22
Der Spinnenfreund
Der Kaffee auf dem Heimweg war ein Fehler gewesen. Die Zigarette war ein noch größerer.
Das Tankstellengebräu hatte sich dank der Einwirkung von Zeit und Verdampfung zu einer teerfarbenen Koffeinbombe konzentriert, die kaum mehr nach Kaffee schmeckte. Gurney trank es trotzdem: ein tröstliches Ritual. Weniger tröstlich war allerdings die Wirkung des Koffeins auf seine Nerven, als der erste Rausch verflog und einer vibrierenden Unrast wich, die nach einer Zigarette schrie. Aber auch diese brachte Vor- und Nachteile mit sich: ein kurzes Gefühl von Erleichterung und Befreiung, gefolgt von Gedanken, die so deprimierend waren wie die Wolkendecke. Die Erinnerung an die Bemerkung eines Therapeuten vor fünfzehn Jahren: »David, Sie benehmen sich wie zwei verschiedene Menschen. Im Berufsleben zeigen Sie Schwung, Entschlossenheit, Zielstrebigkeit. Im Privatleben sind Sie ein Schiff ohne Ruder.« Manchmal bildete er sich ein, Fortschritte zu machen – wenn er das Rauchen aufgab, das Leben mehr draußen statt im Kopf verbrachte, sich stärker auf das Hier und Heute und auf Madeleine konzentrierte. Doch jedes Mal schlitterte er unweigerlich aus dem angestrebten Ideal zurück in die Persönlichkeit, die er schon immer gewesen war.
Sein neuer Subaru hatte keinen Aschenbecher, er musste sich also mit einer ausgespülten Sardinendose behelfen. Als er darin seine Kippe ausdrückte, erinnerte ihn das an ein anderes Beispiel seiner Zerstreutheit, an ein weiteres Versagen in seinem Privatleben: Er hatte das Abendessen vergessen.
Auch nach seinem Anruf bei Madeleine – bei dem er seine Gedächtnisschwäche genauso unerwähnt ließ wie die Tatsache, dass er nicht wusste, wen sie eingeladen hatten, und nur fragte, ob er von unterwegs etwas mitbringen sollte – fühlte er sich nicht unbedingt besser. Er spürte förmlich, dass sie sein Vertuschungsmanöver durchschaute. Es war ein kurzer Anruf mit langen Pausen. Zuletzt:
»Räumst du die Mordakten weg, wenn du nach Hause kommst?«
»Ja, hab ich doch versprochen.«
»Gut.«
Den Rest der Fahrt kreisten Gurneys rastlose Gedanken um mehrere quälende Fragen: Warum hatte Arlo Blatt am Eingang der Badger Lane gewartet? Vorhin hatte dort kein Überwachungsfahrzeug gestanden. Hatte er einen Tipp erhalten, dass da jemand neugierige Fragen stellte? Dass Gurney Fragen stellte? Aber wem war das so wichtig, dass er sich an Blatt wandte? Und warum war Blatt so wild darauf, ihn von dem Fall fernzuhalten? Das brachte ihn auf eine weitere ungelöste Frage: Warum war Jack Hardwick so wild darauf, ihn darauf anzusetzen?
Unter einem finsteren Himmel bog Gurney exakt um fünf Uhr auf die Schotterstraße, die zu seinem Farmhaus hinaufführte. Nach gut einem Kilometer bemerkte er vor sich einen anderen Wagen, einen graugrünen Prius. Hintereinander schoben sie sich auf der staubigen Piste dahin, und ihm dämmerte, dass die Leute in dem Auto die rätselhaften Gäste sein mussten.
Auf dem zerfurchten Feldweg durch die Wiese, hin zu dem kleinen Parkbereich neben dem Haus, kroch der Prius vorsichtig dahin. Eine Sekunde bevor sie ausstiegen fiel es Gurney ein: George und Peggy Meeker. George, ein pensionierter Professor für Entomologie, war ein heuschreckenartig schlaksiger Mann Anfang sechzig. Und Peggy, eine quirlige Sozialarbeiterin Anfang fünfzig, war diejenige, die Madeleine zu ihrem jetzigen Teilzeitjob überredet hatte. Als Gurney parkte, nahmen die Meekers eine Servierplatte und eine Schüssel vom Rücksitz, beides mit Alufolie abgedeckt.
