51
Völlige Verwirrung
Den Rest des Abends fühlte sich Gurney durch die Unterhaltung und die Aussicht auf weitere Einbeziehung gestärkt und zugleich beruhigt.
Erfreut und einigermaßen erstaunt bemerkte er nach dem Erwachen bei Sonnenaufgang, dass er sich noch immer so fühlte. Um diese Stimmung zu nähren und in den vergleichsweise festen Grenzen einer Welt zu bleiben, in der er nicht der Gejagte, sondern der Jäger war, vertiefte er sich beim Morgenkaffee zum ungefähr zehnten Mal in die Akte Perry. Dann wählte er Rebecca Holdenfields Nummer und hinterließ eine Nachricht mit der Frage, ob er sie am Nachmittag nach der BCI-Besprechung in ihrem Büro in Albany aufsuchen konnte.
Anrufe, Rückrufe, Terminvereinbarungen – all das schuf eine Dynamik, der er blindlings folgte. Er rief Val Perry an und wurde auf ihre Mailbox geleitet. Doch schon nach seinen Worten »Hier Dave Gurney.« ging sie persönlich hin. Er hätte sie nicht als Frühaufsteherin eingeordnet.
»Was ist los?«
Da er nicht mit einem persönlichen Gespräch gerechnet hatte, erwiderte er: »Ich wollte mich nur mal melden.«
»Ach. Und …?« Sie klang nervös, aber wohl nicht nervöser als üblich.
»Sagt Ihnen der Name Skard etwas?«
»Nein. Sollte er das?«
»Hätte ja sein können, dass Jillian ihn vielleicht mal erwähnt hat.«
»Jillian hat nie irgendwas erwähnt. Es war nicht unbedingt so, dass sie sich mir anvertraut hätte. Ich dachte, dass habe ich klar zum Ausdruck gebracht.«
»Vollkommen klar und nicht nur einmal. Aber manche Fragen muss ich stellen, auch wenn ich die Anwort schon mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit kenne.«
»Okay. Sonst noch was?«
»Hat Jillian Sie oder Ihren Mann je gebeten, ihr ein teures Auto zu kaufen?«
»Es gibt wohl kaum etwas, das Jillian nicht irgendwann verlangt hat. Also wahrscheinlich ja. Andererseits hat sie schon seit ihrem zwölften Lebensjahr keinen Zweifel daran gelassen, dass Withrow und ich für ihr Glück irrelevant sind – dass sie jederzeit einen reichen Mann auftreiben kann, der ihr gibt, was sie will. Sie hat den Standpunkt vertreten, dass wir sie am Arsch lecken können.« Sie hielt inne, möglicherweise um die Schockwirkung ihrer Worte auszukosten. »Ich muss los. Noch Fragen?«
»Das war’s fürs Erste, Mrs Perry. Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben.«
Wie Kline am Abend zuvor beendete Val Perry das Gespräch ohne Gruß. Offenbar hatte sie sich von Gurneys Einschaltung in die Mordermittlungen mehr versprochen.
Um zehn vor zehn bog er auf den Parkplatz des festungsgleichen Polizeireviers, in dem die Besprechung angesetzt war. Während der einen Minute, in der er nach einer Lücke suchte, klingelte sein Handy zweimal. Ein Anruf und eine SMS. Er rechnete damit, dass mindestens eins von beidem von Rebecca Holdenfield stammte.
Sobald er geparkt hatte, nahm er das Telefon heraus und sah nach der SMS. Eine Handynummer mit einer Vorwahl aus Manhattan.
Als er den Text las, schloss sich eine eisige Faust um seinen Magen.
»Denken Sie noch an meine Mädchen? Die zwei denken fest an Sie.«
Wieder und wieder las er die Worte. Dann sah er sich die Nummer an. Die Tatsache, dass der Absender sie nicht blockiert hatte, bedeutete mit Sicherheit, dass sie zu einem unaufspürbaren Prepaidhandy gehörte. Aber er hatte damit auch die Möglichkeit, eine Antwort zu schicken.
Nachdem er wütende und draufgängerische Formulierungen verworfen hatte, entschied er sich für vier emotionslose Worte: »Erzählen Sie mir mehr.«
Als er das Ganze abschickte, bemerkte er, dass es schon 9.59 Uhr war. Er hastete ins Gebäude.
Bei seiner Ankunft in dem kahlen Konferenzraum waren die sechs Stühle am Tisch bereits besetzt. Die Begrüßung fiel aus, nur Hardwick deutete auf mehrere Klappstühle, die neben der Kaffeemaschine an der Wand lehnten. Rodriguez, Anderson und Blatt ignorierten ihn. Gurney konnte sich lebhaft ihre wenig begeisterte Reaktion auf den schlauen Plan des Bezirkstaatsanwalts vorstellen, die tickende Zeitbombe zu den Besprechungen einzuladen, um sie besser kontrollieren zu können.
Am hinteren Ende des Tischs saß über ihr Notebook gebeugt Sergeant Wigg, eine rothaarige Beamtin, an deren effiziente Arbeit als Koordinatorin der Spurenauswertung im Fall Mellery sich Gurney noch gut erinnern konnte. Ihr kam es vor allem auf faktische und logische Stimmigkeit an. Gurney klappte seinen Stuhl auf und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Die Wanduhr zeigte fünf nach zehn.
Sheridan Kline spähte finster auf seine Uhr. »Okay, Leute. Wir sind spät dran. Ich habe heute einen engen Terminplan. Vielleicht könnten wir gleich mit Neuigkeiten, bedeutenden Fortschritten, vielversprechenden Anhaltspunkten anfangen?«
Rodriguez räusperte sich.
