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Déjà-vu
Unerschütterliche Beherrschung, Konzentration aufs Wesentliche und die objektive Überprüfung der Fakten waren die tragenden Säulen für Gurneys Erfolge als Mordermittler gewesen.
Doch in diesem Augenblick hatte er größte Mühe, sich auf diese Qualitäten zu besinnen. In seinem Kopf ging es drunter und drüber vor unbekannten Faktoren und schrecklichen Möglichkeiten.
Wer zum Teufel war dieser Jykynstyl? Oder sollte er besser fragen, wer zum Teufel war dieser Typ, der sich als Jykynstyl ausgab? Was war der Zweck der Drohung? Es war ziemlich sicher, dass es sich um etwas Kriminelles handelte. Die Hoffnung, dass er nur einen alkoholbedingten Blackout gehabt hatte, konnte er angesichts der SMS vergessen. Er musste der Tatsache ins Auge sehen, dass man ihm Drogen gegeben hatte und dass das schlimmste Szenario mit Rohypnol eingetreten war.
Rohypnol und Alkohol. Ein Cocktail, der enthemmt und zu Gedächtnisverlust führt. Die Date-Rape-Droge. Die Droge, die Ängste und Skrupel zerstreut. Die Droge, die moralische und praktische Hemmungen beseitigt, die das Eingreifen von Vernunft und Gewissen blockiert, die einen Menschen auf die Summe seiner urtümlichen Begierden reduziert. Die Droge, die innere Regungen, und seien sie noch so verrückt, in Taten umsetzt, und seien sie noch so schädlich. Die Droge, die ohne Rücksicht auf die Folgen für den Betroffenen den Bedürfnissen des primitiven Echsengehirns Vorrang verleiht, und die das – sechs bis zwölf Stunden dauernde – Erlebnis hinterher mit einer undurchdringlichen Amnesie verschleiert. Fast als wäre sie erfunden worden, um Katastrophen herbeizuführen. Katastrophen, wie Gurney sie sich ausmalte, während er hilflos darum rang, das Unbegreifliche zu begreifen.
Von Madeleine hatte er gelernt, an ein Handeln in kleinen, einfachen Schritten zu glauben. Doch wenn nichts einen Sinn ergab und in jeder Richtung eine schattenhafte Bedrohung lauerte, fiel es schon schwer, sich für den ersten Schritt zu entscheiden.
Immerhin gelangte er zu der Einsicht, dass es ihm nicht half, wenn er hier weiter vor seiner ehemaligen Schule parkte. Selbst wenn er ohne festen Plan losfuhr, konnte er zumindest erkennen, ob man ihn beobachtete oder ihm folgte. Bevor er sich wieder in wirren Gegenargumenten verheddern konnte, startete er den Wagen und wartete, bis die Ampel an der Kreuzung auf Grün sprang und drei Taxis vorbeigebraust waren. Dann schaltete er die Scheinwerfer an, lenkte das Auto schnell auf die Straße und schaffte es gerade noch über die Madison Avenue, bevor die Ampel rot wurde. An mehreren Kreuzungen bog er wahllos ab, bis er sicher war, dass ihn niemand beschattete. Dann steuerte er auf der Ostseite von Manhattan in südliche Richtung.
Ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, erreichte Gurney schließlich die Gegend, in der Jykynstyls Domizil lag. Er fuhr daran vorbei und einmal um den Block. In den Fenstern des Sandsteinhauses brannte kein Licht. Er stoppte in der gleichen Parkverbotszone wie vor neun Stunden.
Er war fahrig und unsicher, wie er weiter vorgehen sollte, doch allein, dass er überhaupt etwas tat, beruhigte ihn. Ihm fiel ein, dass er Jykynstyls Telefonnummer in der Brieftasche hatte – Sonya hatte sie ihm gegeben für den Fall, dass er in einen Stau geriet. Ohne lang zu überlegen, was er sagen sollte, gab er die Nummer ein. Vielleicht etwas wie: »Wahnsinnsparty, Jay! Haben Sie Fotos?« Oder mehr in Hardwicks Manier: »Hey, Arschgesicht, wenn du dich mit mir anlegst, kriegst du eine Kugel zwischen deine Scheißaugen.« Letztlich konnte er überhaupt nichts davon anbringen, da ihm eine Tonbandstimme erklärte, dass kein Anschluss unter dieser Nummer bestand.
Es drängte ihn, an die Tür zu klopfen, bis jemand öffnete. Dann erinnerte er sich an Jykynstyls Bemerkung, dass er immer in Bewegung war, dass er nirgends lange blieb. Bestimmt war das Sandsteinhaus leer und der Mann längst verschwunden. Klopfen war völlig sinnlos.
