34
Ashton nervös

Als Gurney auf den Parkplatz des County-Gebäudes bog, in dem das Büro des Bezirksstaatsanwalts untergebracht war, klingelte sein Telefon. Überrascht erkannte er Scott Ashton, der ungewohnt unsicher klang und einen vertraulichen Ton anschlug.

»David, nach Ihrem Anruf heute Morgen … Ihre Bemerkung über unerreichbare Absolventinnen … Ich weiß, was ich über die Vertraulichkeitsfrage gesagt habe, aber … ich dachte, dass ich vielleicht selbst ein paar diskrete Gespräche führen könnte. Auf diese Weise bin ich nicht gezwungen, Namen oder Telefonnummern an Dritte weiterzugeben.«

»Ja?«

»Nun, ich habe ein paar Anrufe gemacht, und … es ist so … Ich möchte keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber … es ist möglich, dass da etwas Seltsames im Gange ist.«

Gurney schob sich auf den ersten freien Platz, den er fand. »Inwiefern seltsam?«

»Ingesamt habe ich vierzehn Telefonate geführt. In vier Fällen hatte ich die Nummer der ehemaligen Schülerin, in den anderen die Nummer eines Elternteils oder eines Vormunds. Eine Schülerin habe ich persönlich erreicht. Einer anderen habe ich auf die Mailbox gesprochen. Der Anschluss der zwei anderen existiert nicht mehr. Von den zehn Anrufen bei den Familien bin ich bei zweien durchgekommen und habe bei acht Nachrichten hinterlassen – zwei haben inzwischen zurückgerufen. Ich habe also vier Gespräche mit Familienmitgliedern geführt.«

Gurney fragte sich, worauf diese ganze Arithmetik abzielte.

»In einem Fall gab es kein Problem. Aber bei den anderen …«

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, aber was heißt ›kein Problem‹?«

»Der Aufenthalt der Tochter ist bekannt. Sie ist am College, und sie haben erst heute mit ihr gesprochen. Das Problem sind die anderen drei. Die Eltern haben keine Ahnung, wo sie sind – was an sich nicht viel besagt. Schließlich empfehle ich manchen unserer Absolventinnen ausdrücklich, sich von ihren Eltern zu trennen, wenn die Beziehung zu ihnen in der Vergangenheit vergiftet war. Manchmal ist eine Wiedereingliederung in die eigene Familie nicht ratsam. Die Gründe werden Sie sicher verstehen.«

Fast wäre Gurney entschlüpft, dass er das schon von Savannah erfahren hatte, doch er hielt sich gerade noch zurück.

Ashton fuhr fort. »Das Problem ist, was mir die Eltern erzählt haben. Über die Umstände, unter denen die Mädchen ihr Zuhause verlassen haben.«

»Welche Umstände?«

»Die erste Mutter hat berichtet, dass ihre Tochter nach ihrer Heimkehr von Mapleshade vier Wochen lang ungewöhnlich ruhig war. Dann hat sie eines Abends beim Essen Geld für ein neues Auto verlangt, und zwar siebenundzwanzigtausend Dollar für ein Mazda Cabrio. Natürlich haben die Eltern abgelehnt. Daraufhin hat sie sich beklagt, dass sie sie nicht lieben, hat ihnen auf aggressive Weise sämtliche Traumata ihrer frühen Kindheit vorgeworfen und ihnen das absurde Ultimatum gestellt, nie wieder ein Wort mit ihnen zu reden, falls sie ihr das Geld nicht geben. Als sie sich geweigert haben, hat sie ihre Sachen gepackt und ist mit einem Taxi weggefahren. Danach hat sie noch einmal angerufen und gesagt, dass sie bei einer Freundin wohnt, dass sie Zeit braucht, um Klarheit zu finden, und dass sie jeden Versuch, sie aufzuspüren oder Kontakt mit ihr aufzunehmen, als unerträglichen Angriff auf ihre Privatsphäre werten wird. Danach haben sie nie wieder etwas von ihr gehört.«

»Sie wissen sicher mehr über Ihre ehemaligen Schülerinnen als ich, aber auf den ersten Blick klingt diese Geschichte nicht besonders unwahrscheinlich. Eher wie etwas, was eine labile, verzogene Göre durchaus machen würde.« Gurney hatte frei von der Leber weg gesprochen und fragte sich plötzlich, wie Ashton auf diese Beschreibung einer Mapleshade-Absolventin reagieren würde.

