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Direkt vor der Nase
Nach einem bescheidenen Frühstück mit zwei Eiern und zwei Scheiben Toast beschloss Gurney, sich erneut mit den Fakten des Falls zu beschäftigen, auch wenn es noch so ermüdend war.
Er breitete die Unterlagen auf dem Esstisch aus und griff aus purem Trotz nach dem Dokument, auf das er sich bei der ersten Durchsicht am schlechtesten hatte konzentrieren können. Es war eine siebenundfünfzigseitige Liste der vielen hundert Websites und Suchbegriffe, die Jillian in ihrem letzten halben Lebensjahr bei ihren Internetstreifzügen am Handy oder Notebook besucht und benutzt hatte – überwiegend im Zusammenhang mit schicken Reisezielen, superteuren Hotels, Autos und Schmucksachen.
Niemand beim BCI hatte nach der Beschaffung dieser Daten eine Analyse durchgeführt. Vermutlich war auch dieser Teil der Untersuchung beim Staffelwechsel zwischen Hardwick und Blatt verschüttgegangen. Das einzige Anzeichen dafür, dass jemand anders als er einen Blick hineingeworfen hatte, war ein handschriftlicher Vermerk auf einem Haftnotizzettel auf der ersten Seite: »Reine Zeitverschwendung.«
Gurneys Verdacht, dass der Vermerk von Rodriguez stammte, bestärkte ihn in der Aufmerksamkeit, die er jeder Zeile der siebenundfünzig Seiten schenkte. Und ohne diese zusätzliche Motivation hätte vielleicht auch er ein kleines Wort mit fünf Buchstaben auf Seite siebenunddreißig übersehen.
Skard.
Auf der nächsten Seite erschien es wieder, und einige Seiten später noch einmal, zusammen mit ›Sardinien‹ als kombinierte Suche.
Dieser Fund trieb Gurney durch den Rest des Dokuments und dann von Neuem durch alle siebenundfünfzig Seiten. Bei diesem zweiten Durchgang machte er seine zweite Entdeckung.
Die zwischen den Suchbegriffen verstreuten Automodelle, die sich in seinem Kopf zunächst mit den Namen exklusiver Ferienorte, Boutiquen und Schmuckgeschäfte zu einem allgemeinen Bild von Luxus verbunden hatten, ergaben auf einmal ein eigenes Muster.
Er erkannte, dass es genau die Marken waren, um die sich die Streitigkeiten der vermissten Frauen mit ihren Eltern gedreht hatten.
Konnte das ein Zufall sein?
Welche Absichten hatte Jillian verfolgt?
Was wollte sie über diese Autos herausfinden? Und warum?
Wichtiger noch, was wollte sie über die Familie Skard in Erfahrung bringen?
Woher wusste sie überhaupt, dass die Skards existierten?
Und welche Beziehung hatte sie zu dem Mann, den sie als Hector Flores kannte?
Geschäfte? Vergnügen? Oder etwas weit Schlimmeres?
Ein genauerer Blick auf die URL-Adressen der Autos zeigte, dass es sich um firmeneigene Werbewebsites mit Informationen über Modelle, Ausstattung und Preise handelte.
Der Suchbegriff ›Skard‹ führte zu einer Seite mit Informationen über eine Kleinstadt in Norwegen und zu mehreren anderen Seiten, die genauso wenig mit der kriminellen Familie aus Sardinien zu tun hatten. Das bedeutete, dass Jillian auf andere Weise von der Existenz der Familie oder zumindest des Namens erfahren hatte und dass sie über das Internet versucht hatte, mehr herauszufinden.
Gurney setzte sich wieder an die Liste und notierte die Daten der Suchsitzungen. Die Autoseiten hatte sie mehrere Monate vor den Nachforschungen nach ›Skard‹ besucht. Die Suche nach den Wagen reichte sogar bis an den Anfang des dokumentierten halben Jahres zurück. Gut möglich, dass sie solche Daten schon lange vorher recherchiert hatte. Er musste dem BCI vorschlagen, sich ihre Suchaufzeichnungen über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren zu beschaffen.