Eigentlich musste er Madeleine verständigen, dass es spät werden würde. Aber wie spät genau? Sollte er ihr von seiner Amnesie erzählen? Davon, dass er gegenüber von seiner alten Highschool aufgewacht war? Von der Drohung mit irgendwelchen Fotos? Oder würde er sie damit nur grundlos zu Tode ängstigen?
Vielleicht sollte er lieber zuerst Sonya anrufen, um zu erfahren, ob sie etwas Erhellendes zu der ganzen Angelegenheit sagen konnte. Wie viel wusste sie über diesen Jay Jykynstyl? War das Angebot von hunderttausend Dollar überhaupt ernst gemeint gewesen? Oder handelte es sich nur um eine List, um ihn zu einem privaten Mittagessen in die Stadt zu locken? Um ihn unter Drogen setzen zu können und … und was?
Sollte er sich vielleicht besser in einer Notaufnahme untersuchen lassen, um herauszufinden, welche Chemikalien er eingenommen hatte, bevor sie sich völlig auflösten? Damit hätte er wenigstens einen handfesten Beweis statt vager Verdachtsmomente. Allerdings musste er bei einem offiziellen Drogentest mit Fragen und Komplikationen rechnen. Ein klassisches Dilemma: Er wollte herausfinden, was passiert war, bevor er offizielle Maßnahmen ergriff, um herauszufinden, was passiert war.
Während er immer mehr in einem Sumpf aus Unentschlossenheit versank, bremste direkt vor dem Sandsteinhaus ein großer weißer Lieferwagen. Vorbeigleitende Scheinwerfer ließen den grünen Schriftzug einer Reinigungsfirma erkennen: WHITE STAR COMMERCIAL CLEANING.
Gurney hörte, wie sich auf der anderen Seite des Wagens eine Schiebetür öffnete. Dann folgte ein kurzer Wortwechsel auf Spanisch, und die Tür schloss sich wieder. Der Lieferwagen entfernte sich und ließ im Halbdunkel des Hauseingangs einen Mann und eine Frau in schäbiger Uniform zurück.
Der Mann schloss mit einem Schlüssel auf, der an seinem Gürtel hing. Sie betraten das Gebäude, und kurz darauf ging im Foyer das Licht an. Wenig später wurde es auch hinter einem Fenster im Erdgeschoss hell. Danach folgten in zweiminütigen Abständen Lichter in allen Fenstern des dreistöckigen Gebäudes.
Gurney beschloss, sich irgendwie hineinzumogeln. Er sah aus wie ein Cop, klang wie ein Cop, und seine Mitgliedskarte vom Verband pensionierter Polizeibeamter war leicht mit dem Ausweis eines Aktiven zu verwechseln.
Als er zur Haustür kam, stellte er fest, dass sie noch offen war. Er trat ins Vestibül und lauschte. Keine Schritte, keine Stimmen. Er probierte es mit der Tür zum Foyer. Sie war unverschlossen. Nachdem er aufgemacht hatte, lauschte er erneut. Nur das gedämpfte Summen eines Staubsaugers aus einer der oberen Etagen war zu vernehmen. Schnell schlüpfte er hinein und zog sanft die Tür hinter sich zu.
Die Reinigungskräfte hatten alle Lampen eingeschaltet, und das große Foyer erschien ihm kälter und nackter, als er es in Erinnerung hatte. Das grelle Licht nahm der Mahagonitreppe, dem auffallendsten Merkmal des Raums, viel von ihrer Vornehmheit. Auch die holzgetäfelten Wände wirkten auf einmal billiger, als hätte ihnen der ungeschminkte Schein die antike Patina geraubt.
An der hinteren Wand waren zwei Türen. Eine davon führte zu dem kleinen Aufzug, in dem ihn Jykynstyls Tochter hinaufbegleitet hatte – falls sie überhaupt seine Tochter war, was er inzwischen bezweifelte. Die Tür daneben war angelehnt und das Zimmer dahinter genauso hell erleuchtet wie das Foyer.
In einer Immobilienanzeige hätte man vielleicht von einem Medienraum gesprochen. Er wurde von einem großen Flachbildschirm beherrscht, um den in verschiedenen Winkeln ein halbes Dutzend Lehnsessel gruppiert waren. In der hinteren Ecke gab es eine Bar, und an einer Wand befand sich ein Geschirrschrank mit Wein- und Cocktailgläsern sowie Glastellern, die sich für elegante Nachspeisen oder den Konsum von Kokain eigneten. Die Schubladen des Geschirrschranks waren leer. Die Fächer und der kleine Kühlschrank der Bar waren verschlossen. Er verließ das Zimmer so leise, wie er es betreten hatte, und steuerte auf die Treppe zu.
