74
Wider alle Vernunft
Am Ende des engen Treppenschachts lag ein kleiner Absatz im scharlachfarbenen Schein eines Buntglasfensters. Gurney klopfte an die einzige Tür. Wie die Türen unten wirkte sie schwer, düster, abweisend.
»Herein.« Ashtons sonore Stimme klang angestrengt.
Trotz ihres Gewichts öffnete sich die Tür leicht und lautlos auf einen großzügig geschnittenen Raum, der wie das Studierzimmer eines Bischofs anmutete. Kastanienbraune Bücherschränke an zwei fensterlosen Wänden. Ein kleiner Kamin aus rußigem unbehauenem Stein mit alten Feuerböcken aus Messing. Ein alter Perserteppich auf dem Boden, der umlaufend mit einem seidig glänzenden Kirschholzsaum begrenzt war. Mehrere große Lampen auf vereinzelten Tischen tauchten die dunklen Holztöne in einen bernsteinfarbenen Schimmer.
Mit beunruhigter Miene saß Scott Ashton an einem kunstvollen Eichenschreibtisch, der im Neunziggradwinkel zur Tür aufgestellt war. Hinter ihm auf einer Kommode mit geschnitzten Löwenkopfbeinen stand das wichtigste Zugeständnis des Raums an das einundzwanzigste Jahrhundert: ein großer PC-Flachbildschirm. Mit vager Geste winkte er Gurney und Hardwick zu zwei roten Samtstühlen mit hoher Lehne, wie man sie in der Sakristei einer Kathedrale finden konnte.
»Es wird immer schlimmer«, knirschte Ashton.
In der Annahme, dass sich die Äußerung auf den Mord an Savannah Liston bezog, wollte ihm Gurney sein Beileid ausdrücken.
Doch Ashton beachtete ihn gar nicht und redete weiter. »Dieser ganze Ansatz mit dem organisierten Verbrechen will mir sowieso nicht in den Kopf.«
Erst jetzt bemerkte Gurney das Bluetooth-Headset, und ihm wurde klar, dass der Psychiater mitten in einem Telefongespräch war. »Ja, ich verstehe. Ich verstehe. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass der Fall mit jedem Schritt nach vorn bizarrer wird. Ja, Lieutenant. Morgen früh. Ja, gut. Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben.«
Schließlich wandte sich Ashton seinen Gästen zu, schien aber noch ganz mit der gerade beendeten Unterhaltung beschäftigt.
»Neuigkeiten?«, fragte Gurney.
»Ist Ihnen diese Theorie einer … kriminellen Verschwörung bekannt? Dass vielleicht sardische Gangster ihre Finger im Spiel haben?« In Ashtons gequälter Miene spiegelte sich eine Mischung aus Anspannung und Fassungslosigkeit.
»Ich habe davon gehört«, antwortete Gurney.
»Besteht Ihrer Ansicht nach die Möglichkeit, dass sie der Wahrheit entspricht?«
»Eine Möglichkeit schon.«
Kopfschüttelnd senkte Ashton den Blick auf den Schreibtisch, dann fixierte er seine Besucher. »Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?«
»Nur so ein Bauchgefühl«, sagte Hardwick.
»Ein Bauchgefühl? Was meinen Sie damit?«
»In jedem Fall gibt es einen Punkt, wo alle Fäden zusammenlaufen. Und hier ist der Ort der Schlüssel. Es wäre uns eine große Hilfe, wenn wir einfach ein bisschen herumlaufen und uns umschauen könnten.«
»Ich verstehe nicht ganz …«
»Alle Ereignisse stehen irgendwie im Zusammenhang mit Mapleshade. Würden Sie dem zustimmen?«
»Ich denke schon. Vielleicht. Bin mir nicht sicher.«
»Haben Sie wirklich noch nicht darüber nachgedacht?« Hardwicks Ton wurde schärfer.