»Ja, genauso klingt es«, erwiderte er. »Eine ›verzogene Göre‹, die mit den Füßen stampft und davonstürmt, um ihre Eltern zu bestrafen. Nicht besonders schockierend, nicht einmal ungewöhnlich.«

»Dann verstehe ich nicht, worauf Sie hinauswollen. Warum sind Sie beunruhigt?«

»Weil mir drei Familien die gleiche Geschichte erzählt haben.«

»Die gleiche Geschichte

»Bis auf die Marke und den Preis des Autos. Statt eines Mazdas für siebenundzwanzigtausend Dollar wollte die Zweite einen BMW für neununddreißigtausend und die Dritte eine Corvette für siebzigtausend.«

»Oh Gott.«

»Verstehen Sie jetzt, warum ich mir Sorgen mache?«

»Auf jeden Fall ist der Zusammenhang rätselhaft. Haben Sie bei den Gesprächen mit den Eltern etwas darüber in Erfahrung gebracht?«

»Nun, das kann unmöglich ein Zufall sein. Mit anderen Worten, es muss sich um eine Verschwörung handeln.«

Gurney sah zwei Möglichkeiten. »Entweder haben sich die Mädchen das ausgedacht, um von zu Hause wegzukommen, allerdings bleibt dann unklar, warum sie den Bruch ausgerechnet auf diese Weise vollziehen wollten. Oder sie sind alle den Anweisungen eines Dritten gefolgt, ohne unbedingt voneinander zu wissen. Aber auch hier ist das Warum die eigentliche Frage.«

»Meinen Sie nicht, dass es bloß eine verrückte Idee war, um die Eltern zum Kauf eines Traumautos zu zwingen?«

»Das bezweifle ich.«

»Aber wenn es eine Geschichte war, die sie sich untereinander oder mithilfe eines unbekannten Dritten – und aus bisher unbekannten Gründen – zurechtgelegt haben, weshalb ist dann jede auf eine andere Automarke verfallen?«

Gurney schoss eine mögliche Antwort durch den Kopf, doch er brauchte Zeit, um genauer darüber nachzudenken. »Wie haben Sie die Mädchen ausgesucht, die Sie telefonisch erreichen wollten?«

»Völlig unsystematisch. Es waren einfach Mädchen aus Jillians Abschlussklasse.«

»Also alle ungefähr im gleichen Alter? Neunzehn oder zwanzig?«

»Ich glaube schon.«

»Ihnen ist doch klar, dass Sie die Anmeldeunterlagen von Mapleshade der Polizei übergeben müssen?«

»Ich fürchte, ich sehe das etwas anders – zumindest fürs Erste. Im Augenblick weiß ich nur, dass drei junge Frauen, alle volljährig, nach einem ähnlichen Streit das Elternhaus verlassen haben. Sicher ist das irgendwie merkwürdig – deswegen habe ich Sie ja auch informiert –, aber bisher gibt es keine Hinweise auf ein Verbrechen oder Ähnliches.«

»Es sind mehr als drei.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Wie ich schon erklärt habe, wurde mir …«

Ashton schnitt ihm das Wort ab. »Ja, ja, eine nicht genannte Person hat Ihnen mitgeteilt, dass sie bestimmte, ebenfalls nicht genannte ehemalige Schülerinnen nicht erreichen konnte. Das heißt noch gar nichts. Wir dürfen hier nicht Äpfel mit Birnen vermischen, irgendwelche furchtbaren Schlüsse ziehen und das als Vorwand nutzen, um die Vertrauensbasis der Schule zu zerstören.«

»Doktor, Sie haben mich doch selbst angerufen. Sie klingen besorgt. Und jetzt wollen Sie mir weismachen, dass es keinen Anlass zur Sorge gibt. Das passt doch nicht zusammen.«

