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Die Beweise auf dem Tisch
Als Hardwick nach Sonnenuntergang eine halbherzige Einladung zum Abendessen ablehnte und aufbrach, ließ er Gurney die DVD und eine Kopie der Fallakte da, die sämtliche Aufzeichnungen, sowohl über seine Ermittlungen in den ersten Tagen als auch über die von Arlo Blatt in den folgenden Monaten, enthielt. Mehr hätte sich Gurney gar nicht wünschen können, und das fand er beunruhigend. Schließlich ging Hardwick kein kleines Risiko ein, wenn er Polizeiakten vervielfältigte, aus der Zentrale entfernte und sie ohne Genehmigung an eine Privatperson weitergab.
Warum hatte er das getan?
Die einfache Antwort – dass jeder wesentliche Fortschritt, den Gurney erzielte, einen gewissen hohen BCI-Beamten blamieren würde, den Hardwick nicht ausstehen konnte – bot irgendwie keine ausreichende Erklärung für die Gefahr, der er sich aussetzte. Vielleicht ließ sich die volle Antwort dem Aktenmaterial entnehmen. Gurney hatte es auf dem Hauptesstisch unter dem Kronleuchter ausgebreitet – dem hellsten Platz im Haus, wenn durch die Fenster kein Licht mehr einfiel.
Die umfangreichen Berichte und anderen Dokumente hatte er nach der Art der darin enthaltenen Informationen in Stapel aufgeteilt. Jeden Stapel sortierte er chronologisch, soweit das möglich war.
Alles in allem ergab sich eine beängstigende Ansammlung von Daten: Erstberichte, Feldnotizen, Fortschrittsberichte, Zusammenfassungen und Protokolle von zweiundsechzig Vernehmungen (in einer Länge von einer bis vierzehn Seiten), Festnetz- und Mobilfunkaufzeichnungen, Tatortfotos von BCI-Beamten, zusätzliche Standbilder aus dem Hochzeitsvideo, Formulare zur genauen Beschreibung des Verbrechens, zur Erfassung von gestohlenen Gegenständen, zur Überprüfung von Datenbänken, ein Phantombild von Hector Flores, der Autopsiebericht, Beweismittelaufstellungen, gerichtsmedizinische Berichte, DNA-Blutprobenanalysen, der Hundestaffelbericht, die Liste der Hochzeitsgäste mit Kontaktdaten und Informationen über die Art der Beziehungen zum Opfer oder Scott Ashton, Pläne und Luftaufnahmen des Ashton-Anwesens, Innenskizzen des Cottages mit Abmessungen des vorderen Zimmers, biografische Datenblätter und natürlich die DVD, die Gurney schon kannte.
Bis er alles in eine brauchbare Ordnung gebracht hatte, war es sieben Uhr. Zuerst war er überrascht, wie spät es schon war, doch eigentlich kannte er das von sich. Wenn sein Verstand voll beschäftigt war, beschleunigte sich die Zeit immer, und voll beschäftigt war er eigentlich nur, wie er sich ein wenig kleinlaut eingestand, wenn es galt, ein Rätsel zu lösen. Madeleine hatte einmal angemerkt, dass sich sein Leben auf eine einzige obsessive Tätigkeit verengt hatte: Geheimnisse um den Tod anderer Leute zu lüften. Nicht mehr, nicht weniger, nichts sonst.
