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Landleben
In der morgendlichen Septemberluft lag eine Stille wie im Herzen eines dahingleitenden U-Boots, das alle Motoren abgestellt hat, um sich den Abhörversuchen des Feindes zu entziehen. Die ganze Landschaft verharrte reglos im Griff einer unermesslichen Ruhe, der Ruhe vor dem Sturm, einer Ruhe so tief und unberechenbar wie der Ozean.
Der merkwürdig gedämpfte Sommer, der mit seiner matten Dürre das Gras und die Bäume langsam ausgelaugt hatte, war vorüber. Jetzt wurden die grünen Blätter bereits braun und lösten sich vereinzelt von den Ahorn- und Buchenästen. Keine guten Aussichten für einen farbenfrohen Herbst.
Dave Gurney stand an der Glastür seiner Bauernküche und blickte hinaus über den Garten und den gemähten Rasen; sie trennten das große Haus von der verwilderten Wiese, die sanft zum Weiher und zur alten roten Scheune abfiel. Ein vages Unbehagen beschlich ihn, während seine Aufmerksamkeit zwischen dem Spargelbeet und dem kleinen gelben Bulldozer neben der Scheune hin- und herpendelte. Missmutig nippte er an seinem Kaffee, der in der trockenen Luft bereits kalt wurde.
Düngen oder nicht düngen – das war die Spargelfrage. Zumindest war es die erste Frage. Falls die Antwort Ja lautete, warf das sogleich die nächste Frage auf: verpackt oder unverpackt? Auf verschiedenen, von Madeleine empfohlenen Webseiten hatte er erfahren, dass der Dünger beim Spargel der Schlüssel zum Erfolg war; trotzdem war ihm nicht klar, ob er die Frühlingsdosis jetzt durch eine weitere Ladung ergänzen musste.
In den zwei Jahren seit ihrer Übersiedelung in die Catskill Mountains hatte er immerhin halbherzig versucht, sich in die Haus- und Gartenfragen zu vertiefen, auf die sich Madeleine sofort voller Begeisterung gestürzt hatte; aber an seinen Bemühungen nagten stets die störenden Termiten der Reue. Dabei bedauerte er nicht den Kauf dieses Hauses und der malerischen zwanzig Hektar Grund, die er immer noch als gute Investition betrachtete, sondern die damit verbundene lebensverändernde Entscheidung, seinen Posten bei der New Yorker Mordkommission aufzugeben und mit sechsundvierzig in Pension zu gehen. Die quälende Frage war, ob er seine Tätigkeit als Detective nicht doch zu früh gegen die Pflichten eines Landbesitzers eingetauscht hatte.
Eine Reihe ominöser Ereignisse ließ diesen Schluss zu. Seit dem Umzug in ihr pastorales Paradies hatte sich bei ihm ein schwacher Tick im linken Augenlid entwickelt. Zu seinem und zu Madeleines Leidwesen hatte er nach fünfzehn Jahren Abstinenz wieder angefangen, sporadisch zu rauchen. Und dann gab es natürlich noch das Tabuthema schlechthin: seine Entscheidung im vergangenen Herbst, ein Jahr nach Beginn des Ruhestands, sich in den grauenvollen Mordfall Mellery einzuschalten.
Dieses Abenteuer hatte er nur knapp überlebt und dabei sogar noch Madeleine in Gefahr gebracht. In einem Augenblick der Klarheit, wie er oft auf eine Begegnung mit dem Tod folgt, hatte er beschlossen, sich fortan konsequent den einfachen Freuden des Landlebens hinzugeben. Doch solche kristallklaren Vorsätze haben etwas Seltsames an sich. Wenn man sich nicht jeden Tag damit auseinandersetzt, verfliegt die Vision schnell wieder. Ein Moment der Gnade ist eben nur ein Moment. Ohne aktive Mitwirkung wird er rasch zu einer Art Gespenst, zu einem flüchtigen Netzhautbild, das entschwindet wie die Erinnerung an einen Traum, bis er irgendwann nur noch ein disharmonischer Ton in der Grundstimmung des Lebens ist.
Und diesen Prozess zu durchschauen, das musste Gurney feststellen, bot noch lange nicht den magischen Schlüssel zu seiner Umkehrung – mit dem Ergebnis, dass er gegenüber dem bukolischen Leben allenfalls eine halbherzige Haltung aufbringen konnte. Diese Haltung setzte ihn wiederum in Widerspruch zu seiner Frau. Und sie brachte ihn ins Grübeln: Konnte man sich wirklich ändern? Oder besser: Konnte er sich wirklich ändern? In dunkleren Momenten entmutigte ihn die arthritische Starrheit seiner Denkweise – und noch mehr seiner Seinsweise.
Die Sache mit dem Bulldozer war ein gutes Beispiel. Vor einem halben Jahr hatte er das kleine Fahrzeug gebraucht gekauft und es Madeleine als praktisches Werkzeug beschrieben, das für den Besitz von zwanzig Hektar Wald und Wiesen und einer vierhundert Meter langen, unbefestigten Auffahrt angemessen war. Er sah es als Anschaffung für die nötige Landschaftspflege und positive Verbesserungen – eine gute und nützliche Sache. Sie dagegen betrachtete es offenbar von Anfang an nicht als ein Gerät, das ihn womöglich zu mehr Engagement für ihr neues Leben anspornen könnte, sondern als lärmendes, nach Diesel stinkendes Symbol seiner Verdrossenheit, seines Unmuts über ihre Umgebung, seiner Unzufriedenheit über den Umzug aus der Stadt in die Berge, seines Verlangens, eine verhasste neue Welt nach seinen kontrollbesessenen Vorstellungen plattzuwalzen.