»Salat und Nachtisch!«, rief Peggy. »Entschuldigt die Verspätung. George hatte den Autoschlüssel verlegt!« Anscheinend fand sie das zugleich ärgerlich und unterhaltsam.
George hob grüßend die Hand und warf seiner Frau einen genervten Blick zu. Gurney brachte nur ein angedeutetes Lächeln zustande. Die Dynamik zwischen George und Peggy hatte beklemmende Ähnlichkeit mit dem, was sich zwischen seinen Eltern abgespielt hatte.
Madeleine kam zur Tür und strahlte die Meekers an.
»Salat und Nachtisch.« Peggy reichte die Gerichte an Madeleine weiter, die mit einem erfreuten »Hmm!« voran in die große Farmhausküche schritt.
»Fantastisch!« Mit begeistert aufgerissenen Augen schaute sich Peggy um und fügte genau wie bei ihren ersten zwei Besuchen hinzu: »Das perfekte Haus für euch zwei. Findest du nicht, dass es ihnen genau entspricht, George?«
Mit einem freundlichen Nicken beäugte George die Fallakten auf dem Tisch und legte den Kopf schräg, um die abgekürzten Inhaltsangaben auf den Deckeln zu entziffern. »Ich dachte, du bist im Ruhestand«, meinte er zu Gurney.
»Bin ich auch. Das ist nur eine kurze Beratungstätigkeit.«
»Eine Einladung zur Enthauptung«, ergänzte Madeleine.
»Was für eine Beratungstätigkeit?« Peggy schien ehrlich interessiert.
»Man hat mich gebeten, das Beweismaterial in einem Mordfall zu sichten und gegebenenfalls alternative Ermittlungsansätze vorzuschlagen.«
»Klingt ja faszinierend. Ist es ein Fall, der in den Nachrichten war?«
Er zögerte kurz, ehe er antwortete. »Ja, vor ein paar Monaten. In der Boulevardpresse war von der ›kopflosen Braut‹ die Rede.«
»Nein! Das ist ja unglaublich! Diesen grausigen Mord untersuchst du? Die junge Frau, die in ihrem Hochzeitskleid getötet wurde? Was …«
Madeleine unterbrach sie mit etwas zu lauter Stimme. »Was darf ich euch zu trinken anbieten?«
Peggys Blick löste sich nicht von Gurney.
Laut und fröhlich fuhr Madeleine fort. »Wir haben einen kalifornischen Pinot Grigio, einen italienischen Barolo und was von den Finger Lakes mit einem putzigen Namen.«
»Für mich Barolo«, sagte George.
»Ich möchte alles über diesen Mord wissen«, erklärte Peggy und fügte hinzu: »Mir ist jeder Wein recht. Außer dem putzigen.«
»Ich nehme Barolo wie George«, meinte Gurney.
»Könntest du jetzt den Tisch abräumen?«, bat Madeleine.
»Natürlich.« Gurney fing an, die vielen Stapel zu wenigen zusammenzutragen. »Hätte ich schon heute Morgen vor meinen Terminen in Tambury machen sollen. Ein Gedächtnis wie ein Sieb.«
Mit einem gefährlichen Lächeln holte Madeleine zwei Flaschen aus der Vorratskammer und machte sich daran, Korken herauszuziehen.
»Und?« Peggy starrte Gurney erwartungsvoll an.
»Woran kannst du dich noch von den Zeitungsberichten erinnern?«
»Hinreißende junge Frau, abgeschlachtet von einem verrückten mexikanischen Gärtner, ungefähr zehn Minuten, nachdem sie keinen anderen als Scott Ashton geheiratet hatte.«
»Anscheinend weißt du, wer das ist.«
»Anscheinend? Meine Güte, den kennt doch jeder … Nein, das nehme ich zurück. Jeder in der Welt der Sozialwissenschaften kennt Scott Ashton – zumindest seinen Ruf, seine Bücher, seine Fachartikel. Der heißeste Missbrauchstherapeut, den es gibt.«
»Der heißeste?« Madeleine näherte sich mit zwei Gläsern Rotwein.
George lachte schallend. Ein merkwürdig handfester Laut für seine spindeldürre Gestalt.
