinter ein Sicherheitsbedürfnis verbergen. Entweder glaubte der Betreffende, dass die ununterbrochen laufenden Kameras das Eintreten eines gefürchteten Ereignisses verhindern konnten, oder er wollte eine unwiderlegbare Aufzeichnung von allem, was geschah.
Und dann war da noch die Frage, wer die allgegenwärtigen Kameras eigentlich gewollt hatte. Gurney war nicht entgangen, dass Ashton die Forderung Jillians an Ms Stillman »weitergegeben« hatte, dass die Braut sie aber nicht persönlich vorgebracht hatte. Möglicherweise war es also seine Idee gewesen, und er hatte es nur vorgezogen, sie als ihre auszugeben. Aber warum sollte er so etwas tun? Und welchen Unterschied machte es, von wem die Idee stammte?
Die Möglichkeit, dass sie oder er den Sicherheitsaspekt der Kameras im Auge gehabt hatte – die Möglichkeit, dass einer von beiden oder vielleicht sogar beide Grund zur Sorge hatten – war auf jeden Fall interessant.
Am ehesten richteten sich ihre Befürchtungen wohl auf Flores, der sich angeblich schon seit einer ganzen Weile seltsam benommen hatte. Vielleicht hatte Jillian tatsächlich auf den Kameras bestanden, wie Ashton es angegeben hatte. Vielleicht hatte sie allen Grund zur Angst vor ihm. Schließlich hatte sie in der Woche vor dem Mord zahlreiche SMS von Flores’ Telefon erhalten, von denen nur die letzte nicht gelöscht worden war: »Aus allen Gründen, die ich schrieb – Edward Vallory.« Im Licht des Prologs zu Vallorys Stück konnte diese Nachricht zweifellos als Drohung begriffen werden. Vielleicht war sie also ins Cottage gegangen, um über etwas viel Unangenehmeres zu reden als einen Hochzeitstoast.
Immer wenn Gurney damit beschäftigt war, die Bruchstücke aus Beweisen, Deutungen, Gerüchten und logischen Verbindungen zusammenzusetzen, die sein Verständnis eines Verbrechens ausmachten, war sein Verstand ganz davon erfüllt, ohne jedes Gefühl für Zeit und Raum. So war er zugleich überrascht und nicht überrascht, als er feststellte, dass es schon fünf nach fünf war. Gleiches galt für die Steifheit in seinen Gliedern, als er aufstand.
Madeleine war noch immer nicht zurück. Vielleicht sollte er etwas zum Abendessen zubereiten oder zumindest nachsehen, ob sie etwas auf die Arbeitsplatte gestellt hatte, das in den Herd geschoben werden musste. Als er gerade in die Küche wollte, klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch. Auf dem Display stand Jack Hardwick.
»Hey, Supercop, du hast vielleicht gruslige Bekannte!«
»Das heißt?«
»Hoffentlich hast du dich mit dem Typen nicht im Schulhof rumgetrieben.«
Gurney wurde langsam mulmig. »Wovon redest du überhaupt, Jack?«
»Auch noch empfindlich. Ist dieser Goldschatz ein guter Kumpel von dir?«
»Lass den Quatsch. Worum geht es?«
»Um den Gentleman, mit dem du einen gehoben hast. Von dem du das Glas eingesteckt hast. Von dem ich die Fingerabdrücke nachschauen sollte. Dämmert’s dir allmählich, Sherlock?«
»Was hast du rausgefunden?«
»Einiges.«
»Jack …«
»Zum Beispiel, dass er Saul Steck heißt. Beruflicher Name Paul Starbuck.«
»Und was ist er von Beruf?«
»Zurzeit nichts. Zumindest nichts Aktenkundiges. Bis vor fünfzehn Jahren war er ein aufstrebender Hollywoodschauspieler. Fernsehwerbung, zwei Filme.« Hardwick gab den Geschichtenerzähler und machte nach jedem Satz eine dramatische Pause. »Dann hatte er ein kleines Problem.«
»Jack, geht’s vielleicht ein bisschen schneller? Was für ein kleines Problem?«
»Soll eine Minderjährige vergewaltigt haben. Als das in die Medien kam, sind mehrere andere Opfer aus der Versenkung aufgetaucht. Saul-Paul wurde wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung angeklagt. Hat gern vierzehnjährige Mädchen betäubt und haufenweise eindeutige Fotos gemacht. Das war das Ende seiner Karriere als Schauspieler. Hätte für den Rest seines Lebens im Knast landen können. Leider war es nicht so. Wäre für den Drecksack der beste Ort gewesen. Aber die reichen Verwandten haben ihm ein medizinisches Gutachten spendiert, um ihn in eine psychiatrische Anstalt einweisen zu lassen. Aus der wurde er vor fünf Jahren in aller Stille entlassen. Seitdem ist er von der Bildfläche verschwunden. Derzeitiger Aufenthalt unbekannt. Außer du weißt was darüber. Ich meine, du musst das nette Gläschen doch irgendwoher haben.«