Gurney starrte hinaus auf die nasse Landschaft. In seinem Kopf formte sich ein interessantes, wenn auch hochspekulatives Szenario, in dem Jillian vielleicht eine viel aktivere Rolle …
Ein tiefes Dröhnen von der Straße unterhalb der Scheune riss ihn aus seinen Gedanken. Er trat ans Fenster, das die beste Sicht in diese Richtung bot, und bemerkte, dass der Streifenwagen verschwunden war. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass die versprochene Schutzfrist von achtundvierzig Stunden abgelaufen war. Jetzt kam an der Stelle, wo die Landstraße in die Einfahrt der Gurneys überging, ein anderes Auto in Sicht, von dem das inzwischen deutlich lautere sonore Motorengrollen herrührte.
Es war ein roter Pontiac GTO, ein Klassiker aus den Siebzigern. Gurney kannte nur einen Menschen, der so einen Schlitten besaß: Jack Hardwick. Wenn er statt einem schwarzen Crown Victoria seinen GTO fuhr, hieß das, dass er nicht im Dienst war.
Gurney ging zur Seitentür und wartete. Hardwick stieg aus. Er trug eine alte Bluejeans und ein weißes T-Shirt unter einer abgewetzten Motorradlederjacke – ein harter Kerl aus der Zeitmaschine.
»Das ist eine echte Überraschung«, sagte Gurney.
»Wollte nur mal nachschauen, ob dir nicht zufällig wieder jemand eine Puppe geschenkt hat.«
»Sehr aufmerksam. Komm rein.«
Drinnen ließ Hardwick stumm den Blick durch den großen Raum wandern.
»Du bist weit gefahren im Regen.«
»Hat schon vor einer Stunde aufgehört.«
»Wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Siehst auch aus, als wär dein Gehirn auf einem anderen Planeten.«
»Dann wird es wohl so sein.« Gurneys Ton war schärfer als beabsichtigt.
Hardwick blieb ungerührt. »Sparst du mit dem Holzofen Geld?«
»Was?«
»Sparst du mit dem Holzofen im Vergleich zu Öl?«
»Woher soll ich das wissen? Warum bist du hier, Jack?«
»Kann man nicht einfach mal bei einem Kumpel vorbeischauen und ein bisschen quatschen?«
»Wir sind beide nicht der Typ, der einfach mal bei jemandem vorbeischaut. Und wir halten auch beide nicht viel vom Quatschen. Also, was führt dich her?«
»Der Mann will zur Sache kommen. Okay, das respektiere ich. Keine Zeit verschwenden. Wie wär’s, wenn du mir einen Kaffee und einen Stuhl anbietest?«
»Okay«, knurrte Gurney. »Ich mach Kaffee. Den Platz zum Hinsetzen darfst du dir selbst aussuchen.«
Hardwick schlenderte zum anderen Ende des Raums und begutachtete das Mauerwerk des alten Kamins. Gurney schaltete die Kaffeemaschine ein.
Einige Minuten später saßen sie sich in den zwei Lehnstühlen am Kamin gegenüber.
»Nicht schlecht«, bemerkte Hardwick, nachdem er den Kaffee probiert hatte.
»Ziemlich gut sogar. Also, raus mit der Sprache, was willst du, Jack?«
Er antwortete erst nach dem nächsten Schluck. »Ich dachte an einen kleinen Informationsaustausch.«
»Ich hab keine Informationen zum Austauschen.«
»Doch, hast du. Da bin ich mir ganz sicher. Also, wie wär’s? Ich sag dir meins, und du sagst mir deins.«
Verblüfft merkte Gurney, wie es in ihm brodelte. »Na schön, Jack. Warum nicht? Du zuerst.«
»Ich hab mich wieder mit meinem Freund bei Interpol unterhalten. Hab ein bisschen gebohrt wegen ›Sandys Höhle‹. Und weißt du was? Es hieß auch ›Alessandros Höhle‹. Manchmal so, manchmal so. Ist das jetzt ein großer Schock für dich?«
»Wieso soll es ein Schock sein?«
»Beim letzten Mal warst du doch so sicher, dass es nur ein Zufall ist. Hast du deine Meinung geändert?«
»Ich denke schon. So viele Alessandros kann es im Sexfotogeschäft kaum geben.«
»Genau. Also hast du das kleine Absinthglas von Saul Steck, der unter dem Namen Alessandro für Karnala Bilder von Mapleshade-Absolventinnen macht, die kurz darauf verschwinden. Dann verrat mir jetzt mal, Kumpel, was der Scheiß soll. Und wenn du schon dabei bist, kannst du mir gleich auch noch deinen Gesichtsausdruck heute Nachmittag erklären, als du neben Holdenfield gestanden und auf die Karnala-Anzeige geglotzt hast.«
Mit geschlossenen Augen lehnte sich Gurney zurück und setzte die Kaffeetasse an die Lippen. Er schmeckte unglaublich gut. Erst nach mehreren bedächtigen Schlucken öffnete er die Augen. Die Tasse noch immer vor dem Mund musterte er sein Gegenüber. Hardwick saß genauso da wie er, die Tasse erhoben, und beobachtete ihn. Dann mussten sie gleichzeitig lachen und stellten die Tassen auf die Sessellehnen.