Er griff nach dem ersten Aktenordner. Die Tatortberichte der Kriminaltechniker. Das oberste Formularblatt beschrieb die unmittelbare Umgebung des Cottages. Das nächste dokumentierte die erste visuelle Bestandsaufnahme der Innenausstattung. Sie war bemerkenswert kurz. Gegenstände, die im Normalfall vom Kriminallabor auf Spuren untersucht wurden, fehlten völlig. Das Mobiliar im Cottage beschränkte sich auf den Tisch, auf dem man den Kopf des Opfers entdeckt hatte, den schmalen Stuhl mit Holzlehnen, auf dem der Körper postiert worden war, und einen ähnlichen Stuhl gegenüber. Keine Sessel, Sofas, Betten, Decken, Teppiche. Genauso seltsam war, dass es nirgends irgendwelche Kleider oder Schuhe gab – mit einer auffälligen Ausnahme allerdings: ein Paar leichte Gummistiefel von der Art, wie man sie über normale Schuhe streifte. Diese Stiefel standen vor dem Schlafzimmerfenster, durch das der Mörder offenbar geflohen war. Zweifellos handelte es sich dabei um die Stiefel, an denen der Suchhund die Spur aufgenommen hatte.
Gurney drehte sich in seinem Stuhl der Glastür zu und spähte über die Wiese, ohne etwas von ihr wahrzunehmen. Die Eigenheiten und Komplikationen des Falls – was Sherlock Holmes als seine »besonderen Merkmale« bezeichnete – häuften sich allmählich und erzeugten jenes magnetische Feld, das Gurney zu Problemen hinzog, vor denen die meisten Menschen zurückschrecken würden.
Das laute Quietschen der Seitentür unterbrach ihn in seinen Gedanken – ein Quietschen, das er schon seit einem Jahr mit einem Tropfen Öl beheben wollte.
»Madeleine?«
»Ja.« Mit drei prallvollen Plastiktüten aus dem Supermarkt in jeder Hand trat sie in die Küche, wuchtete alles auf die Anrichte und strebte wieder hinaus.
»Kann ich dir helfen?«
Keine Antwort, nur das Geräusch der Seitentür, die sich öffnete und schloss. Eine Minute darauf wiederholte sich das Geräusch, und sie kam mit einer zweiten Ladung Tüten herein, die sie ebenfalls auf die Anrichte stellte. Erst jetzt nahm sie die violett, grün und rosa gemusterte peruanische Mütze mit den hängenden Ohrenklappen ab, die ihr immer etwas leicht Schrulliges verlieh.
Der flüchtige Tick im linken Augenlid machte sich bemerkbar, den Gurney seit einiger Zeit so stark spürte, dass er in den letzten Monaten schon mehrfach zum Spiegel gelaufen war, um sich davon zu überzeugen, dass er nicht sichtbar war. Er wollte fragen, wo sie gewesen war – außer im Supermarkt natürlich –, aber möglicherweise hatte sie ihren Plan vorhin erwähnt, und er wollte sie nicht schon wieder mit der Nase darauf stoßen, wie leicht er solche Dinge vergaß. Madeleine setzte Vergessen, wie auch schlechtes Hören, mit fehlendem Interesse gleich. Vielleicht hatte sie damit gar nicht so unrecht. In den fünfundzwanzig Jahren beim NYPD hatte er nie auch nur ein einziges für seine Arbeit bedeutsames Detail vergessen, keine Zeugenvernehmung, keinen Gerichtstermin, keine Angaben oder Auffälligkeiten im Benehmen eines Verdächtigen.
War ihm jemals etwas anderes so wichtig gewesen wie seine Arbeit? Auch nur annähernd? Eltern? Ehe? Kinder?
Beim Tod seiner Mutter hatte er fast nichts gefühlt. Nein, schlimmer noch. Kälter und egoistischer. Er hatte Erleichterung verspürt, die Befreiung von einer Bürde, eine Vereinfachung seines Lebens. Als ihn seine erste Frau verließ, war auch das die Erlösung von einer Komplikation. Ein weiteres Hindernis aus dem Weg, das Aufatmen nach dem Zwang, auf eine schwierige Person eingehen zu müssen. Freiheit.
Madeleine nahm fünf Glasgefäße mit Essensresten der letzten beiden Abende aus dem Kühlschrank. Nacheinander stellte sie sie neben die Mikrowelle und zog die Deckel ab. Er beobachtete sie von der anderen Seite der Kücheninsel.
»Hast du schon gegessen?«, fragte sie.
