52
Der Flores-Faktor

Die Mittagspause entpuppte sich nicht unbedingt als geselliges Ereignis, doch Gurney kam das eher entgegen, denn sein Wesen war so weit von Geselligkeit entfernt, dass es gerade noch für eine Ehe reichte. Statt zur Cafeteria zu streben, zerstreuten sich alle in der vereinbarten halben Stunde, um mit Blackberrys und Notebooks zu kommunizieren.

Allerdings wäre es ihm mit dreißig Minuten machohafter Kameradschaft wohl noch besser ergangen als auf der zugigen Bank vor der Polizeifestung, wo er die neueste SMS auf seinem Handy in sich einsickern ließ – offenbar die Antwort auf seine Nachfrage.

Er las: »Sie sind so ein interessanter Mann, ich hätte wissen müssen, dass meine Töchter Sie anbeten werden. Sehr freundlich von Ihnen, in die Stadt zu kommen. Nächstes Mal werden sie Sie besuchen. Wann? Wer weiß? Sie wollen, dass es eine Überraschung wird.«

Gurney starrte auf die Worte, die ihn in einen Strudel aus Bildern rissen, von verstörend lächelnden Frauen, von einem toastend gehobenen Glas Montrachet, von einer hoch aufragenden schwarzen Mauer des Vergessens.

Kurz spielte er mit dem Gedanken, eine Nachricht zurückzuschicken, die mit »Lieber Saul …« begann. Aber er beschloss, sein Wissen um die wahre Identität des falschen Jykynstyl zunächst noch für sich zu behalten. Er wusste nicht, wie viel diese Karte wert war, und er wollte sie nicht ausspielen, solange er das Spiel nicht besser durchschaute. Außerdem gab ihm diese Zurückhaltung zumindest ein kleines Gefühl von Macht. Ungefähr so, als hätte man in einem gefährlichen Stadtteil ein Taschenmesser dabei.

Als er in den Konferenzraum zurückkehrte, fieberte er danach, sich wieder mit dem Fall beschäftigen zu können. Kline, Rodriguez und Wigg hatten schon ihre Plätze eingenommen. Anderson näherte sich mit einem übervollen Becher Kaffee, verbissen darauf bedacht, nichts zu verschütten. Blatt stand an der Maschine und neigte sich nach vorn, um ihr das letzte schwarze Rinnsal zu entlocken. Hardwick fehlte.

Rodriguez schaute auf die Uhr. »Es ist Zeit, Leute. Die einen sind da, die anderen nicht, aber das ist nicht unser Problem. Wir fangen mit einem Zwischenbericht über die Familienbefragungen an. Bill, Sie sind dran.«

Mit der Konzentration eines Mannes, der eine Bombe entschärfen muss, stellte Anderson seinen Kaffee auf den Tisch. »Okay.« Er schlug eine Mappe auf und fing an, den Inhalt zu sichten und zu sortieren. »Okay, also dann. Zunächst haben wir uns eine Liste aller Absolventen der zwanzig Jahre vorgenommen, seit es Mapleshade gibt, dann haben wir das Ganze eingegrenzt auf Absolventinnen der letzten fünf Jahre. Vor fünf Jahren hat sich die Ausrichtung des Internats geändert: von Jugendlichen mit Verhaltensproblemen hin zu jugendlichen Missbraucherinnen.«

»Verurteilte Straffällige?«, fragte Kline.

»Nein. Ausschließlich private Maßnahmen durch Verwandte, Therapeuten, Ärzte. Mapleshade wird praktisch nur von kranken Kids besucht, deren Familien verhindern wollen, dass sie vor dem Jugendgericht landen, und weil sie sie so schnell wie möglich loshaben wollen, bevor sie bei irgendeiner Schweinerei ertappt werden. Die Eltern schicken sie nach Mapleshade, zahlen das Schulgeld und hoffen, dass Ashton das Problem löst.«

»Und schafft er das?«

»Schwer zu sagen. Die Familien wollen nicht darüber reden, wir können also nur die Namen der Absolventinnen mit der nationalen Datenbank für Sexualstraftäter abgleichen, um zu sehen, ob sie als Erwachsene mit der Justiz in Berührung gekommen sind. Bis jetzt haben wir nicht viel gefunden: zwei aus den Abschlussklassen vor vier und fünf Jahren, in den letzten drei Jahren keine einzige. Schwer zu sagen, was das bedeutet.«

Kline zuckte die Achseln. »Könnte bedeuten, dass Ashton ganze Arbeit leistet. Oder es spiegelt einfach die Tatsache wider, dass sexueller Missbrauch von weiblichen Tätern selten angezeigt und daher auch kaum strafrechtlich verfolgt wird.«

»Wie selten?«, erkundigte sich Blatt.

»Pardon?«

»Wie selten wird er Ihrer Meinung nach angezeigt und strafrechtlich verfolgt?«

Offenbar irritiert über die Frage, die vom eigentlichen Thema wegführte, lehnte sich Kline zurück. Sein Ton war steif, akademisch, ungeduldig. »Nach aktuellem Forschungsstand werden zwanzig Prozent aller Frauen und zehn Prozent aller Männer als Kinder sexuell missbraucht, und in rund zehn Prozent der Fälle ist der Täter weiblich. Insgesamt handelt es sich also um millionenfachen sexuellen Missbrauch und hunderttausendfachen von Frauen begangenen Missbrauch. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass hier von jeher mit verschiedenem Maß gemessen wird. Familien zeigen Mütter, Schwestern und Babysitter nur äußerst widerstrebend an; Strafverfolger nehmen Missbrauchsvorwürfe gegen junge Frauen nicht ernst; Gerichte verurteilen sie nur selten. Anscheinend hat die Gesellschaft Probleme, sich mit der Realität weiblicher Sexualtäter genauso abzufinden wie mit der Realität männlicher Sexualtäter. Doch manche Untersuchungen deuten darauf hin, dass viele wegen Vergewaltigung verurteilte Männer als Kinder von Frauen sexuell missbraucht wurden.« Kopfschüttelnd hielt Kline inne. »Ich könnte Ihnen von Fällen aus unserem County erzählen – Mütter, die ihre eigenen Kinder auf den Strich schicken und Pornofilme von ihnen verkaufen. Herrgott. Und nur ein Bruchteil von dem, was da abläuft, landet letztlich vor Gericht. Aber genug davon. Zurück zur Tagesordnung.«

Blatt zuckte die Achseln.