»Na ja«, begann Gurney. »Wenn alle Stricke reißen, bleibt selbst den Bösen manchmal kein anderer Ausweg als Aufrichtigkeit.« Die möglichen Konsequenzen entschlossen beiseiteschiebend, erzählte er Hardwick die ganze Sonya-Jykynstyl-Rohypnol-Geschichte bis hin zu den anschließenden SMS und dem Wiedererkennen des Schlafzimmers aus dem Sandsteinhaus in den Karnala-Anzeigen. Als er zum Ende kam, war sein Kaffee lauwarm. Trotzdem trank er ihn leer.
»Gottverdammte Kacke«, fauchte Hardwick plötzlich. »Ist dir eigentlich klar, in was für eine Lage du mich bringst?«
»Dich?«
»Du erzählst mir das alles, und jetzt sitze ich in der gleichen Scheiße wie du.«
Gurney fühlte unendliche Erleichterung, hielt es aber für keine gute Idee, das zu zeigen. »Und was sollen wir deiner Meinung nach jetzt machen?«
»Meine Meinung willst du wissen? Du bist doch das verdammte Genie, das wichtige neue Beweise in einer Morduntersuchung zurückhält und damit eine Straftat begeht. Und wie schaut es bei mir aus, nachdem du mir das alles auf die Nase gebunden hast? Erraten, ich halte wichtige neue Beweise in einer Morduntersuchung zurück und begehe damit eine Straftat! Außer ich geh sofort zu Rodriguez und häng dich hin. Mann, Gurney! Und jetzt fragst du mich, was wir machen sollen? Und glaub bloß nicht, dass ich nicht gemerkt habe, wie du auf einmal dieses ›wir‹ ins Gespräch eingeschmuggelt hast. Du bist das verdammte Genie und hast dich selbst in diesen Schlamassel reingeritten. Also, dann streng mal deine Birne an, damit du wieder rauskommst.«
Je mehr sich Hardwick aufregte, desto erleichterter war Gurney, denn das bedeutete, dass Hardwick zumindest fürs Erste zum Schweigen bereit war.
»Ich glaube, wenn wir den Fall lösen, dann erledigt sich auch der Schlamassel.«
»Ach so, klar. Warum bin ich da nicht allein draufgekommen? Wir müssen bloß den Fall lösen. Was für eine tolle Idee!«
»Sprechen wir es wenigstens mal durch, Jack. Wir legen alle Möglichkeiten auf den Tisch und sehen, worauf wir uns einigen können. Vielleicht sind wir der Lösung näher, als wir ahnen.« Kaum hatte er die Worte gesagt, wurde ihm klar, dass er nicht daran glaubte. Aber ein Rückzieher würde klingen, als hätte er die Kontrolle verloren. Vielleicht war es auch so.
Hardwick beäugte ihn zweifelnd. »Dann los, Sherlock, ich bin ganz Ohr. Ich kann bloß hoffen, dass dir von dieser Gedächtnisschwund-Droge nicht das Hirn durchgeschmort ist.«
Um seine Bestürzung zu überspielen, schenkte sich Gurney noch eine Tasse Kaffee ein und setzte sich wieder. »Okay, ich stelle es mir als eine Art H vor.«
»Was stellst du dir als H vor?«
»Die Struktur der Ereignisse. Ich sehe die Sachen meistens geometrisch. Die eine Vertikale von dem H ist das eingeführte Familienunternehmen der Skards – hauptsächlich das weltweite Angebot illegaler, teurer Formen sexueller Befriedigung. Laut den Informationen von Interpol sind die Skards eine besonders bösartige und skrupellose Verbrecherfamilie. Von Jordan Ballston wissen wir, dass sie über Karnala im extremsten und tödlichsten SM-Bereich des Sexgewerbes operieren und sorgfältig ausgewählte junge Frauen an reiche Psychopathen verkaufen.«
Hardwick nickte zustimmend.