Der persische Läufer dämpfte seine Schritte, als er immer zwei Stufen auf einmal nehmend in den ersten und dann in den zweiten Stock hinaufhuschte. Hier war das Staubsaugergeräusch lauter, und er musste damit rechnen, dass die Reinigungskräfte bald herunterkommen würden. Also blieb ihm nur wenig Zeit, um sich umzuschauen. Durch einen Bogendurchgang gelangte er in einen Korridor mit fünf Türen. Die hintere führte bestimmt zum Aufzug, die anderen wahrscheinlich zu Schlafzimmern. Er trat zur nächsten und drehte so leise wie möglich den Knauf. In diesem Moment hörte er das gedämpfte Bremsen des Aufzugs am Ende des Gangs und das sanfte Rollen der Schiebetür.
Schnell trat er in den unbeleuchteten Raum und zog die Tür hinter sich zu, in der Hoffnung, dass die Reinigungskraft beim Verlassen des Lifts in eine andere Richtung geblickt hatte.
Allmählich dämmerte ihm, dass er sich in eine schwierige Situation gebracht hatte. Hier konnte er sich nicht verstecken, weil es zu dunkel war, um einen geeigneten Ort dafür zu erkennen, aber er durfte auch kein Licht machen, weil er sich damit unter Umständen verraten hätte. Und wenn man ihn hinter einer Schlafzimmertür ertappte, half ihm der Ausweis eines pensionierten Polizisten bestimmt auch nicht mehr weiter. Warum hatte er sich überhaupt hier eingeschlichen? Was hoffte er zu entdecken? Jykynstyls Brieftasche mit Hinweisen auf seine wahre Identität? Verschwörerische E-Mails? Die in der SMS erwähnten Fotos? Belastendes Material, um Jykynstyls Drohung zu neutralisieren? So was gab es doch nur in läppischen Gangsterfilmen. Warum kroch er also hier im Dunkeln herum wie ein bekloppter Einbrecher?
Im Korridor vor der Tür sprang dröhnend der Staubsauger an, und sein Schatten glitt hin und her über den ein Zentimeter breiten Lichtstreifen unter der Tür. Vorsichtig drückte er sich an die Wand und tastete sich voran. Draußen auf der anderen Seite des Gangs öffnete sich eine Tür. Kurz darauf wurde der Staubsauger leiser. Die Reinigungskraft hatte wohl das Zimmer gegenüber betreten.
Allmählich gewöhnten sich Gurneys Augen an das Dunkel, und er konnte schemenhaft mehrere große Formen ausmachen: das Fußende eines großen Doppelbetts, die geschwungenen Umrisse eines Ohrensessels, einen Kleiderschrank vor einer helleren Wand.
Dann entschloss er sich zu einem riskanten Schritt und tastete nach dem Lichtschalter. Er fand einen Dimmer, den er zur Hälfte auf- und dann gleich wieder zudrehte. Hoffentlich waren die Reinigungskräfte so beschäftigt, dass sie das halbsekündige gedämpfte Aufblitzen unter der Tür nicht wahrgenommen hatten.
In dem kurzen Lichtmoment erkannte er ein geräumiges Schlafzimmer mit den bereits vermuteten Einrichtungsgegenständen, dazu zwei kleinere Stühle, eine niedrige Kommode mit einem kunstvollen Spiegel darüber und zwei Nachttische mit verschörkelten Lampen. Nichts daran war unerwartet oder sonderbar – bis auf seine Reaktion. Der Anblick der Szenerie rief sofort ein Déjà-vu-Gefühl in ihm wach. Er war sicher, dass er das alles schon einmal genau so gesehen hatte.
Dem intuitiven Eindruck von Vertrautheit folgte eine verstörende Frage: War er vor wenigen Stunden in diesem Zimmer gewesen? Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Er musste hier gewesen sein, hier in diesem Raum. Wie sonst hätten das Bett, die Position der Stühle und die Zierblende des Kleiderschranks solche Gefühle in ihm hervorrufen können?
Wichtiger noch, wie weit konnte einen die enthemmende Kraft von Rohypnol treiben? Wie viel von den eigenen Überzeugungen und Werten konnten von einer Droge weggefegt werden? Noch nie in seinem Leben hatte er sich so verletzlich und fremd gefühlt – wer war er und wozu war er fähig? – wie in diesem Augenblick.
