35
Eine Tonne mehr
Das Bezirksamt hatte eine ungewöhnliche Geschichte. Vor 1935 war es als Bumblebee-Nervenheilanstalt bekannt gewesen – benannt nach dem exzentrischen britischen Einwanderer Sir George Bumblebee, der ihr mit dem Vermächtnis seines ganzen Vermögens zur Gründung verholfen hatte und der, wie seine enterbten Verwandten argumentierten, genauso verrückt war wie ihre künftigen Bewohner. Diese Geschichte bot endlosen Stoff für Witze über die Arbeitsweise der Behörden, die in dem Gebäude untergebracht waren, seit es während der großen Depression an die Gemeinde gefallen war.
Wie ein mächtiger Briefbeschwerer hielt der dunkle Backsteinbau die Nordseite des Stadtplatzes besetzt. Das dringend benötigte Sandstrahlen zur Beseitigung der ein Jahrhundert alten Schmutzschicht wurde wegen einer dauerhaften Haushaltskrise Jahr für Jahr aufgeschoben. In den Sechzigerjahren war das Haus entkernt und modernisiert worden. Gesprungene Kronleuchter und verzogene Eichentäfelung wurden durch Neonröhren und Gipskarton ersetzt. An den ausgeklügelten Sicherheitsvorkehrungen in der Halle, die Gurney von seinen Besuchen im Zuge des Falls Mellery noch gut in Erinnerung hatte, hatte sich nichts geändert. Nach dieser langwierigen Prozedur öffnete er eine Milchglastür, auf der in eleganten schwarzen Lettern das Wort BEZIRKSSTAATSANWALT stand.
Am Empfangsschreibtisch erkannte er eine alte Bekannte im Kaschmirpullover: Ellen Rackoff, die äußerst erotische, aber alles andere als junge Chefsekretärin des Bezirksstaatsanwalts. Ihr Blick war faszinierend kühl und erfahren.
»Sie haben Verspätung«, schnurrte sie mit Kaschmirstimme. Die Tatsache, dass sie ihn nicht nach seinem Namen fragte, war der einzige Hinweis darauf, dass sie sich von letztem Jahr noch an ihn erinnerte. »Kommen Sie.« Sie führte ihn wieder hinaus durch die Glastür zu einer Tür mit einem schwarzen Plastikschild darauf: KONFERENZRAUM.
»Viel Glück.«
Er öffnete die Tür und glaubte kurz, dass er zur falschen Besprechung erschienen war. In dem Zimmer befanden sich mehrere Leute, allerdings fehlte Sheridan Kline, den er auf jeden Fall erwartet hatte. Aber er war wohl doch richtig, denn von der entgegengesetzten Seite des großen runden Tischs, der den fensterlosen Raum zur Hälfte füllte, starrte ihn Captain Rodriguez giftig an.
Rodriguez war ein kleiner, beleibter Mann mit verschlossenem Gesicht und einem sorgfältig frisierten und sichtbar gefärbten schwarzen Haarschopf. Sein blauer Anzug war makellos, das Hemd weißer als weiß, die Krawatte blutrot. Eine Brille mit dünner Stahlfassung betonte den dunklen, verbitterten Blick. Links von ihm saß Arlo Blatt, der Gurney aus kleinen Augen unfreundlich fixierte. Der farblose Mann rechts von Rodriguez ließ keinerlei Emotionen erkennen, er wirkte nur leicht depressiv, was aber wohl eher angeboren als situationsbedingt war. Nachdem er Gurney kurz in polizeitypischer Manier von oben bis unten gemustert hatte, schaute er gähnend auf die Uhr. Gegenüber von diesem Trio lehnte mindestens einen Meter vom Tisch entfernt Jack Hardwick auf einem Stuhl, die Augen geschlossen und die Arme verschränkt, als hätte ihn die Anwesenheit der anderen in Tiefschlaf versetzt.
»Hallo, Dave.« Die Stimme war stark, klar und vertraut. Sie kam von einer Frau mit kastanienbraunem Haar, die in der hinteren Ecke stand und erstaunliche Ähnlichkeit mit der jungen Sigourney Weaver hatte.
»Rebecca! Ich wusste nicht, dass … dass Sie …«
»Ich auch nicht. Sheridan hat mich heute Morgen angerufen und gefragt, ob ich es einrichten kann. Es hat sich so ergeben, also bin ich hier. Kaffee?«
»Gern.«
»Schwarz?«
»Klar.« Er trank ihn lieber mit Milch und Zucker, aber er wollte ihr nicht zu verstehen geben, dass sie sich getäuscht hatte.