Gurney fuhr fort. »Die andere Vertikale ist die Mapleshade Academy. Das weißt du schon fast alles, aber ich möchte es noch mal durchgehen. In Mapleshade werden Mädchen mit starken sexuellen Obsessionen behandelt, Obsessionen, die zu einem rücksichtslosen Missbrauchsverhalten führen. In den letzten Jahren hat sich das Internat ausschließlich auf diese Klientel konzentriert und sich einen guten fachlichen Ruf erworben, dank Scott Ashtons hohen akademischen Ansehens. In dieser Sparte der Psychopathologie ist er ein echter Star. Angenommen, die Skards sind auf das Potenzial von Mapleshade aufmerksam geworden.«
»Das Potenzial für sie?«
»Genau. Mapleshade bietet ein Reservoir von Opfern sexueller Gewalt, die zugleich Täterinnen sind. Für die Skards müsste das doch aussehen wie ein erlesener Markt für Fleischwaren, wenn ich das mal so ausdrücken darf.«
Hardwicks blassblaue Augen schienen nach Rissen in Gurneys Logik zu suchen. »Leuchtet mir ein. Was ist die Querstrebe von deinem H?«
»Die Querstrebe, die die Skards mit Mapleshade verbindet, ist der Mann, der sich Hector Flores nennt. Allem Anschein nach hat er sich bei Ashton nützlich gemacht und sein Vertrauen gewonnen, um sich in Mapleshade einzuschleichen.«
»Aber keins von den Mädchen ist verschwunden, solange sie noch Schülerin war.«
»Nein. Das hätte sofort den Alarm ausgelöst. Es besteht ein Riesenunterschied zwischen einem ›Kind‹, das aus einem Internat verschwindet, und einer ›Erwachsenen‹, die aus freien Stücken das Elternhaus verlässt. Ich vermute, dass er Mädchen angesprochen hat, die kurz vor dem Abschluss standen. Sicher hat er erst allgemein vorgefühlt, ganz vorsichtig, und nur denen ein konkretes Angebot gemacht, bei denen er sich sicher war, dass sie annehmen. Dann hat er ihnen erklärt, wie sie von zu Hause wegkommen, ohne Verdacht zu erwecken, und vielleicht sogar ein Transportmittel organisiert. Möglicherweise war dafür auch jemand anders in der Organisation zuständig, vielleicht die Person, die die Filme von den jungen Frauen gemacht hat, wie sie über ihre sexuellen Obsessionen reden.«
»Das wäre dein Kumpel Saul Steck – alias Alessandro, alias Jay Jykynstyl.«
»Gut möglich.« Gurney ignorierte die Stichelei.
»Und wie hätte Flores den Autostreit begründet?«
»Vielleicht hat er ihnen gesagt, dass es eine notwendige Vorsichtsmaßnahme ist, damit keine Vermisstensuche eingeleitet wird und sie womöglich bei ihrem Wohltäter gefunden werden – eine für alle Beteiligten peinliche Angelegenheit und außerdem natürlich das Ende der Abmachung.«
Hardwick nickte. »Flores macht diesen verrückten Gören also vor, dass er einen heißen Dating-Service für eine echte Höllenhochzeit führt. Nachdem die junge Dame das Haus des Erwählten betreten hat – natürlich ohne eine Spur zu hinterlassen –, muss sie allerdings feststellen, dass die Sache anders läuft, als sie sich das vorgestellt hat. Aber da ist es schon zu spät. Denn der kranke Schweinehund, der sie gekauft hat, hat nicht die Absicht, sie noch einmal aus seinen Fängen zu lassen. Den Skards ist das recht. Sehr recht sogar, wenn wir Ballstons Geschichte über das Sahnehäubchen glauben, die ›Gefälligkeit‹, die darin besteht, das Ganze mit einer geschmackvollen Enthauptung ausklingen zu lassen.«
»Das wäre so ziemlich alles«, bemerkte Gurney. »Die Theorie lautet also, dass Hector Flores oder Leonardo Skard, wenn das seine wahre Identität ist, der Hauptmittelsmann einer mörderischen Partneragentur für gefährliche Sexbesessene war – manche gefährlicher als andere. Natürlich ist das nur eine Theorie.«
»Aber fürs Erste keine schlechte. Allerdings erklärt sie nicht, warum Jillian Perry an ihrem Hochzeitstag abgemurkst wurde.«
»Ich glaube, Jillian hatte mit Hector Flores zu tun und hat dann irgendwann rausgefunden, wer er in Wirklichkeit ist – vielleicht sogar, dass er Skard heißt.«
»Mit ihm zu tun? Inwiefern?«
»Vielleicht brauchte Hector eine Helferin. Vielleicht war Jillian die Erste, an die er sich nach seiner Ankunft in Mapleshade herangemacht hat, als sie dort noch zur Schule ging. Vielleicht hat er ihr alles Mögliche versprochen. Vielleicht war sie seine Spionin und hat ihm bei der Auswahl aussichtsreicher Kandidatinnen geholfen. Und dann war sie irgendwann nicht mehr nützlich, oder sie war so verrückt, ihn zu erpressen, nachdem sie seine Identität aufgedeckt hatte. Ihre Mutter hat mir erzählt, dass Jillian gern mit dem Feuer gespielt hat – und wenn man jemanden aus der Familie Skard bedroht, spielt man wirklich mit dem Feuer.«
Hardwick wirkte skeptisch. »Und deswegen hat er ihr an ihrem Hochzeitstag den Kopf abgeschnitten?«
»Oder am Muttertag, wie Becca angemerkt hat.«
»Becca?« Hardwick zog spöttisch die Augenbraue hoch.
