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Planen
So angespannt seine Beziehung zu Madeleine manchmal war, für Gurney war sie immer die tragende Säule für seine innere Stabilität gewesen. Doch diese Beziehung beruhte auf einem Grad von Offenheit, zu dem er sich im Augenblick nicht fähig fühlte.
Mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden klammerte er sich an seine einzige andere Säule, seine Identität als Kriminalermittler, und versuchte, all seine Energie auf die Lösung des Falls zu konzentrieren.
Der nächste Schritt war nach seiner Überzeugung eine Unterhaltung mit Jordan Ballston. Er musste sich irgendwie dieses Gespräch erzwingen. Rebecca hatte ihm eingeschärft, dass Angst die Waffe war, um den Panzer dieses reichen Psychopathen zu durchbrechen, und auch Gurney sah darin den besten Ansatz. Allerdings hatte er noch ihre Warnung im Ohr, dass so etwas kein Kinderspiel war.
Angst.
Ein Thema, mit dem Gurney gerade im Augenblick auf bedrängende Weise vertraut war. Vielleicht konnte er aus dieser Erfahrung Kapital schlagen. Was genau jagte ihm selbst denn solche Angst ein? Er suchte die drei beunruhigenden SMS und las sie sorgfältig durch.
»Diese Leidenschaft! Diese Geheimnisse! Diese herrlichen Fotos!«
»Denken Sie noch an meine Mädchen? Die zwei denken fest an Sie.«
»Sie sind so ein interessanter Mann, ich hätte wissen müssen, dass meine Töchter Sie anbeten werden. Sehr freundlich von Ihnen, in die Stadt zu kommen. Nächstes Mal werden sie Sie besuchen. Wann? Wer weiß? Sie wollen, dass es eine Überraschung wird.«
Die Worte lösten ein hohles, nagendes Gefühl in seiner Brust aus.
Hinterhältige Drohungen, in nichtssagende Banalitäten gekleidet.
Unspezifisch, aber bösartig.
Unspezifisch. Ja, das war es. Er dachte daran, wie sein Englischlehrer die emotionale Kraft von Harold Pinter erklärt hatte: Den größten Schrecken verbreiten nicht die ausgesprochenen, sondern die von unserer Vorstellung heraufbeschworenen Gefahren. Nicht die langen Tiraden eines Wütenden jagen uns einen Schauer über den Rücken, sondern das Unheilvolle einer gelassenen Stimme.
Diese Bemerkung war ihm im Gedächtnis geblieben, weil sie ihm sofort eingeleuchtet hatte und von der Erfahrung im Lauf der Jahre vielfach bestätigt worden war. Was wir uns ausmalen, ist immer schlimmer als das, womit uns die Realität konfrontiert. Vor nichts fürchten wir uns so sehr wie vor den im Dunkel lauernden Hirngespinsten.
Wenn er Ballston in Panik versetzen wollte, war es wohl am besten, ihm eine Gelegenheit dazu zu geben, ganz allein. Einen Frontalangriff würde er locker mit seinem Heer von Juristen zurückschlagen. Gurney musste den Hintereingang in die Festung nehmen.
Ballstons aktuelle Verteidigungsstrategie war die Behauptung, nichts von Melanie Strum zu wissen, ob tot oder lebendig, zusammen mit der Einführung einer weiteren Hypothese, die sich auf den Zugang anderer Leute zu seinem Haus bezog, um die Leiche in der Gefriertruhe zu erklären. Diese Strategie würde auf verheerende Weise zusammenbrechen, wenn eine zeitlich frühere Verbindung zwischen ihm und der jungen Frau nachgewiesen werden konnte. Im günstigsten Fall würde diese Verbindung auch zeigen, wie die Morde an Melanie Strum, Jillian Perry und Kiki Muller, wie auch das Verschwinden der anderen Mapleshade-Absolventinnen zusammenhingen. Doch auch unabhängig davon war sich Gurney sicher, dass die Klärung von Melanies Weg bis zu Ballstons Keller einen Riesenschritt in Richtung der endgültigen Lösung bedeuten würde. Und bestimmt hatte Ballston vor nichts so große Angst wie vor der Aufdeckung dieser Verbindung.
Die Frage war, wie man diese Angst auslösen konnte, um sie als Eintrittskarte zu Ballstons Psyche zu benutzen und dabei die Befestigungsanlagen seiner Anwälte zu umgehen. Gab es Personen, Orte oder Dinge, deren Erwähnung die Tür aufstoßen würde? Mapleshade? Jillian Perry? Kiki Muller? Hector Flores? Edward Vallory? Alessandro? Karnala Fashion? Giotto Skard?
Und wenn schon die Auswahl des richtigen Zauberwortes schwerfiel, so war es noch viel schwerer, den anschließenden Dialog zu gestalten – mit der pinteresken Kunst des Andeutens ohne genaue Angaben, des Zermürbens ohne Nennung von Einzelheiten. Die Herausforderung bestand darin, den dunklen Hintergrund zu schaffen, vor dem sich Ballston das Schlimmste vorstellen konnte.