»Dave hat was Neues«, warf Hardwick ein. »Eine Merkwürdigkeit am Tatort. Wäre vielleicht ein guter Start für das Treffen.«
Kline bekam große Augen. »Was ist es diesmal?«
Gurney hatte eigentlich abwarten wollen, ehe er das Problem ansprach, in der Hoffnung, dass vielleicht noch relevante Informationen auftauchten. Doch nach Hardwicks Vorpreschen war das nicht mehr möglich.
Also sprang Gurney ins kalte Wasser. »Wir vermuten ja, dass Flores nach Jillians Ermordung durch den Wald zu der Stelle gelaufen ist, wo die Machete gefunden wurde.«
Rodriguez rückte die Stahlgestellbrille zurecht. »Vermuten? Ich würde sagen, wir haben schlüssige Beweise.«
Gurney seufzte. »Das Dumme ist, es gibt Filmdaten, die dieser Hypothese widersprechen.«
Kline fing an, hektisch zu blinzeln. »Filmdaten?«
Sorgfältig erklärte Gurney, was die ununterbrochene Sichtbarkeit des Baumstamms auf dem Hochzeitsfilm bewies: Flores konnte nicht den angenommenen Weg durch den Wald eingeschlagen haben, da er andernfalls die in dieser Ecke des Geländes postierte Kamera hätte passieren und, wenn auch nur flüchtig, im Bild hätte erscheinen müssen.
Rodriguez runzelte die Stirn wie jemand, der einen Schwindel wittert, ihn aber nicht durchschaut. Anderson runzelte die Stirn wie einer, der gegen den Schlaf ankämpft. Wigg blickte von ihrem Notebook auf, was Gurney als Zeichen von großem Interesse deutete.
»Dann ist er eben hinter dem Baum vorbei«, meinte Blatt. »Wo soll das Problem sein?«
»Das Problem ist das Gelände, Arlo. Das haben Sie doch sicher überprüft.«
»Was für ein Geländeproblem meinen Sie?«
»Die Schlucht. Um vom Cottage zum Fundort der Machete zu gelangen, ohne vor dem Baum vorbeizukommen, müsste man direkt nach hinten laufen, einen steilen Hang mit vielen losen Steinen hinunterklettern und sich auf dem felsigen, unebenen Boden der Schlucht hundertfünfzig Meter weit bis zur nächsten Stelle durchschlagen, wo man wieder hinaufsteigen kann. Und selbst dort wäre es nicht leicht, weil die Erde ziemlich rutschig ist. Außerdem landet man dann weit entfernt vom Fundort der Machete.«
Blatt seufzte, als hätte er das alles längst bedacht. »Kann sein, dass es nicht leicht war, aber trotzdem hat er es gemacht.«
»Wir müssen auch den Zeitfaktor berücksichtigen.«
»Das heißt?«, fragte Kline.
»Ich hab mich in der Gegend ziemlich genau umgeschaut. Die Strecke über die Schlucht bis zum Fundort der Machete dauert einfach viel zu lang. Er wäre dort bestimmt nicht rumgeklettert in dem Wissen, dass gleich die Leiche entdeckt wird und überall Leute herumlaufen. Dazu kommen noch zwei große Probleme. Erstens, wieso macht er es sich so verdammt schwer, wenn er die Machete doch überall abwerfen kann? Zweitens, und das ist sicher der entscheidende Punkt, folgt die Geruchsfährte der Strecke vor dem Baum und nicht dahinter.«
»Moment mal«, wandte Rodriguez ein. »Sie widersprechen sich doch selbst. »Ihrer Meinung nach beweisen all diese Faktoren, dass Flores die Strecke vor dem Baum genommen hat, aber der Film beweist, dass es nicht so ist. Wie soll das denn aufgehen?«
»Wie eine Gleichung mit einem dicken Fehler«, erwiderte Gurney. »Und wo dieser Fehler liegt, kann ich beim besten Willen noch nicht erkennen.«
In den nächsten eineinhalb Stunden fragten ihn die Anwesenden nach der Zuverlässigkeit des Filmzeitcodes, der Möglichkeit herausgeschnittener Bilder, der Position des Kirschbaums im Verhältnis zum Cottage, der Machete und der Schlucht. Sie holten die Tatortskizzen aus dem Hauptordner, ließen sie herumgehen und studierten sie. Sie erzählten Anekdoten über die fabelhaften Fähigkeiten und Leistungen von Hundestaffeln. Sie diskutierten über alternative Fluchtwege von Flores nach dem Ablegen der Mordwaffe, über Kiki Mullers mögliche Verstrickung als Helferin, über Zeitpunkt und Gründe ihres Todes. Sie äußerten Spekulationen zur Psychopathologie eines Täters, der seinen Opfern den Kopf abtrennte. Doch einer Lösung des zentralen Rätsels kamen sie damit keinen Schritt näher.
Rodriguez fasste das Ergebnis kurz und bündig zusammen. »Laut Dave Gurney besteht in zwei Punkten absolute Sicherheit. Erstens musste Hector Flores vor dem Kirschbaum vorbei. Zweitens kann es nicht so gewesen sein.«
»Eine äußerst interessante Situation.« Gurney empfand den Widerspruch als elektrisierend.
»Vielleicht sollten wir eine kurze Mittagspause einlegen.« Für den Captain schien das Ganze weniger elektrisierend als frustrierend.