Rodriguez nickte. »Okay, Bill. Was ist bei den Anrufen rausgekommen?«

Anderson wühlte in den Blättern herum. »Wir haben die jeweils neuesten Adressen, Telefonnummern und Kontaktinformationen in den Unterlagen benutzt. Die Zahl der Absolventinnen in den letzten fünf Jahren war hundertzweiundfünfzig. Im Durchschnitt also dreißig pro Jahr. Von den hundertzweiundfünfzig haben wir für hundertsechsundzwanzig bauchbare Kontaktdaten. Diese Personen wurden angerufen. Die Anrufe führten in vierzig Fällen zu einem direkten Kontakt mit der Absolventin oder einem Familienmitglied. Von den verbleibenden sechsundachtzig, denen wir eine Nachricht hinterlassen haben, haben sich bis heute Morgen um 9.45 Uhr zwölf gemeldet.«

»Also zweiundfünfzig erfolgreiche Kontakte«, warf Kline ein. »Ihr Fazit?«

»Schwer zu sagen.« Anderson klang, als würde ihm alles im Leben schwerfallen.

»Meine Güte, Lieutenant …«

»Ich meine, die Resultate sind gemischt.« Er fischte ein anderes Blatt aus seinem Wust. »Von den zweiundfünfzig haben wir elf direkt gesprochen. Also kein Problem. Wenn wir mit ihnen geredet haben, können sie nicht verschwunden sein.«

»Was ist mit den restlichen einundvierzig?«

»In neunundzwanzig Fällen haben die Personen am Telefon – Eltern, Ehepartner, Geschwister, Mitbewohner – versichert, den Aufenthalt der Absolventin zu kennen und mit ihr in Verbindung zu stehen.«

Kline führte auf einem Block Buch. »Und die anderen zwölf?«

»In einem Fall hat eine Frau erklärt, dass ihre Tochter bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Eine Person hat sich sehr vage geäußert, war wahrscheinlich high und hat sowieso nicht viel mitgekriegt. Eine andere hat behauptet, den genauen Aufenthalt der Betreffenden zu kennen, wollte aber keine näheren Informationen preisgeben.«

Kline kritzelte auf seinen Block. »Dann bleiben also noch neun.«

»Diese neun – alles Eltern und Stiefeltern – haben keine Ahnung, wo ihre Töchter sind.«

Im Zimmer entstand nachdenkliches Schweigen, das von Gurney unterbrochen wurde. »In wie vielen Fällen gab es vor dem Verschwinden der Tochter einen Streit über ein Auto?«

Verbissen starrte Anderson auf seine Notizen, als wären sie schuld an seiner Schlappheit. »Sechs.«

»Wow.« Kline stieß einen leisen Pfiff aus. »Und dazu kommen noch die anderen, von denen Ashton und Savannah Liston erzählt haben?«

»Genau.«

»Meine Güte. Zusammen also fast ein Dutzend. Und mit vielen Familien haben wir noch gar nicht gesprochen. Wow. Möchte sich jemand dazu äußern?«

»Ich finde, wir sollten uns bei Dave Gurney bedanken.« Hardwick war unbemerkt hereingeschlüpft und warf Rodriguez einen kurzen Blick zu. »Wenn er uns nicht in diese Richtung gelenkt hätte …«

»Schön, dass Sie wieder zu uns gefunden haben«, knurrte der Captain.

»Wir dürfen uns nicht von verrückten Theorien hinreißen lassen«, meinte Anderson bedrückt. »Wir haben noch immer keine Beweise für eine Entführung oder andere Verbrechen. Möglicherweise haben wir völlig überreagiert. Vielleicht handelt es sich nur um ein paar aufsässige Teenager, die zusammen eine kleine Verschwörung ausgeheckt haben.«

»Dave?« Kline schenkte Anderson keine Beachtung. »Möchten Sie was dazu anmerken?«

»Eine Frage an Bill. Wie sind die sechs vermissten Mädchen über die Jahrgänge verteilt?«

Anderson schüttelte leicht den Kopf. »Wie bitte?«

»Die verschwundenen Mädchen – welche Klassen haben sie besucht?«

Mit einem Seufzen machte sich Anderson wieder über seinen Stoß Papiere her. »Das, was man braucht, ist immer ganz unten.« Er durchforstete mindestens ein Dutzend Blätter, bis er auf das richtige stieß. »Okay … sieht so aus … 2009 … 2008 … 2007 … 2006. Das ist alles, 2005 keine. Die ersten Vermissten, wenn man sie so nennen will, sind aus der Abschlussklasse vom Mai 2006.«

»Alle aus den letzten vier Jahren.« Kline schien bemüht, seinem Resümee eine Bedeutung abzugewinnen.

»Na und?«, warf Blatt ein. »Was heißt das jetzt?«

»Zumindest«, antwortete Gurney, »dass die ersten Absolventinnen verschwunden sind, kurz nachdem Hector Flores aufgetaucht ist.«

Schließe deine Augen
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