»Natürlich habe ich das.« Ashton wirkte ratlos. »Ich kann es einfach nicht … so klar sehen. Vielleicht bin ich zu nah am Geschehen.«
Gurney schaltete sich ein. »Sagt Ihnen der Name Skard etwas?«
»Diese Frage hat mir soeben auch der Beamte am Telefon gestellt. Die Antwort lautet Nein.«
»Sind Sie sicher, dass Jillian ihn nie erwähnt hat?«
»Jillian? Warum sollte sie?«
Gurney zuckte die Achseln. »Möglicherweise ist das der wahre Name von Hector Flores.«
»Skard? Woher hätte Jillian das denn wissen sollen?«
»Keine Ahnung, auf jeden Fall hat sie im Internet recherchiert, um mehr herauszufinden.«
Erneut schüttelte Ashton den Kopf, fast als würde er erschauern. »Wie schrecklich wird das denn noch, bevor es endlich endet?« Es war mehr eine jammernde Klage als eine echte Frage.
»Gerade am Telefon haben Sie was von morgen früh gesagt?«
»Was? Ach so. Ja, wieder was Neues. Der Lieutenant ist der Meinung, dass mit diesem Verschwörungsansatz alles noch dringender wird, also hat er den Termin für die Befragung unserer Schülerinnen auf morgen Vormittag vorverlegt.«
»Wo sind sie eigentlich alle?«
»Was?«
»Die Schülerinnen. Wo sind sie?«
»Ach. Verzeihen Sie meine Zerstreutheit, aber das ist auch ein Grund dafür. Sie sind unten im Hauptraum der Kapelle. Eine beruhigende Umgebung. Ein turbulenter Tag liegt hinter ihnen. Offiziell haben Mapleshade-Schülerinnen keinen Kontakt zur Außenwelt. Kein Fernsehen, Radio, Computer, iPod, Handy – nichts. Aber es gibt immer Lecks, immer die eine oder andere, die ein Gerät einschmuggelt. Deswegen haben sie natürlich von Savannahs Tod gehört und … Na ja, Sie können es sich bestimmt vorstellen. Also haben wir uns völlig abgeschottet. Eine strengere Einrichtung würde vielleicht von einer Nachrichtensperre sprechen. Wir tun das natürlich nicht, bei uns wird alles freundlicher gehandhabt.«
»Bis auf den Stacheldraht«, warf Hardwick ein.
»Der Zaun dient nicht dazu, Menschen einzusperren, sondern Probleme auszusperren.«
»Diese Möglichkeit haben wir uns auch überlegt.«
»Es ist eine reine Sicherheitsmaßnahme.«
»Im Moment sind sie also alle unten in der Kapelle?«, meinte Hardwick.
»So ist es. Wie gesagt, sie finden es beruhigend.«
»Hätte nicht gedacht, dass diese Mädchen so religiös sind«, bemerkte Gurney.
»Religiös?« Ashton lächelte freudlos. »Wohl kaum. Nein, Steinkirchen, gotische Fenster und gedämpftes Licht haben einfach etwas an sich. Sie besänftigen die Seele, das hat nichts mit Theologie zu tun.«
»Haben sie nicht das Gefühl, bestraft zu werden?«, fragte Hardwick. »Was ist mit denen, die nicht über die Stränge geschlagen haben?«
»Die Aufgeregten kommen zur Ruhe, sie fassen wieder Mut. Und die, die nichts angestellt haben, sehen sich als Quelle des Friedens für die anderen. So fühlen sich die Aufgeregten nicht gemaßregelt, und die Besonnenen fühlen sich wertvoll.«
Gurney lächelte. »Es hat Sie bestimmt viel Mühe gekostet, den Schülerinnen dieses Erlebnis so zu vermitteln.«
»Das gehört zu meinen Aufgaben.«
»Sie geben also einen Rahmen vor, in den sie die Ereignisse einordnen können?«
»So könnte man es ausdrücken.«
»Wie ein Magier«, bemerkte Gurney. »Oder ein Politiker.«
»Und wie jeder kompetente Prediger, Lehrer, Arzt«, ergänzte Ashton sanft.