Rebecca Holdenfield war eine angesehene Serienmordprofilerin, die Gurney – trotz seiner Zweifel an Profilern im Allgemeinen – während der gemeinsamen Arbeit am Fall Mellery kennen und schätzen gelernt hatte. Er fragte sich, wie er ihre Anwesenheit heute deuten sollte.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Bezirksstaatsanwalt schritt herein. Wie immer strahlte Sheridan Kline funkelnde Energie aus. Wie die Taschenlampe eines Einbrechers huschte sein Blick durchs Zimmer und hatte blitzschnell alles registriert. »Becca! Danke, dass Sie die Zeit gefunden haben. Dave! Detective Dave, der Bewegung in die Sache gebracht hat! Der Grund, warum wir alle hier sind. Und Rod!« Strahlend grinste er Rodriguez in dessen saures Gesicht. »Freut mich, dass Sie es so kurzfristig geschafft haben und Ihre Leute mitgebracht haben.« Das Desinteresse, mit dem er den Blick über Rods Begleiter wandern ließ, strafte seine Worte Lügen. Kline hatte gern Publikum, aber es musste sich aus Leuten zusammensetzen, die zählten.
Holdenfield trat mit zwei Tassen Kaffee an den Tisch, reichte eine davon Gurney und ließ sich neben ihm nieder.
»Senior Investigator Hardwick arbeitet zurzeit nicht an dem Fall«, fuhr Kline fort, ohne jemanden Bestimmtes anzusprechen, »aber er war am Anfang beteiligt, und ich hielt es für das Beste, alle relevanten Personen zusammenzubringen.«
Auch das eine offensichtliche Lüge, wie Gurney fand. Kline hielt es höchstens für »das Beste«, Katzen und Hunde zusammenzuwerfen und zu beobachten, was passierte. Sein Ansatz zur Wahrheitsfindung und zur Motivierung von Mitarbeitern bestand darin, sie aufeinanderzuhetzen – je feindseliger, desto besser. Entsprechend geladen war die Stimmung im Raum, was wohl Klines Energiepegel erklärte, der sich inzwischen dem satten Summen eines Hochspannungs-Transformators näherte.
»Rod, während ich mir einen Kaffee hole, könnten Sie doch schon mal die Vorgehensweise des BCI in dem Fall erläutern. Wir sind hier, um zuzuhören und zu lernen.«
Gurney glaubte ein Ächzen von Hardwick zu vernehmen, der sich auf seinem Stuhl fläzte.
»Ich fasse mich kurz«, begann der Captain. »Was den Mord an Jillian Perry betrifft, wissen wir, was getan wurde, wann es getan wurde und wie es getan wurde. Außerdem kennen wir den Täter und haben unsere Anstrengungen darauf konzentriert, ihn aufzuspüren und zu fassen. Zu diesem Zweck haben wir eine der größten Fahndungen in der Geschichte des Bureaus auf die Beine gestellt. Sie ist umfassend und gewissenhaft und läuft noch.«
Erneut kam ein gedämpfter Laut aus Hardwicks Richtung.
Der Captain hatte die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, die linke Faust war in der rechten Hand vergraben. Er warf Hardwick einen warnenden Blick zu. »Bisher haben wir über dreihundert Vernehmungen durchgeführt und sind dabei, den Radius unserer Nachforschungen auszudehnen. Bill – Lieutenant Anderson – und Arlo hier sind für die Überwachung der täglichen Fortschritte zuständig.«
Kline kam mit dem Kaffee an den Tisch, blieb aber stehen. »Vielleicht könnte uns Bill einen Eindruck von der aktuellen Situation geben. Welche Erkenntnisse liegen uns heute vor, die uns, sagen wir, eine Woche nach der Enthauptung noch nicht vorlagen?«
Lieutenant Anderson räusperte sich. »Die uns nicht vorlagen? Nun, auf jeden Fall haben wir viele Möglichkeiten eliminiert.« Als er den auf sich gerichteten Blicken entnehmen musste, dass das keine ausreichende Antwort war, räusperte er sich erneut. »Viele Dinge hätten passiert sein können, von denen wir jetzt wissen, dass sie nicht passiert sind. Wir haben viele Möglichkeiten ausgeschlossen und ein klareres Bild des Verdächtigen entwickelt. Ein Irrer, wie er im Buche steht.«
»Welche Möglichkeiten haben Sie ausgeschlossen?«, hakte Kline nach.
