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Ein vernünftiger Kompromiss

In den frühen Morgenstunden hatte eine Kaltfront mit trockener Herbstluft die dichte Wolkendecke weggeblasen. In der Dämmerung zeigte sich der Himmel hellblau und um neun bereits in tiefem Azur. Der Tag versprach frisch und strahlend zu werden, klar und beruhigend, und damit das Gegenteil der trostlosen, zermürbenden Nacht.

Im morgendlichen Sonnenlicht saß Gurney am Frühstückstisch und spähte durch die Tür hinaus auf das gelblich grüne Spargelkraut. Als er den warmen Kaffeebecher an den Mund hob, erschien ihm die Welt wie ein scharf konturierter Ort, auf dessen überschaubare Probleme man angemessen reagieren konnte – eine Welt, in der sich auch sein Zwei-Wochen-Ansatz in der Perry-Angelegenheit als vollkommen sinnvoll präsentierte.

Dass Madeleine seinen entsprechenden Vorschlag vor einer Stunde mit einem nicht besonders glücklichen Blick aufgenommen hatte, war keine Überraschung. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie begeistert sein würde. Eine Schwarz-Weiß-Denkweise sträubte sich nun mal gegen Kompromisse. Aber die Realität war auf seiner Seite, und mit der Zeit würde sie sicher einsehen, dass seine Idee vernünftig war.

Und bis dahin durfte er sich von ihren Zweifeln nicht lähmen lassen.

Als Madeleine in den Garten hinausging, um die letzte Fuhre grüne Bohnen in diesem Jahr zu ernten, nahm er aus der mittleren Schublade einen gelben Notizblock und begann eine Prioritätenliste aufzusetzen.

Val Perry anrufen, zweiwöchiges Engagement besprechen.
Stundensatz ausmachen. Zusatzspesen. Bestätigung per E-Mail.
Hardwick informieren.
Scott Ashton befragen – VP um Vermittlung bitten.
Ashton Hintergrund, Geschäftspartner, Freunde, Feinde.
Jillian Hintergrund, Geschäftspartner, Freunde, Feinde.

An diesem Punkt wurde Gurney klar, dass er sich mit Val Perry zuerst auf die Bedingungen einer Vereinbarung einigen musste, bevor er mit seiner To-do-Liste fortfahren konnte. Also legte er den Stift weg und griff nach dem Handy. Er wurde sofort an ihre Mailbox weitergeleitet. Er hinterließ seine Nummer und eine kurze Nachricht mit dem Hinweis auf »mögliche nächste Schritte«.

Keine zwei Minuten später rief sie zurück. In ihrer Stimme lagen kindliche Euphorie und etwas Vertrauliches, wie es manchmal passiert, wenn jemandem ein Stein vom Herzen fällt. »Dave! Ich habe mich so gefreut, Ihre Stimme zu hören! Ich hatte schon Angst, Sie wollen nichts mehr mit mir zu tun haben, nachdem ich mich gestern so danebenbenommen habe. Es tut mir wirklich leid. Hoffentlich hab ich Sie nicht abgeschreckt.«

»Keine Sorge. Ich wollte mich nur melden und Ihnen sagen, wozu ich bereit wäre.«

»Verstehe.« In ihre Euphorie hatte sich Anspannung gemischt.

»Eigentlich weiß ich noch immer nicht, ob ich Ihnen überhaupt helfen kann.«

»Ich bin mir ganz sicher, dass Sie mir helfen können.«

»Danke für Ihr Vertrauen, aber …«

»Entschuldigen Sie, einen Moment.« Ihre nächsten Worte richteten sich an jemand anders. »Könnten Sie bitte eine Minute warten? Ich telefoniere gerade. Was? Oh, Scheiße! Okay, ich seh’s mir an. Wo ist es? Zeigen Sie es mir. Das da? Super! Ja, das passt. Ja!« Dann sprach sie wieder ins Telefon. »Lieber Himmel! Da engagiert man jemanden, damit er was macht, und dann kann man ihn den ganzen Tag beaufsichtigen. Kapieren die Leute nicht, dass man sie einstellt, damit sie das selbstständig erledigen?« Sie stieß ein genervtes Seufzen aus. »Verzeihung, ich stehle Ihnen die Zeit. Ich habe gerade die Küche renovieren lassen mit speziell angefertigten Fliesen aus der Provence, und jetzt gibt es ständig Probleme zwischen dem Handwerker und dem Innenarchitekten. Aber Sie rufen natürlich aus einem anderen Grund an. Tut mir leid, wirklich. Warten Sie. Ich schließe die Tür. Vielleicht lassen sie mich dann in Ruhe. Okay, Sie wollten mir gerade erklären, wozu Sie bereit wären. Bitte fahren Sie fort.«