»Ach übrigens …« Gurney fand es an der Zeit, dem Gespräch eine unvermutete Wendung zu geben. »Hat sich Jillian in den Tagen vor der Hochzeit irgendwie verletzt – so stark, dass sie geblutet hat?«
»Geblutet? Nicht, dass ich wüsste. Warum fragen Sie?«
»Es geht um die Frage, wie das Blut auf die Machete gekommen ist.«
»Frage? Wie kann das eine Frage sein? Was heißt das?«
»Die Machete war vielleicht nicht die Mordwaffe.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sie muss vor der Ermordung Ihrer Frau im Wald deponiert worden sein, nicht erst danach.«
»Aber … man hat mir gesagt … ihr Blut …«
»Möglicherweise voreilige Schlussfolgerungen. Doch zurück zum entscheidenden Punkt: Wenn die Machete vor dem Mord in den Wald gelegt wurde, muss das Blut ebenfalls vor dem Mord drangekommen sein. Haben Sie eine Ahnung, wie das passiert sein könnte?«
Wie betäubt öffnete Ashton den Mund. Erst nach mehreren vergeblichen Anläufen brachte er wieder ein Wort hervor. »Nun … ja, irgendwie schon … Zumindest theoretisch. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, war Jillian wegen einer bipolaren Störung in Behandlung. Sie hat Medikamente genommen, für die regelmäßige Bluttests notwendig waren, um die gewünschte Wirkung sicherzustellen. Ihr wurde einmal im Monat Blut abgenommen.«
»Wer war dafür zuständig?«
»Eine Phlebologin aus der Gegend. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie für einen medizinischen Dienst in Cooperstown gearbeitet.«
»Und was hat sie mit der Blutprobe gemacht?«
»Sie hat sie ins Labor gebracht, wo der Lithiumpegel gemessen und der Bericht erstellt wurde.«
»Hat sie es sofort hingebracht?«
»Ich denke, sie hat die Runde bei allen Patienten gemacht und die Proben dann am Ende des Tags im Labor abgeliefert.«
»Haben Sie den Namen der Ärztin – auch die des medizinischen Dienstes und des Labors?«
»Ja. Den Laborbericht schaue ich mir jeden Monat an – oder besser gesagt, ich habe ihn mir angeschaut.«
»Haben Sie zufällig Aufzeichnungen darüber, wann die letzte Blutprobe genommen wurde?«
»Aufzeichnungen existieren nicht, aber es war immer der zweite Freitag im Monat.«
Gurney überlegte kurz. »Also zuletzt zwei Tage vor Jillians Ermordung.«
»Sie meinen, Flores hat sich irgendwie ihr Blut beschafft? Aber warum? Ich fürchte, ich begreife nicht ganz, worauf Sie mit der Machete hinauswollen. Was hätte das denn für einen Zweck gehabt?«
»Ich bin mir nicht sicher, Doktor. Aber ich habe das Gefühl, dass die Antwort auf diese Frage der fehlende Mosaikstein zur Lösung des Falls ist.«
Mehr verblüfft als skeptisch zog Ashton die Brauen hoch. Sein Blick schien über die verstörenden Stellen einer inneren Landschaft zu wandern. Schließlich schloss er die Augen und setzte sich auf seinem hohen Stuhl zurück. Seine Hände umfassten die Enden der reich geschnitzten Armlehnen, und der Atem ging tief und bedächtig wie bei einer beruhigenden mentalen Übung. Doch als er sie wieder aufschlug, wirkte er noch mitgenommener.
»Was für ein Albtraum.« Als er sich räusperte, klang es fast wie ein Wimmern. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Gentlemen? Haben Sie sich schon mal wie ein totaler Versager gefühlt? So fühle ich mich nämlich im Moment. Jede neue Schreckensmeldung … jeder Tod … jede Entdeckung über Flores oder Skard, oder wie er heißt … jede bizarre Enthüllung über die wahren Ereignisse hier an der Schule … alles beweist mein völliges Versagen. Wie konnte ich nur so verblendet sein!« Er schüttelte den Kopf, oder bewegte ihn vielmehr langsam hin und her wie in Zeitlupe. »Dieser alberne, verhängnisvolle Hochmut. Zu glauben, dass ich eine Seuche von derart unglaublicher, urtümlicher Kraft heilen kann.«
»Seuche?«
»Nicht der Begriff, den meine Fachkollegen üblicherweise für Inzest und dessen Folgeschäden verwenden, aber ich finde ihn sehr treffend. Je länger ich auf diesem Gebiet arbeite, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, dass von allen Verbrechen, die Menschen aneinander begehen, das mit Abstand zerstörerischste der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Erwachsene ist – vor allem durch die eigenen Eltern.«
»Was bringt Sie zu dieser Einschätzung?«
»Was? Ganz einfach. Die zwei grundlegenden menschlichen Beziehungsarten sind Partnerwahl und Elternschaft. Inzest hebt diesen Unterschied auf, sie wirft diese zwei Beziehungsarten durcheinander und vergiftet sie dadurch beide. Das führt zu einer traumatischen Schädigung der neuronalen Strukturen, die die natürlicherweise mit den jeweiligen Beziehungsformen verbundenen Verhaltensweisen stützen und sie voneinander getrennt halten. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich glaube schon«, erwiderte Gurney.