»Zum Beispiel wissen wir, dass niemand Flores beim Verlassen der Gegend von Tambury beobachtet hat. Kein Taxifahrer, keine Leihwagenfirma und kein Busfahrer kann sich an jemand wie ihn erinnern. Wir haben überhaupt niemanden gefunden, der ihn nach dem Mord gesehen hat.«
Kline blinzelte verwirrt. »Okay, aber ich verstehe nicht …«
Ausdruckslos fuhr Anderson fort. »Manchmal ist das, was wir nicht finden, genauso wichtig wie das, was wir finden. Wie die Laboranalysen zeigen, hat Flores das Cottage so gründlich gesäubert, dass kein Spurenmaterial mehr übrig war außer dem des Opfers. Er hat sich unglaubliche Mühe gegeben, alles wegzuputzen, was mit analysierbarer DNA hätte behaftet sein können. Selbst die Siphons unter den Becken im Bad und in der Küche wurden abgeschrubbt. Obendrein haben wir jeden erreichbaren lateinamerikanischen Tagelöhner in einem Umkreis von siebzig Kilometern um Tambury befragt, und kein Einziger konnte oder wollte uns etwas über Flores sagen. Ohne Fingerabdrücke, DNA und Datum des Grenzübertritts kann uns auch die Einreisebehörde nicht weiterhelfen. Das gilt auch für die zuständigen Stellen in Mexiko. Selbst das Phantombild mit dem auffällig fehlenden rechten Ohrläppchen hat uns nicht weitergebracht. Jeder Befragte hat gemeint, dass es aussieht wie jemand, den er kennt, aber keine zwei Leute haben dieselbe Person identifiziert. Was Kiki Muller angeht, die Nachbarin, die mit Flores verschwunden ist, so hat sie nach dem Mord ebenfalls niemand mehr gesehen.«
Kline wirkte gereizt. »Klingt, als hätten die Ermittlungen zu nichts geführt.«
Anderson warf Rodriguez einen Blick zu. Der Captain starrte seine Faust an.
Zum ersten Mal meldete sich Blatt zu Wort. »Alles nur eine Frage der Zeit.«
Alle schauten ihn an.
»Wir haben Leute in dieser Gruppierung, die Augen und Ohren offenhalten. Irgendwann taucht Flores auf und reißt die Klappe zu weit auf. Dann schnappen wir ihn uns.«
Hardwick inspizierte seine Fingernägel wie verdächtige Wucherungen. »Was für eine Gruppierung soll das sein, Arlo?«
»Illegale Einwanderer, was sonst?«
»Angenommen, er ist kein Mexikaner.«
»Dann ist er eben aus Guatemala, aus Nicaragua oder sonst woher. Wir haben unsere Leute in allen einschlägigen Gruppen. Irgendwann …« Er zuckte die Achseln.
Klines Antennen witterten den Konflikt. »Worauf wollen Sie hinaus, Jack?«
Rodriguez ging dazwischen. »Hardwick ist schon eine ganze Weile nicht mehr auf dem Laufenden. Aktuelle Informationen bekommen Sie bei Bill und Arlo.«
Kline ignorierte ihn. »Jack?«
Hardwick lächelte. »Fragen Sie doch einfach mal den Star-Detective Gurney. Er hat in den letzten vier Tagen eine Tonne mehr rausgefunden als wir in vier Monaten.«
Bei Kline stieg die elektrische Spannung. »Dave, was haben Sie für uns?«
»Was ich rausgefunden habe«, begann Gurney behutsam, »sind vor allem Fragen – Fragen, die neue Ermittlungsansätze nahelegen.« Er legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor. »Ein Schlüsselelement, das mehr Beachtung verdient, ist die Vergangenheit des Opfers. Jillian wurde als Kind sexuell missbraucht und wurde selbst zur Missbraucherin kleiner Kinder. Sie war aggressiv, manipulativ und hatte angeblich soziopathische Züge. Die Möglichkeit, dass aus einem derartigen Verhalten ein Rachemotiv entsteht, ist beträchtlich.«
Blatt verzog das Gesicht. »Wollen Sie damit sagen, dass Jillian Perry Hector Flores als Kind missbraucht hat und dass er sie deswegen umgebracht hat? Was für ein Schwachsinn.«
»Dem stimme ich zu. Vor allem da Flores wahrscheinlich mindestens zehn Jahre älter war als Jillian. Aber angenommen, er hat sich für etwas gerächt, was jemand anderem zugefügt wurde. Oder angenommen, er selbst wurde so schlimm und traumatisch missbraucht, dass sein geistiges Gleichgewicht gestört ist und er beschlossen hat, seine Wut an allen Missbrauchern auszulassen. Angenommen, Flores hat von der Mapleshade Academy erfahren, von der besonderen Klientel dort, von Dr. Ashtons Arbeit. Ist es möglich, dass er an Ashtons Schwelle aufgetaucht ist, sich für Gelegenheitsarbeiten beworben und eingeschmeichelt hat, um die Gelegenheit zu einer dramatischen Tat abzuwarten?«
Aufgeregt schaltete Kline sich ein. »Was meinen Sie, Becca? Ist so was möglich?«
Ihre Augen wurden größer. »Es ist möglich, ja. Jillian kann aufgrund ihrer Taten gegen jemanden aus Flores’ Bekanntenkreis als spezifisches Racheopfer ausgewählt worden sein oder auch als stellvertretendes Opfer für alle Missbraucher. Haben Sie irgendwelche Beweise, die in eine der beiden Richtungen deuten?«
Kline schaute Gurney an.