Nur einmal hatte sie kurz einen Einwand geäußert: »Warum kannst du das alles um uns herum nicht einfach als Geschenk annehmen, als unglaublich schönes Geschenk, anstatt sofort daran rumzudoktern?«
Als er sich an der Glastür voller Unbehagen an ihre Bemerkung und den von sanfter Verzweiflung geprägten Ton erinnerte, drang plötzlich von hinten ihre wirkliche Stimme an sein Ohr.
»Besteht die Chance, dass du dir bis morgen noch meine Fahrradbremsen anschaust?«
»Ich hab’s dir doch versprochen.« Erneut nahm er einen Schluck Kaffee und zuckte zusammen. Er war unangenehm kalt. Er schielte auf die alte Pendeluhr über der Kiefernholzanrichte. Ihm blieb fast noch eine ganze Stunde, bevor er zu einem seiner gelegentlichen Gastseminare bei der Polizeiakademie von Albany aufbrechen musste.
»Du solltest wirklich mal mitkommen.« Sie klang, als wäre es eine spontane Idee.
»Mach ich bestimmt.« Seine übliche Erwiderung auf ihre regelmäßig wiederkehrende Aufforderung, sie zu einem ihrer Fahrradausflüge durch die hügelige Farm- und Waldlandschaft der westlichen Catskills zu begleiten. Langsam wandte er sich zu ihr um. In einer alten Leggins, einem ausgeleierten Sweatshirt und einer Baseballmütze mit Farbflecken lehnte sie in der Tür zum Essbereich. Unwillkürlich musste er lächeln.
»Was ist?« Sie legte den Kopf schief.
»Nichts.« Manchmal war ihre Gegenwart so unmittelbar bezaubernd, dass jeder verwirrte, negative Gedanke aus seinem Kopf verschwand. Sie hatte die seltene Eigenschaft, trotz ihrer Schönheit überhaupt nicht auf ihr Aussehen zu achten. Sie trat neben ihn und ließ den Blick über die Landschaft schweifen.
»Die Rehe haben sich über das Vogelfutter hergemacht.« Sie hörte sich eher amüsiert als verärgert an.
Die drei Futterspender für Finken jenseits des Rasens hingen ziemlich windschief da. Bei diesem Anblick wurde ihm klar, dass er zumindest bis zu einem gewissen Grad Madeleines Wohlwollen für die Rehe teilte, auch wenn sie kleinere Schäden anrichteten. Das war merkwürdig, denn er hegte ganz andere Gefühle, was die Verwüstungen vonseiten der Eichhörnchen anging, die auch jetzt wieder die Samen fraßen, die die Rehe nicht aus den Trögen hatten holen können. Schnell, fahrig, aggressiv in ihren Bewegungen schienen sie von einem obsessiven Hunger beherrscht, einem habgierigen Verlangen, jeden noch so kleinen Brösel an Essbarem zu verzehren.
Gurneys Lächeln erstarb. Er beobachtete die Tiere mit einer unterschwelligen Nervosität, die für ihn wohl mittlerweile zu einer reflexhaften Reaktion auf viel zu viele Phänomene geworden war – einer Nervosität, die aus den Verwerfungslinien seiner Ehe entstand und diese zugleich aufzeigte. Madeleine hätte die Eichhörnchen bestimmt als faszinierend, klug, einfallsreich und respektgebietend in ihrer Kraft und Entschlossenheit beschrieben. Sie schien sie zu lieben, wie sie die meisten Dinge im Leben liebte. Er hingegen hätte am liebsten auf die kleinen Räuber geschossen.
Nun ja, er wollte sie nicht unbedingt töten oder verletzen, aber vielleicht mit einer Luftpistole so hart treffen, dass sie von den Futterspendern fielen und zurück in die Wälder flohen, wo sie hingehörten. Töten war für ihn nie eine befriedigende Methode gewesen. In seiner ganzen Zeit beim New York Police Department, in den fünfundzwanzig Jahren seines Umgangs mit Gewalttätern und einer rauen Stadt, hatte er kein einziges Mal seine Pistole gezogen, hatte sie außerhalb des Schießstands kaum jemals berührt. Und er hatte keine Lust, jetzt damit anzufangen. Was immer ihn auch an der Polizeiarbeit angezogen und sein Interesse daran so lange wachgehalten hatte, es war nicht der Reiz einer Schusswaffe oder der trügerisch einfachen Lösungen, die sie versprach.
Auf einmal merkte er, dass Madeleines neugieriger Blick jetzt auf ihn gerichtet war – wahrscheinlich hatte ihr sein angespannter Kiefer verraten, wie er über die Eichhörnchen dachte. Weil er sich durchschaut fühlte, wollte er sich für seine Feindseligkeit gegen diese Ratten mit den buschigen Schwänzen rechtfertigen, aber das Klingeln des Telefons kam ihm zuvor. Es waren sogar zwei Telefone, die sich gleichzeitig meldeten, der Festnetzanschluss im Arbeitszimmer und sein Handy auf der Küchenanrichte. Madeleine strebte ins Arbeitszimmer. Gurney griff nach dem Mobiltelefon.