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Ein guter Rat
Als Gurney unter dichter werdenden Wolken durch die Badger Lane fuhr, erschienen die malerischen Häuser auf einmal düster und distanziert. Er freute sich schon auf die idyllischen Täler zwischen Tambury und Walnut Crossing.
Dass er noch einmal herkommen musste, weil Ashton das Gespräch beendet hatte, störte Gurney überhaupt nicht. So hatte er Zeit, seine ersten Eindrücke von dem lebenden Menschen und die Äußerungen seiner exzentrischen Nachbarn zu verarbeiten. Wenn er Gelegenheit fand, das Ganze zu sortieren, konnte er erste Zusammenhänge herstellen und sich die richtigen Fragen für morgen zurechtlegen. Er beschloss, sich im Quick Mart an der Route 10 den größten dort erhältlichen Becher Kaffee zu holen und sich Notizen zu machen.
An der Kreuzung bei Calvin Harlens verwahrloster Farm blockierte ein quer stehender schwarzer Wagen die Straße. Zwei muskulöse junge Kerle mit identischem Outfit aus Kurzhaarschnitt, Sonnenbrille, dunkler Jeans und glänzender Windjacke lehnten an den Türen und beobachteten, wie Gurney sich näherte. Da es sich bei dem Auto um einen Ford Crown Victoria handelte – der als Polizeifahrzeug genauso leicht zu erkennen war wie ein Streifenwagen mit plärrender Sirene –, stellten die Namensschilder der State Police an ihren Jacken keine große Überraschung dar.
Sie schlenderten auf Gurney zu, jeder auf einer Seite seines Wagens.
»Führerschein und Fahrzeugpapiere«, sagte der auf Gurneys Seite in nicht besonders freundlichem Ton.
Gurney hatte schon die Brieftasche in der Hand, doch dann zögerte er. »Blatt?«
Der Mund des Mannes zuckte, als wäre eine Fliege darauf gelandet. Langsam nahm er die Brille ab. Seine Augen waren klein und fies. »Woher kenne ich Sie?«
»Der Fall Mellery.«
Er grinste. Je breiter das Grinsen wurde, desto gemeiner wurde es. »Gurney, stimmt’s? Das Genie aus der Scheißstadt. Was treiben Sie denn hier?«
»War zu Besuch.«
»Zu Besuch? Bei wem?«
»Wenn ich es für richtig halte, Ihnen das mitzuteilen, werde ich es tun.«
»Für richtig? Für richtig? Aussteigen.«
Ruhig folgte Gurney dem Befehl. Der andere Beamte hatte inzwischen das Heck des Subarus erreicht.
»Und jetzt Führerschein und Fahrzeugpapiere.«
Gurney reichte die beiden Dokumente Blatt, der sie mit großer Sorgfalt inspizierte. Schließlich stieg er in seinen Crown Victoria und fing an, auf die Tastatur seines Bordcomputers einzuhacken. Sein Kollege beobachtete Gurney, als wäre er drauf und dran, über die Higgles Road in die Dornbüsche zu flüchten. Gurney lächelte matt und versuchte, das Namensschild des Beamten zu lesen, doch in der Plastikfassung spiegelte sich das Licht. Er gab es auf und stellte sich vor. »Ich bin Dave Gurney, Detective der New Yorker Mordkommission im Ruhestand.«
Der Mann deutete ein Nicken an. Mehrere Minuten verstrichen. Und einige weitere. Mit verschränkten Armen lehnte sich Gurney an die Autotür und schloss die Augen. Er hatte wenig Lust auf sinnlose Verzögerungen, und auch die Komplexität des Falls machte ihn mürbe. Seine berühmte Geduld ließ ihn im Stich. Blatt stieg aus und gab ihm seine Dokumente zurück, als wären sie ihm lästig geworden.
»Was treiben Sie hier?«
»Das haben Sie mich schon mal gefragt.«
»Okay, Gurney, dann reden wir mal Klartext. Hier läuft eine Morduntersuchung. Haben Sie verstanden? Eine Morduntersuchung. Großer Fehler, sich da einzumischen. Strafvereitelung. Behinderung der Ermittlungen zu einem Schwerverbrechen. Kapiert? Also frage ich noch einmal: Was machen Sie auf der Badger Lane?«
»Tut mir leid, Blatt. Privatsache.«
»Sie behaupten also, dass Sie nicht wegen dem Fall Perry da sind?«
»Ich behaupte gar nichts.«
Blatt wandte sich zu seinem Kollegen um, spuckte auf den Boden und deutete mit dem Daumen auf Gurney. »Das ist der Typ, wegen dem im Fall Mellery am Schluss fast alle krepiert wären.«
Um ein Haar hätte die hirnrissige Anschuldigung einen Schalter in Gurney umgelegt, von dessen Existenz die wenigsten Menschen etwas ahnten.
Vielleicht hatte der andere Beamte ein mulmiges Gefühl, oder Blatts feindseliges Auftreten hatte ihn schon öfter in Schwierigkeiten gebracht. Möglicherweise war ihm auch einfach nur ein Licht aufgegangen. »Gurney? Ist das nicht der mit den ganzen Auszeichnungen von der New Yorker Polizei?«
Blatt blieb ihm die Antwort schuldig. Trotzdem entschärfte die Frage die Situation zumindest so weit, dass sie nicht weiter eskalierte.
Dumpf starrte er Gurney an. »Ein guter Rat: Halten Sie sich raus und verschwinden Sie, und zwar plötzlich. Wenn Sie diesen Fall auch nur schief anschauen, dann buchte ich Sie wegen Behinderung der Justiz ein, das garantiere ich.« Er hob die Hand, zielte mit dem Zeigefinger zwischen Gurneys Augen und ließ den Daumen niedersausen wie einen Hahn.
Gurney nickte. »Hab verstanden, aber … ich hätte eine Frage. Angenommen, ich finde raus, dass all Ihre Annahmen zu diesem Fall Schwachsinn sind. An wen soll ich mich dann wenden?«