»Die dramatischen Details des Mordes – die Enthauptung, die Platzierung des Kopfs, die Wahl des Hochzeitstages – haben etwas Rituelles an sich. Das würde zu einem Rachemotiv passen. Aber wir wissen mit Sicherheit noch nicht genug, um abschätzen zu können, ob sie ein spezifisches oder ein stellvertretendes Opfer war.«
Kline trank seine Tasse leer und ging zur Maschine, um sich nachzuschenken. »Wenn wir diesen Racheansatz ernst nehmen, welche ermittlerischen Maßnahmen würde das erfordern? Dave?«
Zunächst einmal brauchte man nach Gurneys Meinung eine sehr viel ausführlichere Offenlegung von Jillians vergangenen Problemen und Kindheitskontakten. Und er musste erst noch überlegen, wie er ihre Mutter und Simon Kale dazu bewegen konnte. »Innerhalb der nächsten zwei Tage kann ich eine schriftliche Empfehlung dazu aussprechen.«
Kline schien zufrieden. »Na schön. Und was noch? Senior Investigator Hardwick meint, dass Sie tonnenweise neue Erkenntnisse haben.«
»Zu einer ganzen Tonne fehlt es vielleicht ein bisschen, aber eine Sache würde ich ganz oben auf die Liste setzen. Mehrere ehemalige Schülerinnen von Mapleshade sind anscheinend verschwunden.«
Die drei BCI-Beamten schreckten fast gleichzeitig hoch wie von einem lauten Knall.
Gurney fuhr fort. »Sowohl Scott Ashton als auch eine andere Person aus dem Umfeld der Schule haben vergeblich versucht, bestimmte Absolventinnen der Schule zu erreichen.«
»Das heißt doch noch lange nicht …«
Gurney schnitt Lieutenant Anderson das Wort ab. »An sich heißt das nicht viel, aber es gibt eine merkwürdige Ähnlichkeit in allen Fällen. Alle betreffenden Mädchen haben Wort für Wort den gleichen Streit mit ihren Eltern vom Zaun gebrochen: Erst haben sie ein teures Auto von ihnen verlangt, und dann haben sie auf die Weigerung der Eltern hin das Haus verlassen.«
»Um wie viele Mädchen geht es hier?«, fragte Blatt.
»Eine ehemalige Schülerin, die sich mit Klassenkameradinnen in Verbindung setzen wollte, hat mir von zwei Fällen berichtet, in denen die Eltern nicht wussten, wo sich ihre Tochter aufhält. Und Scott Ashton hat von drei weiteren Mädchen erzählt, die nach einem Streit das Elternhaus verlassen haben – in allen drei Fällen drehte sich der Streit wie geschildert um ein Auto.«
Kline schüttelte den Kopf. »Das kapier ich nicht. Was steckt da dahinter? Und was hat das mit der Suche nach Jillian Perrys Mörder zu tun?«
»Über den besagten Streit mit ihren Eltern hinaus hatten die verschwundenen Mädchen zumindest eine Sache miteinander gemein. Sie kannten Flores.«
Anderson wirkte von Minute zu Minute mehr wie ein Mann, der mit einer üblen Magenverstimmung zu kämpfen hatte. »Woher?«
»Flores hat auf dem Gelände der Schule Arbeiten für Ashton erledigt. Und er war anscheinend ein gut aussehender Mann. Einige Schülerinnen wurden auf ihn aufmerksam. Und wie sich herausstellte, sind die, die sich interessiert gezeigt und mit ihm geredet haben, auch die, die verschwunden sind.«
»Sind sie offiziell als vermisst gemeldet?« Bei Anderson schien Hoffnung aufzukeimen angesichts der Möglichkeit, das Problem auf jemand anderen abzuwälzen.