Peggy zuckte zusammen. »Hab mich schlecht ausgedrückt. Der berühmteste, hätte ich sagen sollen. Innovative Therapieansätze. Aber Dave kann uns bestimmt viel mehr darüber erzählen.« Sie nahm das Glas, das ihr Madeleine reichte, und nippte daran. »Köstlich, danke.«
»Morgen ist also der große Tag?«, fragte Madeleine.
Peggy blinzelte verwirrt.
»Der große Tag«, wiederholte George.
»Euer Sohn geht schließlich nicht jeden Tag nach Harvard«, bemerkte Madeleine. »Und habt ihr uns nicht erzählt, dass er im Hauptfach Biologie studiert?«
»Das hat er vor.« George, ganz der vorsichtige Wissenschaftler.
Die Meekers zeigten nicht viel Lust an dem Thema, vielleicht weil es bereits der dritte Sohn war, der diesen Weg einschlug, und eigentlich schon alles dazu gesagt war.
»Unterrichtest du noch?« Peggys Frage richtete sich an Gurney.
»Du meinst an der Polizeiakademie?«
»Als Gastdozent, oder?«
»Ja, von Zeit zu Zeit. Ein Seminar über verdeckte Ermittlungen.«
»Ein Kurs übers Lügen«, warf Madeleine ein.
Die Meekers lachten unsicher. George leerte sein Glas.
»Ich bringe den Guten bei, wie sie die Bösen anlügen, damit die Bösen den Guten entscheidende Dinge verraten.«
»So kann man es auch ausdrücken«, konstatierte Madeleine.
»Du hast bestimmt tolle Geschichten auf Lager.« Wieder schien Peggy lebhaft interessiert.
Madeleine schob sich zwischen Peggy und Gurney. »George, lass dir nachschenken.« Er reichte ihr das Glas, und sie ging zur Kücheninsel. »Sicher ein schönes Gefühl, dass deine Söhne in deine Fußstapfen treten.«
»Na ja … so ganz trifft das nicht zu … Biologie, ja, so die allgemeine Richtung, aber bis jetzt hat sich noch keiner von ihnen für Entomologie erwärmt, und erst recht nicht für mein Spezialfach Arachnologie. Im Gegenteil …«
»Hab ich das richtig im Kopf«, unterbrach ihn Peggy, »ihr habt doch auch einen Sohn?«
»David hat einen Sohn.« Madeleine schenkte sich ein Glas Pinot Grigio ein.
»Ah, genau. Sein Name liegt mir auf der Zunge – irgendwas mit L, oder nein, K?«
»Kyle.« Gurney klang, als würde er das Wort nur selten aussprechen.
»Er ist an der Wall Street, oder?«
»War. Jetzt studiert er Jura.«
»Opfer der geplatzten Blase?«, erkundigte sich George.
»Mehr oder weniger.«
»Klassische Katastrophe«, dozierte George in intellektuellem Tonfall. »Kartenhaus. Millionenkredite werden verteilt wie Lutscher an Dreijährige. Bonzen stürzen sich von den Türmen der Hochfinanz. Die verdammten Großbanker haben sich ihr eigenes Grab geschaufelt. Das Schlimme daran ist nur, dass unsere Regierung in ihrer unendlichen Weisheit beschlossen hat, die Scheißkerle zurückzuholen und ihnen mit unserem Steuergeld neues Leben einzuhauchen. Warum lassen sie diesen Abschaum nicht einfach in der Hölle schmoren!«
»Bravo, George!« Madeleine erhob ihr Glas.
Peggy warf ihm einen eisigen Blick zu. »Bestimmt zählt er deinen Sohn nicht zu den Übeltätern.«
Madeleine lächelte George zu. »Wolltest du nicht was über die Biologielaufbahn deiner Söhne erzählen?«
»Ach so. Nein, eigentlich wollte ich nur sagen, dass der Älteste nicht nur kein Interesse an Arachnologie hat, sondern sogar behauptet, unter Arachnophobie zu leiden.« Bei ihm klang es wie Apfelkuchenphobie. »Und das ist noch nicht alles, er …«
»Um Gottes willen, bringt George nicht dazu, sich über Spinnen zu verbreiten.« Es war das zweite Mal, dass Peggy ihm das Wort abschnitt. »Mir ist klar, es sind die faszinierendsten Geschöpfe der Welt, ungemein nützlich und so weiter und so fort. Aber im Moment würde ich lieber was über Daves Mordfall hören als über die Peruanische Radnetzspinne.«
»Ich würde für die Radnetzspinne plädieren. Aber das kann wohl noch warten.« Madeleine nahm einen langen Schluck. »Setzt euch doch alle inzwischen an den Kamin. Dort könnt ihr das Thema Enthauptungen erschöpfend behandeln, während ich letzte Hand ans Essen lege. Dauert nur noch ein paar Minuten.«
»Kann ich helfen?« Peggy wirkte ein wenig verunsichert von Madeleines Ton.