»Lass den Quatsch.«
»Und was ist mit Savannah Liston? Auch eine Flores-Spionin, die nicht mehr nützlich war?«
»Eine brauchbare Hypothese.«
»Sie war es doch, die dir letzte Woche von den zwei Absolventinnen erzählt hat, die sie nicht erreichen konnte. Warum sollte sie so was tun, wenn sie für Flores gearbeitet hat?«
»Vielleicht hat er sie dazu aufgefordert. Damit ich ihr vertraue und ihr was erzähle. Möglicherweise hat er mitbekommen, dass die Untersuchung wieder Fahrt aufnimmt, und das heißt natürlich, dass wir mit Mapleshade-Absolventinnen reden. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis wir rausfinden, dass viele Absolventinnen nicht erreichbar sind. Vielleicht sollte mich Savannah informieren, um den Anschein zu wecken, dass sie zu den Guten gehört.«
»Glaubst du, dass sie es gewusst hat … dass auch Jillian es gewusst hat?«
»Was mit den Frauen passiert, die Flores mit ihrer Hilfe angeworben hat? Das bezweifle ich. Wahrscheinlich haben sie Hector einfach abgenommen, dass er nur Frauen und Männer mit besonderen Interessen zusammenbringen will und dass man für die Vermittlung eine ordentliche Provision bekommt. Natürlich kann ich das nicht mit Sicherheit sagen. Möglicherweise ist die ganze Geschichte eine einzige Falltür zur Hölle, und ich habe überhaupt keine Ahnung, was in Wirklichkeit läuft.«
»Scheiße, Gurney. Deine Zuversicht macht einem richtig Mut. Was schlägst du als nächsten Schritt vor?«
Darauf hatte Gurney keine Antwort, doch das Läuten des Telefons bewahrte ihn davor, dieses peinliche Geständnis ablegen zu müssen.
Robin Wigg war dran. Wie üblich kam sie ohne jede Einleitung zur Sache. »Ich habe erste Ergebnisse von den Laboruntersuchungen an den Stiefeln, die in Listons Bungalow entdeckt wurden. Captain Rodriguez hat mir erlaubt, sie mit Ihnen zu besprechen, da Sie die Tests angeregt haben. Passt es Ihnen gerade?«
»Auf jeden Fall. Was haben Sie rausgefunden?«
»Viel, was man erwarten konnte, und eine völlig unerwartete Sache. Soll ich damit beginnen?« Wiggs ruhiger, geschäftsmäßiger Alt hatte etwas an sich, das Gurney von jeher gefiel. Unabhängig vom Inhalt ihrer Worte brachte der Ton zum Ausdruck, dass die Ordnung das Chaos besiegen konnte.