»Keine einzige«, erwiderte Gurney. »Das Problem ist, sie sind alle über achtzehn, können also tun und lassen, was ihnen passt. Sie haben den Wunsch bekundet, das Elternhaus zu verlassen, ihren Aufenthalt geheim zu halten und in Ruhe gelassen zu werden. All diese Punkte stehen im Widerspruch zu den Eingabekriterien von Vermisstendatenbänken.«
Kline marschierte jetzt auf und ab. »Das gibt dem Fall eine neue Wendung. Was meinen Sie, Rod?«
Der Captain schaute grimmig drein. »Ich würde gern erfahren, worauf Gurney eigentlich hinauswill.«
Kline übernahm die Antwort. »Ich glaube, er will darauf hinaus, dass hinter dem Fall Jillian Perry mehr steckt als nur Jillian Perry.«
»Und dass Hector Flores vielleicht mehr ist als ein mexikanischer Gärtner.« Hardwick starrte Rodriguez demonstrativ an. »Ich glaube mich zu erinnern, dass ich diese Möglichkeit vor einiger Zeit erwähnt habe.«
Kline zog die Augenbrauen hoch. »Wann?«
»Als ich noch an dem Fall gearbeitet habe. Mir kam diese Flores-Geschichte von Anfang an komisch vor.«
Hätte Rodriguez die Kiefer noch fester zusammengebissen, wären seine Zähne zu Staub zerfallen.
»Inwiefern komisch?«, fragte Kline.
»Komisch in dem Sinn, dass es einfach zu sauber klang.«
Gurney war klar, dass Rodriguez Hardwicks Genugtuung wie einen Eispickel zwischen den Rippen spüren musste – ganz abgesehen von dem heiklen Punkt, dass hier eine interne Meinungsverschiedenheit vor dem Bezirksstaatsanwalt ausgetragen wurde.
»Und das heißt?«
»Einfach zu glatt. Der analphabetische Tagelöhner, von dem arroganten Doktor zu schnell gefördert, zu viel Bildung auf einmal, Affäre mit einer Nachbarin, vielleicht sogar eine Affäre mit Jillian Perry, gefühlsmäßige Überforderung, kann dem Druck nicht standhalten, Zusammenbruch. Hört sich doch an wie eine Seifenoper, wie kompletter Schwachsinn.« Er starrte Rodriguez so unverwandt an, dass kein Zweifel daran bestehen konnte, gegen wessen Szenario er hier wetterte.
Nach seinen Erfahrungen mit Kline im Vorjahr war sich Gurney sicher, dass dieser Mann, der nach außen hin nachdenklich wirkte, die Konfrontation in vollen Zügen genoss.
Hardwick setzte sich wieder zurück. »Es ist leicht zu sagen, was hier logisch nicht passt. Wichtiger wäre die Frage, was logisch passt. Wenn man die bekannten Fakten zusammennimmt, wirkt das Verhalten von Flores völlig sinnlos.«
Kline wandte sich an Gurney. »Sehen Sie das auch so?«
Gurney holte tief Luft. »Einige Fakten wirken widersprüchlich. Aber Fakten können einander nicht widersprechen. Das heißt, ein großer Teil des Puzzles fehlt noch, der Teil, mit dem auch alle anderen einen Sinn ergeben. Ich erwarte keine einfache Lösung. Wie Jack einmal gesagt hat, in diesem Fall gibt es definitiv verborgene Schichten.« Kurz beschlich ihn die Sorge, er könnte mit dieser Bemerkung verraten haben, dass Hardwick ihn an Val Perry vermittelt hatte, aber niemand griff sie auf. Blatt sah aus wie eine Ratte, die vergeblich herumschnüffelt, um einen Geruch in der Luft zu identifizieren, allerdings änderte das wenig an seinem normalen Erscheinungsbild.
Kline nippte gedankenvoll an seinem Kaffee. »Welche Fakten stören Sie?«
»Zunächst Flores’ schneller Aufstieg vom Laubharker zum Hausverwalter.«
»Sie meinen, Ashton lügt?«
»Vielleicht macht er sich selbst was vor. Er erklärt es sich mit einer Art Wunschdenken, mit dem er das Konzept eines neuen Buches stützen wollte.«
»Becca, können Sie damit was anfangen?«
Ihr Lächeln glich einem Achselzucken. »Man soll nie die Kraft der Selbsttäuschung unterschätzen, vor allem bei jemandem, der etwas beweisen will.«
Kline nickte abgeklärt und wandte sich wieder an Gurney. »Sie meinen also, dass Flores sich verstellt hat?«
»Dass er aus irgendeinem Grund eine Rolle gespielt hat, ja.«
»Was stört Sie sonst noch?«