Allmählich jedoch wurden Hilflosigkeit und Fassungslosigkeit verdrängt, als abwechselnd Wut und Furcht in ihm hochschwappten. Untypischerweise entschied er sich für die Wut. Stählerne Wut. Die Kraft und die Sturheit der Wut.
Er öffnete die Tür und trat hinaus ins Licht.
Das Brummen des Staubsaugers drang nun aus einem Zimmer weiter vorn. Schnell schlug Gurney den Weg in die entgegengesetzte Richtung ein, zurück zur Treppe. Die Fahrt mit dem Aufzug am Mittag hatte nur kurz gedauert, Salon und Speisesaal lagen also höchstwahrscheinlich im ersten Stock. In der Hoffnung, dort auf etwas zu stoßen, was seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen würde, lief er die Stufen hinunter.
Wie in der zweiten Etage gelangte er durch einen Bogendurchgang zu den Fluren. Kurz darauf betrat er den viktorianischen Salon, in dem er sich mit Jykynstyl getroffen hatte. Auch hier brannten alle Lichter und hatten eine ähnlich ernüchternde Wirkung wie auch sonst im Haus. Selbst die riesigen Topfpflanzen hatten ihre Pracht verloren. Er strebte in den Speisesaal. Geschirr, Gläser, Besteck – alles war weggeschafft worden. Das Holbein-Bild ebenfalls. Oder die Holbein-Kopie.
Gurney wurde klar, dass er überhaupt nichts Sicheres über seinen Mittagsbesuch hier wusste. Am besten ging er davon aus, dass jedes Detail daran vorgespiegelt war. Vor allem das überzogene Angebot für seine Verbrecherporträts. Die Vorstellung, dass alles nur Schwindel und die Aussicht auf Geld genauso trügerisch gewesen war wie die Bewunderung für seine Fähigkeiten und seine Einfühlung, versetzte seinem Ego einen überraschend harten Schlag. Verlegen musste er einsehen, wie viel ihm die Offerte und die damit verbundenen Schmeicheleien bedeutet hatten.
Er erinnerte sich daran, was ihm einmal ein Therapeut erklärt hatte: Wie sehr man an einer Sache hängt, erkennt man an der Stärke des Schmerzes, wenn sie einem weggenommen wird. Anscheinend waren ihm die potenziellen Vorteile der Jykynstyl-Fantasie genauso wichtig gewesen wie … wie die Überzeugung, dass sie ihm völlig unwichtig waren. Er kam sich vor wie ein doppelter Idiot.
Sein Blick wanderte durch den Speisesaal. Die ekstatische Vision einer Segelbootfahrt im Puget Sound stieß ihm sauer auf wie Essig. Er inspizierte die blank polierte Tischplatte. Nicht die Spur eines Flecks oder Fingerabdrucks. Er ging zurück in den Salon. Ein schwacher, komplexer Geruch hing in der Luft, der ihm schon vorher beim Eintreten aufgefallen war. Er versuchte, die Bestandteile zu identifizieren. Alkohol, abgestandener Rauch, Asche im Kamin, Leder, feuchte Pflanzenerde, Möbelpolitur, altes Holz. Nichts Überraschendes, nichts Störendes.
Er seufzte frustriert. Offenbar hatte er ganz umsonst das Risiko auf sich genommen, sich ins Haus zu stehlen. Alles hier strahlte eine feindselige Leere aus, und nichts sprach dafür, dass hier jemand wohnte. Das passte ja auch zu dem von Jykynstyl beschriebenen Wanderleben, und wo sich die »Töchter« aufhielten, war völlig unklar.
Das Staubsaugergeräusch einen Stock höher wurde lauter. Nach einem letzten Blick durch den Raum steuerte er auf die Treppe zu. Auf halbem Weg zum Erdgeschoss ließ ihn plötzlich eine lebhafte Erinnerung erstarren.
Der Geruch von Alkohol.
Das Likörgläschen.
Verdammt!
Hastig stürmte er wieder hinauf in den Salon, hinüber zu dem wuchtigen Ledersessel, in dem ihn Jykynstyl empfangen hatte, dem Sessel, aus dem sich der scheinbar gebrechliche Mann so mühsam erhoben hatte, dass er sich mit beiden Händen aufstützen musste. Und weil kein Tisch in der Nähe war, auf dem er sein Absinthglas hätte abstellen können …
Gurney griff zwischen die Blätter der dichten tropischen Pflanze. Da war es – verdeckt vom hohen Rand des Topfs und dem dunkel herabhängenden Laub. Vorsichtig wickelte er es in ein Taschentuch und steckte es in die Tasche.
Erst als er eine Minute später im Auto saß, fragte er sich, was er damit machen sollte.