»Gern. Meistens steckt die Lösung in einer Überraschung.«
»Ja, da kann ich nur zustimmen. Die Überraschung war das Vorhandensein eines bestimmten Pheromons auf den Stiefeln: Methyl-p-hydroxybenzoat. Kennen Sie sich auf diesem Gebiet aus?«
»Chemie habe ich an der Highschool ausgelassen. Fangen Sie lieber mit den Grundlagen an.«
»Eigentlich alles ganz einfach. Pheromone sind Drüsenabsonderungen, die dazu dienen, Informationen von einem Tier zum anderen zu übertragen. Je nach Pheromon wird das Tier angezogen, gewarnt, beruhigt oder erregt. Methyl-p-hydroxybenzoat ist ein starkes Lockpheromon bei Hunden, und es wurde in hohen Konzentrationen auf beiden Stiefeln identifiziert.«
»Und welche Wirkung hat dieses Pheromon?«
»Jeder männliche Hund würde mühelos und voller Eifer einer Spur folgen, die ein Mensch mit solchen Stiefeln hinterlässt.«
»Wie kommt man an das Zeug ran?«
»Manche Hundepheromone sind käuflich zu erwerben für den Gebrauch in Tierheimen und bei Umerziehungsmaßnahmen. Möglicherweise stammt es auch direkt von einer Hündin im Östrus.«
»Interessant. Kann so eine Chemikalie Ihrer Meinung nach auch zufällig auf die Stiefel geraten sein?«
»In dieser Konzentration? Höchstens bei einer Expolosion in einer Pheromon-Abfüllfabrik. Ansonsten nicht.«
»Sehr aufschlussreich. Vielen Dank, Sergeant. Ich gebe Sie an Jack Hardwick weiter. Schildern Sie ihm bitte das Gleiche wie mir, für den Fall, dass er auch noch was wissen will.«
Tatsächlich stellte Hardwick eine Frage. »Mit einem Lockpheromon, das von einer Hündin im Östrus abgesondert wird, meinen Sie einen weiblichen Sexualgeruch, den kein männlicher Hund ignorieren kann, richtig?«
Er lauschte der kurzen Antwort und beendete das Gespräch. Aufgeregt reichte er Gurney das Telefon. »Heilige Scheiße. Der unwiderstehliche Duft einer läufigen Hündin. Wie findest du das, Sherlock?«
»Offensichtlich wollte Flores ganz sichergehen, dass der Suchhund der Spur folgt.«
»Das heißt, ihm kam es darauf an, dass wir die Machete finden.«
»Kein Zweifel«, pflichtete Gurney bei. »Und zwar schnell. Beide Male.«
»Also, wie stellen wir uns das jetzt vor? Er säbelt ihnen den Kopf ab, steigt in die präparierten Stiefel, rennt hinaus in den Wald, schmeißt die Machete weg, kommt zurück zum Tatort, zieht die Stiefel aus … Und dann?«
»In Savannahs Fall entfernt er sich einfach, zu Fuß oder mit dem Auto. Nur bei Jillian ist es nicht nachvollziehbar.«
»Wegen dieser Videosache?«
»Erstens das, und zweitens bleibt die Frage, wohin er nach der Rückkehr zum Cottage verschwunden ist.«
»Neben der grundsätzlichen Frage, warum er überhaupt zurückgekommen ist.«
Gurney lächelte. »Ich glaube, diese kleine Sache hab ich verstanden. Er ist zurückgekommen, um die Stiefel gut sichtbar zu hinterlassen, damit der Suchhund diesen Lockstoff riecht und ihm sofort zur Mordwaffe folgt.«
»Damit wären wir wieder beim großen Warum.«
»Und bei der Machete. Ich sag dir was, Jack. Wenn wir rausfinden, wie sie an diese Stelle gelangt ist, ohne dass die Kamera es erfasst hat, dann können wir auch den Rest des Puzzles zusammensetzen.«
»Meinst du?«
»Du nicht?«
Hardwick zuckte die Achseln. »Manche sagen, man muss immer dem Geld folgen. Im Gegensatz dazu schwörst du auf Diskrepanzen: Man muss dem Teilchen folgen, das nicht passt.«
»Und was sagst du?«
»Man muss dem folgen, was immer wieder auftaucht. Und was in diesem Fall immer wieder auftaucht, ist Sex. Soweit ich das sehe, geht es in diesem ganzen verdrehten Fall auf die eine oder andere Weise ausschließlich um Sex. Edward Vallory. Tirana Zog. Jordan Ballston. Saul Steck. Die ganze Skard-Organisation. Scott Ashtons psychiatrische Spezialisierung. Die möglichen Fotos, die dir so eine Scheißangst einjagen. Sogar die bescheuerte Spur zur Machete hat was mit Sex zu tun – der überwältigende Geruch einer läufigen Hündin. Weißt du, was ich denke, Kumpel? Es ist höchste Zeit, dass wir mal dem Epizentrum dieses sexuellen Erdbebens einen Besuch abstatten – der Mapleshade Academy.«