Ashtons Atem ging ein wenig zittrig. Nach langen fünf Sekunden antwortete er in gedämpftem Ton. »Ich will bloß nicht das ganze System an unserer Schule zum Einsturz bringen. Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich telefoniere weiter. Ich versuche es mit den Kontaktnummern aller Absolventinnen der letzten Jahrgänge. Auf diese Weise können wir rausfinden, ob ein bedrohliches Muster vorliegt, bevor wir Mapleshade einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen. Glauben Sie mir, das ist kein Hinhalte-Manöver. Wenn wir noch weitere Beispiele entdecken …«

»Na schön, Doktor, dann telefonieren Sie. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich meine Informationen an das BCI weitergeben muss.«

»Tun Sie das. Und vergessen Sie Ihrerseits nicht, wie wenig Sie im Grunde wissen. Sie dürfen nicht ausgehend von Vermutungen ein Vermächtnis des Vertrauens vernichten.«

»Deutlich und eloquent ausgedrückt.« Tatsächlich ging Gurney die mühelose Redegewandtheit des Psychiaters allmählich auf die Nerven. »Aber da wir gerade von dem Vermächtnis, dem Auftrag oder dem Ruf der Einrichtung sprechen – ich habe gehört, dass Sie selbst vor einigen Jahren dramatische Änderungen in diesem Bereich vorgenommen haben – riskante Änderungen, wie manche vielleicht sagen würden.«

Ashtons Erwiderung war schlicht. »Ja, das stimmt. Erzählen Sie mir, wie Ihnen die Änderungen beschrieben wurden, und ich sage Ihnen den Grund dafür.«

»Ich paraphrasiere: ›Scott Ashton hat den Zweck der Schule auf den Kopf gestellt, er hat aus einer Einrichtung zur Behandlung Behandelbarer einen Käfig für unheilbare Monster gemacht.‹ Ich glaube, damit ist das Wesentliche erfasst.«

Ashton stieß ein leises Seufzen aus. »Ich denke, so könnte es jemand ausdrücken, vor allem wenn seine Karriere von dem Wandel nicht profitiert hat.«

Gurney ignorierte den klaren Seitenhieb gegen Simon Kale. »Und wie sehen Sie es?«

»In diesem Land gibt es eine Fülle von therapeutischen Internaten für Neurotiker. Was fehlt, sind Wohneinrichtungen, wo die Probleme von sexuellem Missbrauch und destruktiven sexuellen Obsessionen auf kreative Weise angepackt werden. Mir kommt es darauf an, dieses Ungleichgewicht zu korrigieren.«

»Sind Sie zufrieden mit den Erfolgen?«

Ein längeres Seufzen. »Die Behandlung mancher geistiger Störungen stammt aus dem Mittelalter. Bei einer so niedrigen Vergleichsschwelle sind Verbesserungen viel leichter zu erzielen, als Sie vielleicht meinen. Wenn Sie mal ein, zwei Stunden Zeit haben, kann ich Ihnen die genaueren Einzelheiten schildern. Aber im Moment möchte ich mich lieber um diese Anrufe kümmern.«

Gurney spähte auf die Armaturenbrett-Uhr. »Und ich komme fünf Minuten zu spät zu einer Besprechung. Bitte setzen Sie sich sobald wie möglich wieder mit mir in Verbindung. Ach, eine letzte Sache noch, Doktor. Wie ich annehme, haben Sie die Telefonnummern und Adressen von Alessandro und Karnala Fashion.«

»Pardon?«

Gurney schwieg.

»Sie sprechen von der Anzeige? Wieso sollte ich da Telefonnummern haben?«

»Ich dachte, dass Sie das Foto an der Wand entweder von dem Fotografen oder von der Firma bekommen haben, die es in Auftrag gegeben hat.«

»Nein. Jillian hat es bekommen. Sie hat es mir zur Hochzeit geschenkt. Am Morgen. Am Morgen vor der Trauung.«

Schließe deine Augen
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