»Ein bisschen zu hoch für mich.« Hardwick hatte den langen Gedankenaustausch zwischen Ashton und Gurney bis jetzt stumm verfolgt.
Der Psychiater warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Die Therapie eines solchen Traumas kann nur wirken, wenn sie die Grenzen zwischen dem Verhaltensrepertoire von Eltern und Kind und dem Verhaltensrepertoire bei der Partnerwahl wieder aufrichtet. Das Tragische daran ist, dass keine Therapie die schiere Wucht des Vergehens aufwiegen kann, das sie beheben möchte. Es ist wie der Versuch, mit einem Teelöffel eine Mauer wiederaufzubauen, die von einer Planierraupe niedergerissen wurde.«
»Aber … haben Sie sich nicht dafür entschieden, dieses Problem in den Mittelpunkt Ihrer beruflichen Tätigkeit zu stellen?«, fragte Gurney.
»Sicher. Und jetzt steht eindeutig fest, dass ich gescheitert bin. Kläglich gescheitert.«
»Das wissen Sie doch gar nicht.«
»Sie meinen, nicht jede Mapleshade-Absolventin hat beschlossen, in einer perversen Sexunterwelt zu verschwinden? Nicht jede wurde zum Vergnügen abgeschlachtet? Nicht jede hat Kinder bekommen, um sie dann zu vergewaltigen? Nicht jede war bei ihrem Abschied so krank und gestört wie bei ihrer Ankunft? Aber wie kann ich das wissen? In diesem Moment weiß ich nur eins mit Sicherheit: Mapleshade hat sich – geprägt von meinen Vorstellungen und Entscheidungen – in einen Magneten für Grauen und Mord verwandelt, in ein Jagdrevier für ein Monster. Unter meiner Leitung ist Mapleshade völlig zerstört worden. Das weiß ich jetzt.«
»Und was nun?«, fragte Hardwick.
»Was nun? Ah. Die Stimme der praktischen Vernunft.« Ashton schloss die Augen und blieb mindestens eine Minute lang still. Dann schlug er einen bemüht normalen Ton an. »Was nun? Der nächste Schritt? Für mich ist der nächste Schritt, dass ich hinunter in die Kapelle gehe und mich zeige, um unsere Schülerinnen zu beruhigen, so gut es möglich ist. Was Ihr nächster Schritt ist … ich habe keine Ahnung. Sie sagen, ein Bauchgefühl hat Sie hergeführt. Dann fragen Sie lieber Ihren Bauch, was als Nächstes kommt.«
Er erhob sich aus seinem massiven Samtstuhl und nahm etwas aus der Schreibtischschublade, das wie ein Garagentoröffner aussah. »Die Lichter und Schlösser unten funktionieren elektronisch«, sagte er zur Erklärung des Geräts. Er setzte sich in Bewegung und gelangte bis zur Tür, dann kehrte er noch einmal um und schaltete den Computermonitor hinter dem Schreibtisch an. Ein Bild erschien: der Hauptraum der Kapelle mit Steinboden und Steinmauern, deren farblose Kargheit hier und da von burgunderfarbenen Tüchern und Gobelins unterbrochen wurde. Die dunklen Holzbänke waren nicht in kirchentypischen Reihen angeordnet, sondern zu einem halben Dutzend Gruppen mit je drei einander zugewandten Bänken, wohl um eine Unterhaltung zu fördern. Überall saßen Jugendliche. Aus den Lautsprechern drang ein Gewirr weiblicher Stimmen.
»Unten haben wir eine hochauflösende Kamera und ein Mikrofon, die alles zum Computer übertragen«, bemerkte Ashton. »Schauen Sie zu, hören Sie zu, dann bekommen Sie vielleicht ein Gespür für die Situation.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.