»Das Motiv. Wenn Flores nach Tambury gekommen ist, um Jillian zu töten, warum hat er dann so lange damit gewartet? Und wenn er aus einem anderen Grund gekommen ist, was war es dann für einer?«
»Interessante Fragen. Weiter.«
»Die Enthauptung wirkt methodisch und gut geplant, aber zugleich spontan und situationsbedingt.«
»Da kann ich nicht ganz folgen.«
»Die Anordnung der Leiche war präzise. Das Cottage ist kurz davor, vielleicht erst am Morgen gründlich gereinigt worden, um alle Spuren des Mannes zu beseitigen, der dort gelebt hat. Die Fluchtroute wurde geplant, und es wurde auf noch ungeklärte Weise die Geruchsspur gelegt, die die Hundestaffel in die Irre geführt hat. Egal, wie Flores die Flucht gelungen ist, sie war sorgfältig vorbereitet. Das Ganze kommt mir vor wie etwas aus Mission Impossible, das ein bis auf den Sekundenbruchteil genaues Timing erfordert. Aber die tatsächlichen Umstände widersprechen jedem Versuch von Planung oder gar Timing.«
Neugierig schob Kline den Kopf vor. »Inwiefern?«
»Das Video lässt darauf schließen, dass Jillian ihren Besuch im Cottage aus einer Laune heraus gemacht hat. Kurz vor dem programmgemäßen Hochzeitstoast hat sie Ashton wissen lassen, dass sie Hector zur Teilnahme überreden will. Meiner Erinnerung nach hat Ashton dem Polizeichef Luntz und seiner Frau von Jillians Absicht erzählt. Niemand schien begeistert von der Idee, aber ich habe den Eindruck, dass Jillian sowieso immer ihren Kopf durchgesetzt hat. Einerseits haben wir also einen akribisch geplanten Mord, der von perfektem Timing abhängt, andererseits Umstände, die sich der Kontrolle des Mörders völlig entziehen. Irgendwas stimmt nicht an diesem Szenario.«
»Nicht unbedingt.« Blatts Nase zuckte. »Flores kann alles im Voraus eingerichtet haben, er hatte alles so weit fertig und hat dann auf seine Gelegenheit gewartet wie eine Schlange im Loch. Hat darauf gewartet, dass das Opfer vorbeikommt, und dann … Bamm!«
Gurney schaute skeptisch drein. »Aber Arlo, das hieße, Flores macht das Cottage vollkommen sauber, bis es praktisch steril ist, er bereitet sich und seinen Fluchtweg vor, zieht sich an, wie er es vorhat, hat alles zur Hand, was er mitnehmen will, hat auch Kiki Muller angewiesen, auf ihn zu warten, und dann … dann, was? Sitzt er mit der Machete in der Hand im Cottage und hofft darauf, dass Jillian vorbeischaut, um ihn zum Empfang einzuladen?«
»Sie drehen es so blöd hin, wie wenn es völlig unmöglich wäre.« In Blatts Augen blitzte der Hass. »Aber ich glaube, dass es genau so gelaufen ist.«
Anderson schürzte die Lippen. Rodriguez kniff die Augen zusammen. Keiner der beiden traf Anstalten, ihren Kollegen zu unterstützen.
Kline brach das gespannte Schweigen. »Noch was?«
»Na ja«, meinte Gurney. »Wesentlich ist jetzt vor allem die Sache mit den vermissten Absolventinnen.«
»Die noch nicht mal stimmen muss«, warf Blatt ein. »Vielleicht wollen sie einfach nicht gefunden werden. Diese Mädchen haben nicht unbedingt eine stabile Persönlichkeit. Und selbst wenn sie wirklich verschwunden sind, gibt es keinen Beweis für einen Zusammenhang mit dem Fall Perry.«
Wieder entstand eine Stille, bis sich Hardwick zu Wort meldete. »Arlo könnte recht haben. Aber wenn sie verschwunden sind und ein Zusammenhang vorliegt, dann müssen wir damit rechnen, dass sie inzwischen alle tot sind.«
Niemand sprach ein Wort. Es war allgemein bekannt: Wenn junge Frauen unter verdächtigen Umständen verschwanden und nichts mehr von sich hören ließen, standen die Chancen nicht gut, dass sie heil wiederkehrten. Und die Tatsache, dass die betreffenden Mädchen vor ihrem Verschwinden alle den gleichen merkwürdigen Streit vom Zaun gebrochen hatten, konnte durchaus als verdächtig gelten.
Rodriguez wirkte gequält und zornig und schien kurz davor, einen Einwand zu erheben. Doch ehe er etwas vorbringen konnte, klingelte Gurneys Handy. Als er den Namen auf dem Display las, meldete er sich.
