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Erwachen
Kein Knochen zerbricht so schmerzvoll wie die Illusion von Unbezwingbarkeit.
Gurney hatte keine Ahnung, wie lange er schon in seinem Auto saß, wie er hierhergekommen war und wie spät es war. Immerhin wusste er, dass es bereits dunkel war, dass er neben Empfindungen von Beklemmung und Übelkeit fürchterliche Kopfschmerzen hatte und dass er sich an nichts erinnern konnte, was nach dem zweiten Glas Wein beim Mittagessen geschehen war. Er schaute auf die Uhr. Viertel vor neun. Eine derart verheerende Wirkung hatte er nach Alkoholgenuss noch nie erlebt – und schon gar nicht nach zwei Gläsern Weißwein.
Die naheliegende Erklärung war, dass er unter Drogen gesetzt worden war.
Aber warum?
Das leere Starren auf dieses Fragezeichen verstärkte nur seine Beklemmung. Und das hilflose Starren in ein Nichts fehlender Erinnerungen machte die Sache noch schlimmer. Dann wurde ihm schlagartig klar, dass er sich nicht hinter dem Steuer seines Wagens befand, sondern auf dem Beifahrersitz. Die Tatsache, dass er nach dem Aufwachen eine volle Minute gebraucht hatte, um das zu bemerken, ließ jäh Panik in ihm aufsteigen.
Hastig spähte er durch die Fenster vorn und hinten und entdeckte, dass er auf halber Höhe eines langen Blocks stand – wahrscheinlich irgendwo in Manhattan. Auf jeden Fall zu weit von einer Kreuzung, um ein Straßenschild zu erkennen. Auf der Straße herrschte reger Verkehr, überwiegend Taxis; Fußgänger waren nicht in der Nähe. Er öffnete die Tür und stieg mit steifen, schmerzenden Gliedern vorsichtig aus. Er fühlte sich, als hätte er lange Zeit unbequem gesessen. In beiden Richtungen hielt er Ausschau nach irgendeinem bekannten Haus.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich irgendein offizieller Bau, eine Schule vielleicht, mit breiter Steintreppe, einer mindestens drei Meter hohen massiven Tür und einer klassischen Fassade.
Dann bemerkte er es.
Über den hohen griechischen Säulen, im Zentrum des Frieses, der sich über die gesamte Breite des dreistöckigen Hauses hinzog, direkt unter dem schattigen Dachende, zeichnete sich kaum sichtbar ein eingraviertes Motto ab: AD STUDIUM VERITATIS.
Ad studium veritatis? Die Genesius Highschool? Die er besucht hatte? Wie zum Teufel …?
Wie vor den Kopf geschlagen starrte er den dunklen Steinbau an. Er hatte auf dem Beifahrerplatz seines Wagens gesessen, also hatte ihn jemand hergefahren. Wer? Er hatte keine Ahnung, keine Erinnerung.
Und warum hierher?
Bestimmt war es kein Zufall, dass man ihn ausgerechnet an diesem Ort von tausend möglichen in Manhattan abgesetzt hatte, direkt gegenüber der Eingangstür der Highschool, an der er vor dreißig Jahren seinen Abschluss gemacht hatte – jener hochangesehenen akademischen Institution, zu der er dank eines Stipendiums täglich von der Wohnung seiner Eltern in der Bronx gependelt war, die er gehasst und seither nicht mehr besucht hatte. Eine Schule, über die er nie sprach. Eine Schule, von deren Existenz in seinem Leben nur wenige Menschen wussten.
Was um Himmels willen ging da vor?
Wieder spähte er in beide Richtungen, als müsste jeden Augenblick ein Bekannter aus dem Dunkel auftauchen, um ihm das Ganze zu erklären. Aber niemand tauchte auf. Er stieg wieder ins Auto, diesmal auf der Fahrerseite. Dass der Schlüssel steckte, war eine kleine Erleichterung, sicher besser, als hätte er ihn nicht gefunden, doch das konnte seine sprunghaften Gedanken nur kurz beruhigen.
Sonya. Sonya wusste vielleicht etwas. Vielleicht hatte sie mit Jykynstyl gesprochen. Aber wenn Jykynstyl ihm das angetan, wenn er ihn unter Drogen gesetzt hatte …
War es möglich, dass Sonya da mitgemischt hatte? Hatte sie ihm eine Falle gestellt?
Aber wozu? Wie hing das alles zusammen? Und warum hatte man ihn hierhergebracht? Warum die Mühe? Woher konnte Jykynstyl wissen, welche Highschool er besucht hatte? Und was war der Zweck der ganzen Aktion? Wollte man Gurney beweisen, dass die Einzelheiten seines Privatlebens zugänglich waren? Ihn auf die Vergangenheit aufmerksam machen? Ihn an etwas Besonderes aus seiner Jugendzeit erinnern, an eine Person oder ein Ereignis aus diesen schlimmen Jahren an der Genesius Highschool? Ihm Angst einjagen? Weshalb sollte der weltberühmte Jay Jykynstyl so etwas tun wollen?
Das war doch lächerlich.
Andererseits, hatte er denn irgendeinen Beweis, dass der Mann, dem er in dem Sandsteinhaus begegnet war, wirklich Jay Jykynstyl war? Und wenn nicht – wenn der Mann ein Hochstapler war –, was sollte der Zweck eines derart raffinierten Täuschungsmanövers sein?
Falls man ihm tatsächlich eine Droge verabreicht hatte, was war es für eine? Ein starkes Beruhigungs- oder Betäubungsmittel, das ihm das Bewusstsein geraubt hatte, oder etwas Beängstigerendes wie Rohypnol?