»Nein, ich wollte auf dich warten«, antwortete er, nicht ganz wahrheitsgemäß.
Mit erhobener Augenbraue fixierte sie die Papiere auf dem Esstisch.
»Zeug von Jack Hardwick«, bemerkte er ein wenig zu beiläufig. »Er hat mich gebeten, einen Blick darauf zu werfen.« Er malte sich aus, dass sie in ihm las wie in einem Buch. Schnell fügte er hinzu: »Akten zum Fall Jillian Perry.« Er verstummte. »Eigentlich weiß ich gar nicht so genau, was ich damit machen soll und warum er meint, dass meine Beobachtungen unter den gegebenen Umständen hilfreich sein könnten, aber … Ich schau’s mir an und sag ihm, was ich davon halte.«
»Und sie?«
»Sie?«
»Val Perry. Wirst du ihr auch sagen, was du davon hältst?« In Madeleines Stimme hatte sich etwas Leichtes, Luftiges geschlichen, das ihre Betroffenheit nicht verbarg, sondern im Gegenteil verriet.
Gurney starrte in die Obstschale auf der Granitplatte der Kücheninsel, die Hände auf die kalte Fläche gestützt. Mehrere Fruchtfliegen, die er aufgescheucht hatte, erhoben sich von einem Bund Bananen und flogen in asymmetrischem Zickzack über der Schale, ehe sie sich wieder auf dem Obst niederließen und auf der gesprenkelten Haut unsichtbar wurden.
Er schlug einen leisen Ton an, doch es klang nur herablassend. »Ich glaube, du machst dir Sorgen über Dinge, die nichts mit der Realität zu tun haben.«
»Sprichst du von der Sorge darüber, dass du schon fest entschlossen bist?«
»Maddie, wie oft muss ich es noch sagen? Ich habe mich zu nichts verpflichet. Gegenüber niemandem. Ich habe keine Entscheidung getroffen, mehr zu tun, als die Fallakten zu lesen.«
Sie bedachte ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte – einem Blick, der ihn durchdrang: wissend, sanft und sonderbar traurig.
Sie setzte die Deckel wieder auf die Glasgefäße.
Er schaute ihr zu, bis sie die Sachen zurück in den Kühlschrank gestellt hatte. »Willst du nichts essen?«
»Im Moment hab ich keinen Hunger. Ich glaube, ich geh unter die Dusche. Wenn mich das wacher macht, esse ich was. Wenn ich müde werde, leg ich mich schlafen.« Als sie an dem mit Dokumenten beladenen Tisch vorbeikam, fügte sie hinzu: »Bevor morgen unsere Gäste kommen, räumst du das aber weg, damit wir es nicht dauernd vor Augen haben, oder?« Sie verließ das Zimmer, und eine halbe Minute später hörte er die Badtür.
Gäste? Morgen?
O Gott, richtig! Hatte Madeleine nicht erwähnt, dass jemand zum Abendessen kommen sollte? Es war nur der Schatten einer Erinnerung, aufbewahrt in einem toten Winkel seines Gehirns.
Verdammt, was ist eigentlich los mit dir? Ist in deinem Kopf überhaupt kein Platz mehr für den Alltag? Für ein einfaches, gutes Leben, das man mit gewöhnlichen Leuten teilt? Oder war vielleicht dieser Platz nie vorhanden? Vielleicht warst du schon immer so drauf. Vielleicht ist es hier auf diesem abgeschiedenen Hügel – ohne die Anforderungen der Arbeit, die einen bequemen Vorwand lieferten, um nie am Leben der Menschen teilnehmen zu müssen, die du angeblich liebst – nur schwerer, die Wahrheit zu verheimlichen. Ist die schlichte Wahrheit einfach, dass dir alle Menschen egal sind?
Er trat um die Kücheninsel und schaltete die Kaffeemaschine ein. Wie Madeleine war ihm der Appetit vergangen. Aber die Vorstellung von Kaffee war verlockend. Schließlich stand ihm eine lange Nacht bevor.