Es war Scott Ashton. »Seit unserem letzten Gespräch habe ich sechs Anrufe gemacht und in zwei Fällen jemanden erreicht. Ich werde weiter telefonieren, aber … ich wollte Ihnen mitteilen, dass beide Mädchen, mit deren Verwandten ich reden konnte, die Familie nach dem gleichen haarsträubenden Streit verlassen haben. Eine wollte einen Suzuki für zwanzigtausend, die andere einen Mustang für fünfunddreißigtausend Dollar. Die Eltern haben abgelehnt. Beide Mädchen haben nicht verraten, wo sie hinwollten, und haben sich alle Kontaktversuche verbeten. Ich habe keine Ahnung, was das Ganze zu bedeuten hat, aber offensichtlich spielt sich da etwas Seltsames ab. Und es gibt noch ein beunruhigendes Zusammentreffen. Sie haben beide für Anzeigen von Karnala Fashion posiert.«
»Wie lang sind sie schon verschwunden?«
»Die eine seit sechs Monaten, die andere seit neun Monaten.«
»Sagen Sie mir eins, Doktor. Sind Sie jetzt bereit, Namen herauszugeben, oder müssen wir uns mit einer gerichtlichen Anordnung Einblick in Ihre Unterlagen verschaffen?«
Alle Blicke im Zimmer richteten sich auf Gurney. Kline schien die wenige Zentimeter vor seinem Mund schwebende Kaffeetasse vergessen zu haben.
»Welche Namen wollen Sie?« Ashton klang resigniert.
»Fangen wir mit den Namen der vermissten Frauen an, dazu die ihrer Klassenkameradinnen.«
»In Ordnung.«
»Eine Frage noch. Wie ist Jillian an ihren Job als Model gekommen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Das hat sie Ihnen nicht erzählt? Obwohl sie Ihnen das Foto zur Hochzeit geschenkt hat?«
»Sie hat es nicht erzählt.«
»Und Sie haben nicht danach gefragt?«
»Doch, aber … Jillian mochte keine Fragen.«
Gurney hätte am liebsten losgebrüllt: WAS IST HIER EIGENTLICH LOS, VERDAMMT? HABEN ALLE AN DIESEM FALL BETEILIGTEN DEN VERSTAND VERLOREN?
Er beließ es dabei, das Gespräch zu beenden. »Danke, Dr. Ashton. Das wäre alles fürs Erste. Das BCI wird sich wegen der Namen und Adressen mit Ihnen in Verbindung setzen.«
Als Gurney das Handy einsteckte, bellte Kline: »Um Himmels willen, was war das?«
»Zwei weitere Mädchen werden vermisst. Nach dem gleichen Streit: Eine hat von ihren Eltern einen Suzuki verlangt, die andere einen Mustang.« Gurney wandte sich an Anderson. »Ashton ist bereit, dem BCI die Namen der Verschwundenen und ihrer Klassenkameradinnen zu überlassen. Teilen Sie ihm einfach mit, in welchem Format Sie die Liste benötigen und wie er Sie Ihnen zuschicken soll.«
»Schön, aber wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass rein rechtlich gesehen niemand vermisst wird. Wir können also keine Polizeiressourcen für die Suche einsetzen. Es handelt sich um volljährige junge Frauen, die aus eigenem Wunsch ihr Elternhaus verlassen haben und derzeit unerreichbar sind, wahrscheinlich aus freien Stücken. Wir haben keine rechtliche Basis, solche Personen aufzupüren.«
Gurney hatte den Eindruck, dass sich Lieuntenant Anderson schon auf seinen Ruhestand in Florida vorbereitete und keine Lust hatte, sich vorher noch ein Bein auszureißen. Für so eine Einstellung hatte Gurney, der sich in seiner Arbeit stets voll engagiert hatte, wenig übrig. »Dann finden Sie eben eine Basis. Erklären Sie sie alle zu wichtigen Zeugen im Mordfall Perry. Lassen Sie sich was einfallen. Das ist doch wirklich das geringste Problem.«
Anderson schien drauf und dran, die Auseinandersetzung in unerfreulicher Weise eskalieren zu lassen. Aber bevor er etwas erwidern konnte, schaltete sich Kline ein. »Das ist vielleicht nur eine Kleinigkeit, Dave, aber wenn Sie andeuten, dass die jungen Frauen diesen Streit mit ihren Eltern auf Anraten eines Dritten angefangen haben – wahrscheinlich Flores –, warum ist es dann jedes Mal ein anderes Automodell?«
»Die einfachste Antwort wäre, dass verschiedene Autos nötig sein könnten, um in Familien mit unterschiedlichen Vermögensverhältnissen die gleiche Wirkung zu erzielen. Wenn der Streit den Mädchen einen glaubwürdigen Vorwand liefern soll, um mit der Familie zu brechen – um zu verschwinden, ohne dass die Polizei eingeschaltet wird –, muss die Forderung nach dem Auto zwei Bedingungen erfüllen. Erstens muss es um so viel Geld gehen, dass eine Ablehnung garantiert ist. Zweitens müssen die Eltern überzeugt sein, dass ihre Tochter es ernst meint. Die unterschiedlichen Modelle haben als solche vielleicht keine Bedeutung; entscheidend könnte aber der Preis sein. Anders ausgedrückt, die Forderung nach einem Wagen im Wert von zwanzigtausend Dollar hat in der einen Familie vielleicht den gleichen Effekt wie die nach einem Auto für vierzigtausend in einer anderen.«
»Schlau.« Kline lächelte anerkennend. »Wenn Sie recht haben, dann ist dieser Flores ein echter Denker. Ein Wahnsinninger vielleicht, aber auf jeden Fall ein Denker.«
»Aber er hat auch sinnlose Dinge getan.« Gurney erhob sich, um sich Kaffee nachzuschenken. »Dieser idiotische Schuss auf die Teetasse – wozu war das gut? Hat er wirklich Ashtons Jagdgewehr gestohlen, um seine Teetasse platzen zu lassen? Wozu so ein Risiko? Übrigens …« Gurney musterte Blatt. »Wussten Sie, dass Withrow Perry ein Gewehr des gleichen Kalibers besitzt?«
»Wovon reden Sie da überhaupt?«
»Die auf die Teetasse abgefeuerte Kugel stammt aus einem .257 Weatherby. Ashton besitzt eines, das er als gestohlen gemeldet hat, aber Perry hat auch eines. Vielleicht sollten Sie da mal nachhaken.«
Verlegene Stille entstand, als sich Rodriguez und Blatt eilig Notizen machten.