Oder war er irgendwie krank? Starke Dehydrierung konnte zu Verwirrtheit und zu Erinnerungslücken führen.
Aber nicht zu einem Gedächtnisverlust wie seinem. Nicht zu einem Filmriss über volle acht Stunden.
Gurneys Gedanken überschlugen sich. Ein Gehirntumor? Embolie? Schlaganfall?
War es denkbar, dass er Jykynstyls Haus verlassen und aus einer nostalgischen Laune heraus beschlossen hatte, seiner alten Schule einen Besuch abzustatten, dass er vielleicht sogar hineingegangen war und dann …?
Was dann? War er auf der Beifahrerseite wieder eingestiegen, um etwas ins Handschuhfach zu legen oder herauszunehmen, und hatte dann einen Anfall bekommen? War er ohnmächtig geworden? Es gab bestimmte Anfälle, die eine rückwirkende Amnesie auslösten und jede Erinnerung an den Zeitraum davor und danach unterbanden. War es das – irgendein akutes Gehirnleiden?
Frage um Frage. Und keine Antwort. Seine Magengrube fühlte sich an wie zubetoniert.
Er sah im Handschuhfach nach, stieß aber auf nichts Ungewöhnliches. Das Autohandbuch, ein paar alte Quittungen, eine kleine Taschenlampe, den Plastikdeckel einer Wasserflasche.
Er klopfte seine Jacke ab und nahm sein Handy heraus. Sieben Mailboxnachrichten und eine SMS warteten auf ihn. Anscheinend war er in den fehlenden Stunden heiß begehrt gewesen. Vielleicht fand er hier die gesuchte Erklärung.
Die erste Nachricht von 15.44 Uhr stammte von Sonya. »David? Bist du noch beim Mittagessen? Ich nehme an, das ist ein gutes Zeichen. Ich will alles erfahren. Ruf an, sobald du kannst. Küsschen.«
Die zweite Botschaft hatte der Bezirksstaatsanwalt um 16.01 Uhr hinterlassen. »David, hier Sheridan Kline. Wollte Sie kurz informieren. Sie haben doch nach Karnala Fashion gefragt. Wir sind der Sache nachgegangen, und es hat sich was Interessantes ergeben. Wissen Sie was über die Familie Skard? S-K-A-R-D. Rufen Sie schnell zurück.«
Skard? Merkwürdiger Name, der ihm vage bekannt vorkam. Irgendwo war er schon einmal darauf gestoßen, hatte ihn vielleicht geschrieben gesehen, und zwar vor nicht allzu langer Zeit.
Nummer drei um 16.32 Uhr war von Kyle. »Hi, Dad. Wie geht’s? Bis jetzt läuft’s ganz gut an der Uni, glaube ich. Ich meine, man muss lesen, lesen, lesen, von einem Seminar zum nächsten, dann wieder lesen, lesen, lesen. Aber es lohnt sich bestimmt. Ganz bestimmt. Hast du eine Ahnung, was ein Rechtsanwalt bei einer Sammelklage verdient? Die große Kohle. Jetzt muss ich los, der nächste Kurs wartet. Ständig komme ich zu spät. Ich meld mich nachher noch mal.«
Nummer vier um 17.05 Uhr war erneut von Sonya. »David? Was ist los? Ist das das längste Mittagessen der Welt? Ruf an. Ruf an!«
Nummer fünf um 17.07 Uhr kam von Hardwick. »Hey, Kumpel, ich arbeite wieder an dem Fall!« Er klang fies, triumphierend und betrunken.
Nummer sechs um 17.50 Uhr stammte von Klines bevorzugter forensischer Psychologin. »Hi, David, hier ist Rebecca Holdenfield. Sheridan sagte, Sie haben ein paar Ideen zu dem Machetenmörder, über die Sie reden möchten. Ich bin zwar ziemlich beschäftigt, aber dafür kann ich mir Zeit nehmen. Am Vormittag ist es ganz schlecht, später am Tag wäre besser. Rufen Sie mich mit ein paar Terminvorschlägen an, dann überlegen wir uns gemeinsam was. Nach dem Wenigen, was ich bisher weiß, würde ich meinen, dass Sie Jagd auf einen ziemlich kranken Typen machen.« Das lebhafte Brodeln unter der Fassade ihres professionellen Tons ließ keinen Zweifel daran, dass sie große Lust hatte, sich an der Jagd nach diesem Kranken zu beteiligen. Sie hinterließ eine Nummer mit einer Vorwahl aus Albany.
Die siebte und letzte Nachricht um 20.35 Uhr stammte wieder von Sonya. »Scheiße, David lebst du noch?«
Erneut schaute er nach der Zeit. 20.58 Uhr.
Er hörte sich die letzte Nachricht noch ein zweites und drittes Mal an, um zu erkennen, ob Sonyas Frage eine ernste Bedeutung hatte. Doch außer der Ungeduld von jemandem, dessen Anrufe nicht beantwortet wurden, war nichts auszumachen. Als er bereits ihre Nummer eingeben wollte, fiel ihm ein, dass er auch noch eine SMS bekommen hatte.
Sie war kurz, anonym und vieldeutig: »Diese Leidenschaft! Diese Geheimnisse! Diese herrlichen Fotos!«
Benommen starrte er die Nachricht an. Auf den zweiten Blick war sie, obwohl sie viel der Fantasie überließ, keineswegs so vieldeutig. Und eigentlich war das, was sie der Fantasie überließ, sogar ziemlich eindeutig.
Der mögliche Inhalt dieser Fotos platzte in sein Leben wie eine Bombe am Straßenrand.