59
Tarnung
Gurneys Maschine startete planmäßig um 5.05 Uhr in Albany. In Washington erwischte er mit knapper Not den Anschlussflug und landete um 9.55 Uhr am internationalen Flughafen von Palm Beach.
Im dafür vorgesehenen Abholbereich wartete zwischen einem Dutzend anderer Chauffeure einer mit einem Schild, auf dem Gurneys Name stand.
Es war ein junger Lateinamerikaner mit hohen Wangenknochen, tintenschwarzem Haar und einem Diamantknopf im Ohr. Zunächst wirkte er verblüfft, ja sogar verärgert über das Fehlen von Gepäck – bis ihm Gurney die Adresse ihres ersten Stopps nannte: das Giacomo Emporium an der Worth Avenue. Da hellte sich seine Miene auf. Vielleicht überlegte er sich, dass jemand, der aus Bequemlichkeit mit wenig Gepäck reiste und sich alles Nötige bei Giacomo besorgte, bestimmt großzügig Trinkgelder verteilte.
»Der Wagen steht gleich draußen, Sir.« Sein Akzent war vermutlich mittelamerikanisch. »Nettes Modell.«
Eine automatische Drehtür versetzte sie aus dem flughafentypisch kontrollierten, jahreszeitenunabhängigen Innenklima in ein tropisches Dampfbad. Gurney wurde daran erinnert, dass Südflorida im September nichts Herbstliches an sich hat.
»Da drüben, Sir.« Das Lächeln des Chauffeurs entblößte die für sein Alter erstaunlich schlechten Zähne. »Der erste.«
Wie es Gurney in seinem nächtlichen Anruf bestellt hatte, handelte es sich um einen Mercedes S 600, ein Fahrzeug, wie man es in Walnut Crossing vielleicht einmal im Jahr zu Gesicht bekam. In Palm Beach war es so normal wie Sonnenbrillen für fünfhundert Dollar. Gurney ließ sich auf den Rücksitz gleiten und wurde von einem stillen, feuchtigkeitsreduzierten Kokon aus weichem Leder, Teppich und getöntem Glas umfangen.
Der Chauffeur machte für ihn die Tür zu und setzte sich ans Steuer. Geräuschlos glitten sie in den Strom aus Taxis und Shuttlebussen.
»Temperatur okay?«
»Fein.«
»Möchten Sie Musik?«
»Nein, danke.«
Schniefend und hustend bremste der Fahrer ab, als der Wagen durch eine teichgroße Pfütze rollte. »Hat gegossen wie aus Kübeln.«
Gurney antwortete nicht. Er neigte von Haus aus nicht zur Konversation um der Konversation willen, und in Gesellschaft von Fremden schwieg er lieber. Kein Wort wurde mehr gesprochen, bis die Limousine vor dem noblen Einkaufszentrum hielt, wo das Giacomo Emporium lag.
Der Chauffeur suchte im Rückspiegel seinen Blick. »Wissen Sie, wie lang Sie hierbleiben?«
»Nicht lang«, erwiderte Gurney. »Höchstens fünfzehn Minuten.«
»Dann warte ich hier. Falls die Cops das verbieten, kreise ich.« Mit einer entsprechenden Bewegung des Zeigefingers unterstrich er sein Vorhaben. »Ich fahre so lange um den Block, bis ich Sie sehe. In Ordnung?«
»In Ordnung.«
Der Schock von der heißen, feuchten Atmosphäre wurde noch verstärkt durch das grelle Licht der Vormittagssonne, das ihn nach dem gedämpften Halbdunkel im Auto traf wie ein Schlag vor die Stirn. Der Platz war mit Palmen, Farnen in Beeten und asiatischen Lilien in Töpfen gestaltet. Es roch nach gekochten Blumen.