Nach einem vorwurfsvollen Blick auf beide wandte sich Kline wieder Gurney zu. »Okay, wissen Sie sonst noch was, was uns nicht bekannt ist?«
»Schwer zu sagen. Wie viel wissen Sie über den verrückten Carl?«
»Wen?«
»Der Mann von Kiki Muller.«
»Was hat er damit zu tun?«
»Gar nichts vielleicht, abgesehen von einem guten Motiv, Flores zu töten.«
»Flores wurde nicht getötet.«
»Können wir uns da so sicher sein? Er ist spurlos verschwunden. Er könnte irgendwo in einem Garten verscharrt sein.«
»Hey, hey, was soll das?« Die Aussicht auf noch mehr Arbeit schien Anderson allmählich ernsthaft aus der Fassung zu bringen. »Was läuft hier eigentlich? Sollen wir uns jetzt auch noch mit erfundenen Mordszenarien rumschlagen?«
Auch Kline wirkte verwirrt. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Bisher gehen wir immer davon aus, dass sich Flores zusammen mit Kiki Muller aus der Gegend abgesetzt hat oder dass er sich vorher noch ein paar Tage in ihrem Haus versteckt hat. Angenommen, Flores war noch da, als Carl von seinem Aufenthalt auf dem Meer zurückgekommen ist. Den Vernehmern dürfte wohl nicht entgangen sein, dass Carl nicht ganz richtig im Kopf ist, oder?«
Kline machte einen Schritt vom Tisch weg, wie um sich einen besseren Überblick über das Panorama des Falls zu verschaffen. »Moment mal. Wenn Flores tot ist, kann er nicht für das Verschwinden der anderen Frauen verantwortlich sein. Auch nicht für den Schuss auf Ashtons Teetasse. Und auch nicht für die SMS, die Ashton von Flores’ Handy bekommen hat.«
Gurney zuckte die Achseln.
Frustriert schüttelte der Bezirksstaatsanwalt den Kopf. »Jetzt, wo wir gerade anfangen, Land zu sehen, fegen Sie auf einmal alles wieder vom Tisch.«
»Ich fege gar nichts vom Tisch. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass Carl beteiligt ist. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass seine Frau beteiligt ist. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass wir nicht so viele solide Fakten haben, wie Sie vielleicht meinen. Entscheidend ist, dass wir für alle Möglichkeiten offen bleiben.« Obwohl er damit riskierte, für noch mehr böses Blut zu sorgen, fügte er hinzu: »Die Festlegung auf eine falsche Hypothese zu einem frühen Zeitpunkt ist vielleicht der Grund, warum die Untersuchung bisher zu keinem Ergebnis geführt hat.«
Kline fixierte Rodriguez, der die Tischplatte anstarrte, als wäre sie ein Höllengemälde. »Was meinen Sie, Rod? Glauben Sie, wir sollten die Sache noch mal neu bewerten? Dass wir dieses Rätsel vielleicht von der verkehrten Seite angepackt haben?«
Rodriguez schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.« Seine Stimme war heiser vor unterdrückter Anspannung.
Nach den Mienen am Tisch zu urteilen, war Gurney nicht als Einziger verblüfft, als sich der Captain ungelenk vom Stuhl erhob und das Zimmer verließ, in dem er es offenbar keine Sekunde mehr aushielt.