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Eine andere Perspektive
Fast hätte er sie übersehen.
Als er die Stelle erreichte, wo die Schotterstraße auf sein Grundstück stieß und als grasbewachsener Feldweg durch die Wiese hinauf zum Haus führte, stieg links von ihm aus dem Wipfel einer hohen Schierlingstanne ein Habicht mit rotem Schwanz auf und flog über den Weiher. Als er beobachtete, wie der Greifvogel hinter den fernen Bäumen verschwand, bemerkte er plötzlich Madeleine auf der verwitterten Bank am Teichufer, halb verborgen hinter einem Dickicht aus Rohrkolben. Er stellte den Wagen an der alten roten Scheune ab, stieg aus und winkte.
Sie reagierte – möglicherweise – mit einem leisen Lächeln. Aus der Ferne konnte er es nicht genau erkennen. Er wollte mit ihr reden, spürte das Bedürfnis danach. Als er dem gewundenen Pfad um das grasbewachsene Ufer folgte, senkte sich die Stille des Ortes auf ihn herab. »Darf ich mich ein bisschen zu dir setzen?«
Sie nickte sachte, als würde eine deutlichere Antwort den Frieden stören.
Er ließ sich nieder. Auf der glatten Oberfläche des Weihers erblickte er das umgekehrte Spiegelbild der Zuckerahornbäume auf der anderen Seite, deren Blätter sich zum Teil bereits herbstlich verfärbten. Er wandte sich Madeleine zu, und mit einem Mal erfasste ihn die seltsame Vorstellung, dass die Ruhe in ihr nicht die Folge ihrer Umgebung war, sondern dass die Umgebung diese Eigenschaft aus einem tiefen Reservoir in Madeleine bezog. Es war nicht das erste Mal, dass er auf diesen Gedanken kam, doch seine unsentimentale Seite hatte ihn stets beiseitegeschoben.
»Ich brauche deine Hilfe, um ein paar Dinge zu sortieren.« Er sprach, fast ohne zu überlegen. Als sie nicht antwortete, fuhr er fort. »Ich hatte einen verwirrenden Tag. Mehr als verwirrend.«
Sie bedachte ihn mit einem Blick, der vieles bedeuten konnte – zum Beispiel, dass beim Fall Perry Verwirrung vorprogrammiert war. Andererseits bot ihm dieser Blick ein leeres Blatt, auf das er schreiben konnte.
So oder so, er redete weiter. »Ich hab mich noch nie so überlastet gefühlt. Hast du heute Morgen meine Notiz gefunden?«
»Wegen dem Treffen mit deiner Freundin aus Ithaca?«
»Ich würde sie nicht als Freundin bezeichnen.«
»Betreuerin?«
Er unterdrückte den Drang, über die Terminologie zu diskutieren und seine Unschuld zu beteuern. »Die Reynolds Gallery hat eine Anfrage von einem reichen Kunstsammler erhalten, der sich für meine Verbrecherporträts vom letzten Jahr interessiert.«
Madeleine zog spöttisch eine Augenbraue hoch, weil er die Galerie nannte anstatt der Person.
Mit ruhiger Stimme ließ er die Bombe platzen. »Er bietet mir hunderttausend Dollar für jeden Einzeldruck.«
»Das ist doch lächerlich.«
»Sonya behauptet, dass der Mann es ernst meint.«
»Aus welcher Irrenanstalt ist er entsprungen?«
Hinter dem Rohrkolbendickicht platschte es laut. Sie lächelte. »Ein großer.«
»Du meinst einen Frosch?«
»Entschuldige.«
Gurney schloss die Augen. Madeleines Desinteresse an seinem unverhofften Glück machte ihm mehr zu schaffen, als er sich eingestehen wollte. »Nach allem, was ich über die Kunstwelt weiß, ist sie tatsächlich so was wie eine riesige Irrenanstalt, nur dass einige Patienten einen Haufen Geld unter ihrer Matratze haben. Wie dieser Typ anscheinend.«
»Was will er für die hunderttausend Dollar?«
»Einen Druck, der nur ihm gehört. Ich müsste die Drucke vom letzten Jahr bearbeiten und irgendeine Veränderung einfügen, damit sie sich von allem unterscheiden, was die Galerie schon verkauft hat.«
»Und er ist seriös?«
»Angeblich. Und angeblich will er auch mehr als nur ein Bild. Sonya hält ein Geschäft im siebenstelligen Bereich für möglich.« Er wandte sich um, um Madeleines Gesicht zu mustern.
»Im siebenstelligen Bereich? Du meinst eine Million oder mehr?«
»Ja.«
»Mein Gott, das ist … wirklich was.«
Er starrte sie an. »Legst du es irgendwie darauf an, keine Reaktion zu zeigen?«
»Welche Reaktion soll ich denn zeigen?«
»Mehr Neugier? Zufriedenheit? Ein paar Ideen, was wir mit so einem Batzen Geld anfangen könnten?«
Sie runzelte die Stirn, dann strahlte sie. »Wir könnten einen Monat in der Toskana verbringen.«
»Das würdest du mit einer Million Dollar machen?«
»Welche Million Dollar?«
»Sieben Stellen, schon vergessen?«
»Nein. Aber das muss doch erst mal Realität werden.«
»Sonya meint, dass es schon Realität ist. Am Samstag treffe ich mich in der Stadt zum Abendessen mit dem Sammler, Jay Jykynstyl.«
»In der Stadt?«
»Bei dir klingt das fast wie ein Treffen in der Kanalisation.«
»Was genau sammelt er?«
»Keine Ahnung. Anscheinend Zeug, für das er eine Menge zahlt.«
»Du findest es glaubwürdig, dass er dir so viel Geld für aufpolierte Porträts von Verbrechervisagen geben will? Weißt du denn überhaupt, wer das ist?«
»Das werde ich gleich morgen rausfinden.«
»Merkst du überhaupt, was du da erzählst?«
Soweit er das an sich wahrnehmen konnte, war ihm tatsächlich nicht ganz wohl in seiner Haut. Aber das hätte er nie zugegeben. »Worauf willst du hinaus?«
»Du verstehst doch was davon, Geschichten zu zerpflücken. Keiner kann das so gut wie du.«
»Was meinst du?«
»Was ich meine? Du siehst die Ungereimtheiten – ›ein Auge für Diskrepanzen‹ hast du es mal genannt. Nun, für mich hört sich das an, als wäre auch hier ein bisschen Zerpflücken angebracht. Wie kommt es, dass du das nicht machst?«
»Vielleicht möchte ich erst noch mehr über die Sache erfahren und rausfinden, wer dieser Jykynstyl überhaupt ist.«
»Klingt vernünftig.« Ihr Ton war so sachlich, dass er wusste, sie dachte genau das Gegenteil. »Übrigens, was ist das eigentlich für ein Name?«
»Jykynstyl? Hört sich irgendwie holländisch an.«
Sie lächelte. »Für mich hört es sich an wie ein Ungeheuer aus einem Märchen.«