Gurney eilte in den Laden, wo es eher nach Geld als nach Blumen roch. Blonde Kundinnen zwischen dreißig und sechzig schwebten durch die sorgfältig inszenierten Auslagen mit Kleidern und Accessoires. Die Verkäufer und Verkäuferinnen waren zwischen zwanzig und dreißig und sahen aus, als wollten sie den anorektischen Models aus der Giacomo-Werbung nacheifern.
Gurney konnte dieses schicke Ambiente nicht länger als unbedingt nötig ertragen, und so stand er schon nach zehn Minuten wieder auf der Straße. Noch nie hatte er so viel für so wenig ausgegeben: haarsträubende 1.879,42 Dollar für eine Jeans, ein Paar Mokassins, ein Polohemd und eine Sonnenbrille – alles ausgewählt mit Hilfe eines gertenschlanken Burschen, der den modischen Ennui eines frisch gebissenen Vampiropfers ausstrahlte.
In einer Umkleidekabine hatte Gurney seine ramponierte Jeans, T-Shirt, Turnschuhe und Socken ausgezogen und die exklusiven neuen Sachen übergestreift. Die Preisschilder reichte er dem Verkäufer zusammen mit seinen Klamotten und bat darum, diese in eine Giacomoschachtel zu packen.
Zum ersten Mal setzte der Verkäufer ein kleines Lächeln auf. »Sie sind der reinste Transformer.« Wahrscheinlich bezog sich seine Bemerkung auf das beliebte Spielzeug, das sich nach Belieben umgestalten ließ.
Der Mercedes wartete auf ihn. Gurney stieg ein und nannte dem Chauffeur nach einem Blick in seinen Führer die nächste, gut einen Kilometer entfernte Adresse.
Nails Delicato war ein kleines Etablissement. Die vier dramatisch frisierten Nagelstylistinnen schienen sich auf dem schmalen Grat zwischen topmodischen Models und Edelnutten zu bewegen. Niemand schien sich dafür zu interessieren, dass Gurney der einzige männliche Kunde war. Die Maniküristin, der er zugeteilt wurde, wirkte schläfrig. Abgesehen davon, dass sie sich mehrmals für ihr Gähnen entschuldigte, äußerte sie sich erst, als sie am Ende des Vorgangs Klarlack auftrug.
»Sie haben schöne Hände. Sie sollten sich besser drum kümmern.« Ihre Stimme war zugleich jung und müde und passte zu der traurigen Sachlichkeit in ihren Augen.
Auf dem Weg hinaus kaufte er eine kleine Dose Haargel aus einem Gestell mit Cremes und Kosmetik auf dem Tresen. Er schraubte die Dose auf, tupfte sich etwas Gel in die Hände und rieb es sich ins Haar, um den derzeit so populären Effekt leichter Zerzaustheit zu erzielen.
»Was meinen Sie?«, fragte er die desinteressierte schöne Kassiererin.
Die Frage belebte sie auf ungeahnte Weise. Nach mehrmaligem Blinzeln, als wäre sie aus einem Traum gerissen worden, kam sie nach vorn und musterte sein Gesicht aus verschiedenen Richtungen. »Darf ich?«
»Nur zu.«
Mit unregelmäßigen Zickzackbewegungen fuhr sie ihm durchs Haar, schnippte es hin und her und zog einzelne Strähnen nach oben, um sie stachliger zu machen. Nach ein, zwei Minuten trat sie zurück, ein erfreutes Funkeln in den Augen.
»Das ist es!«, verkündete sie. »Das sind Sie wirklich!«
Er musste lachen, was sie anscheinend verwirrte. Immer noch lachend nahm er ihre Hand und drückte, einer plötzlichen Regung folgend, einen Kuss darauf. Auch das schien sie zu verwirren, allerdings auf angenehmere Weise. Dann schlenderte er hinaus in das Dampfbad Floridas. Wieder im Mercedes gab er dem Chauffeur die Adresse von Darryl Beckers Studio.
»Wir müssen in West Palm zwei Leute abholen«, erklärte er. »Danach besuchen wir jemanden am South Ocean Boulevard.«