Inzwischen war Madeleine schon zu Bett gegangen. Gurney hingegen war hellwach und lief wie ein Panther in der Küche auf und ab. Der Kopf schwirrte ihm vor Möglichkeiten, Risiken, Strategien. Nach und nach grenzte er die Zahl der potenziellen Türöffner auf die drei verheißungsvollsten ein: Mapleshade, Flores, Karnala.
Von diesen setzte er zuletzt Karnala mit einem Millimeter Vorsprung an die erste Stelle. Alle vermissten Mapleshade-Schülerinnen waren in annähernd pornografischen Anzeigen von Karnala Fashion erschienen, Karnala arbeitete offenbar nur zum Schein in der Modebranche, Karnala stand in Verbindung mit den Skards, die womöglich ein kriminelles Seximperium betrieben, und der Mord an Melanie Strum war ein Sexualverbrechen. Nahm man Edward Vallorys Prolog und die Aufnahmeprinzipien von Mapleshade hinzu, so zeigte sich, dass es in dem Fall ausschließlich um Sexualverbrechen und deren Folgen ging.
Gurney war sich bewusst, dass die logische Verknüpfung mit Karnala alles andere als vollkommen war, aber die Forderung nach vollkommener Logik führte nie zu Lösungen, sondern nur zur Lähmung. Seiner Erfahrung nach lautete die entscheidende Frage in der Polizeiarbeit wie auch im Leben nicht: »Bin ich mir meiner Sache absolut sicher?« Stattdessen zählte nur die Frage: »Bin ich mir so sicher, dass ich handeln kann?«
Und in diesem Fall lautete Gurneys Antwort Ja. Er war überzeugt davon, Jordan Ballston mit dem Stichwort Karnala aus der Fassung bringen zu können. Auf der alten Wanduhr über der Anrichte war es kurz nach zehn, als er bei der Polizei von Palm Beach anrief.
Niemand, der an dem Fall Strum arbeitete, war anwesend, doch der diensthabende Beamte gab Gurney Darryl Beckers Handynummer.
Erstaunlicherweise meldete sich Becker schon nach dem ersten Klingeln.
Gurney erklärte ihm sein Anliegen.
»Ballston redet mit niemandem«, antwortete Becker gereizt. »Die gesamte Kommunikation läuft über die Anwaltskanzlei Markham, Mull & Sternberg. Das habe ich doch klargestellt.«
»Vielleicht habe ich einen Ansatz, um zu ihm durchzudringen.«
»Wie soll das gehen?«
»Ich werfe ihm eine Bombe durchs Fenster.«
»Was für eine Bombe?«
»Eine, über die er reden will.«
»Ist das ein Spiel, Gurney? Ich hab einen schweren Tag hinter mir. Ich möchte Fakten.«
»Sind Sie da so sicher?« Als Becker schwieg, fuhr Gurney fort. »Hören Sie, wenn ich diesen Drecksack aus dem Gleichgewicht bringen kann, ist das ein Vorteil für alle. Und im schlimmsten Fall bleibt eben alles beim Alten. Sie geben mir nur eine Telefonnummer, keine offizielle Vollmacht, etwas zu tun. Wenn es zu Konsequenzen kommt, was ich nicht glaube, dann auf keinen Fall für Sie. Ich habe schon im Voraus vergessen, woher ich die Nummer hatte.«
Nach kurzem Schweigen klackten Tasten, und Becker las eine Nummer vor, die mit einer Vorwahl von Palm Beach begann. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
In den nächsten Minuten versetzte sich Gurney in eine einfache Variante der vielschichtigen Rolle, zu der er in seinen Akademieseminaren über verdeckte Ermittlungen immer riet. Er wurde zum eiskalten Reptil, das unter einem dünnen Lack zivilisierter Manieren lauerte.
Sobald er mit Haltung und Ton zufrieden war, aktivierte er die Rufnummernunterdrückung seines Handys und wählte Ballstons Anschluss. Er wurde sofort zur Mailbox weitergeleitet.
Eine verzogene, herrische Stimme verkündete: »Hier ist Jordan. Wenn Sie eine Antwort wollen, hinterlassen Sie bitte eine aussagekräftige Nachricht zum Thema Ihres Anrufs.« Die grelle Herablassung seines »bitte« stellte die Bedeutung des Wortes auf den Kopf.
Gurney sprach bedächtig und ein wenig unbeholfen, als hätte er Mühe mit den Feinheiten einer höflichen Ausdrucksweise. Außerdem fügte er den Hauch eines südeuropäischen Akzents hinzu. »Das Thema meines Anrufs ist Ihre Beziehung zu Karnala Fashion, über die ich möglichst bald mit Ihnen reden muss. Ich melde mich in ungefähr einer halben Stunde noch mal. Bitte halten Sie sich bereit, dann kann ich Ihnen … aussagekräftigere Einzelheiten nennen.«
Gurneys Strategie setzte gleich mehrere Annahmen voraus: dass Ballston zu Hause war, wie es seine Kautionsabmachung vorschrieb; dass jemand in seiner prekären Situation wie besessen seine Anrufe und Nachrichten überprüfte; dass seine Herangehensweise das Telefonat in einer halben Stunde die Art seines Verhältnisses zu Karnala verraten würde.
Schon eine dieser Annahmen vorauszusetzen war riskant. Drei vorauszusetzen war Wahnsinn.