»Zwei Wochen«, erwiderte er. »Ich arbeite zwei Wochen an der Sache. Ich übernehme den Auftrag und sehe, was ich in zwei Wochen rausfinden kann.«

»Warum nur zwei Wochen?« Ihre Stimme klang angestrengt, als würde sie sich zur Geduld zwingen.

Ja, warum eigentlich? Erst jetzt, als sie die Frage stellte, erkannte er die Schwierigkeit, eine vernünftige Antwort zu formulieren. In Wirklichkeit ging es ihm natürlich nicht um den Fall an sich, sondern darum, Madeleine zu besänftigen.

»Weil … in zwei Wochen habe ich entweder deutliche Fortschritte erzielt oder es ist klar, dass ich nicht der Richtige für den Job bin.«

»Verstehe.«

»Ich führe täglich Protokoll und rechne wöchentlich ab zu einem Stundensatz von hundert Dollar plus Spesen.«

»In Ordnung.«

»Größere Ausgaben spreche ich vorher mit Ihnen ab: Flugreisen, alles, was …«

Sie unterbrach ihn. »Was brauchen Sie für den Anfang? Einen Vorschuss? Wollen Sie, dass ich einen Vertrag unterschreibe?«

»Ich setze eine Vereinbarung auf und schicke sie Ihnen per E-Mail. Die können Sie ausdrucken, unterzeichnen, scannen und mir zurückschicken. Ich habe keine Lizenz als Privatermittler, das heißt, offiziell engagieren Sie mich nicht als Detektiv, sondern als Berater, der das Beweismaterial sichtet und den Stand der Ermittlungen bewertet. Eine Vorauszahlung ist nicht nötig. Heute in einer Woche schicke ich Ihnen eine Rechnung.«

»Schön. Sonst noch was?«

»Eine Frage. Vielleicht ein bisschen aus dem Ärmel geschüttelt, aber das beschäftigt mich, seit ich das Video gesehen habe.«

»Ja?« Wieder stahl sich ein Hauch von Beklemmung in ihre Stimme.

»Warum waren bei der Hochzeit keine Freunde von Jillian?«

Sie stieß ein scharfes, kurzes Lachen aus. »Jillian hat keine Freunde eingeladen, weil sie keine Freunde hatte.«

»Gar keine?«

»Ich habe Ihnen meine Tochter gestern beschrieben. Schockiert es Sie, dass Sie keine Freunde hatte? Dann muss ich wohl deutlicher werden. Meine Tochter Jillian Perry war eine Soziopathin. Eine Soziopathin.« Sie wiederholte den Begriff, als wollte sie ihn einem Schüler beibringen. »In ihrer Vorstellungswelt gab es keinen Platz für Freundschaft.«

Gurney zögerte. »Mrs Perry, irgendwie will mir das nicht …«

»Val.«

»In Ordnung. Val, irgendwie will mir das nicht so ganz in den Kopf. Ich meine …«

Wieder fiel sie ihm ins Wort. »Sie fragen sich, warum ich unbedingt den Mörder meiner Tochter … zur Rechenschaft ziehen will, obwohl ich sie offensichtlich nicht ausstehen konnte?«

»So in etwa.«

»Zwei Antworten. So bin ich nun mal. Und: Es geht Sie einen feuchten Dreck an!« Sie hielt inne. »Vielleicht gibt es auch noch eine dritte Antwort. Ich war eine saumäßige Mutter, wirklich saumäßig, als Jilli klein war. Und jetzt … Scheiße … Vergessen Sie es. Bleiben wir dabei, dass es Sie einen feuchten Dreck angeht.«

Schließe deine Augen
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