»Nein, alles schon fast fertig. Trotzdem danke.«
»Bestimmt?«
»Bestimmt.«
Nach einem letzten fragenden Blick zog sich Peggy mit den beiden Männern zu den Polstersesseln auf der anderen Seite des Raums zurück. Nachdem sie sich niedergelassen hatten, wandte sie sich sofort an Gurney. »Okay, dann erzähl mal.«
Als Madeleine sie zum Essen an den Tisch rief, war es schon fast sechs, und Gurney hatte den Fall samt seinen Merkwürdigkeiten und offenen Fragen ziemlich ausführlich dargelegt. Seine Schilderung hielt sich an die Fakten. Sie war dramatisch, aber nicht blutrünstig und deutete mögliche sexuelle Verwicklungen an, stellte sie aber nicht in den Mittelpunkt. Die Meekers hörten ihm aufmerksam zu, ohne etwas zu sagen.
Am Tisch – als sie gerade in den Salat aus Spinat, Walnüssen und Stiltonkäse vertieft waren – kamen die ersten Kommentare und Fragen, vor allem von Peggy.
»Wenn Flores schwul war, wäre das Motiv für den Mord an der Braut Eifersucht. Aber die Methode klingt psychotisch. Wie kann einer der führenden Psychiater der Welt nicht mitkriegen, dass der Mann, der auf seinem Grundstück lebt, vollkommen durchgeknallt ist – so durchgeknallt, dass er es fertigbringt, einer Frau den Kopf abzuhacken?«
»Und wenn Flores hetero ist«, ergänzte Gurney, »entfällt dieses Motiv zwar, aber es bleibt trotzdem das Problem, dass Ashton nichts von seinem Wahnsinn bemerkt hat.«
Peggy lehnte sich vor und gestikulierte mit der Gabel. »Dass er hetero ist, würde natürlich dazu passen, dass er eine Affäre mit dieser Kiki Muller hatte, und dass sie zusammen abgehauen sind, aber dann bleibt nur noch Wahnsinn als Erklärung für die Tat.«
»Außerdem«, fügte Gurney hinzu, »wäre dann neben Scott Ashton auch Kiki Muller nicht aufgefallen, dass Flores wahnsinnig ist. Und es gibt noch ein weiteres Problem. Welche Frau würde freiwillig mit einem Kerl durchbrennen, der gerade einer anderen den Kopf abgeschnitten hat?«
Peggy erschauerte leicht. »Unvorstellbar.«
Madeleine seufzte gelangweilt. »Den Frauen von Heinrich dem Achten hat es anscheinend nichts ausgemacht.«
Nach kurzer Stille stieß George wieder sein schallendes Lachen aus.
»Ich wage zu behaupten«, bemerkte Peggy, »dass es einen Unterschied gibt zwischen einem englischen König und einem mexikanischen Gärtner.«
Schweigend fixierte Madeleine eine Walnuss in ihrem Salat.
George nutzte die Gesprächspause. »Was ist mit diesem Burschen mit der Spielzeugeisenbahn, Adeste Fideles und so? Vielleicht hat der sie alle umgebracht.«
Peggy zog eine Grimasse. »Was redest du denn da, George? Wen, alle?«
»Das wäre doch eine Möglichkeit, oder? Angenommen, seine Frau war eine Schlampe und ist mit dem Mexikaner ins Bett gegangen. Und vielleicht war die Braut eine Schlampe und ist auch mit dem Mexikaner ins Bett gegangen. Vielleicht hat Mr Muller einfach beschlossen, sie alle umzubringen – nicht schade um die zwei Schlampen und ihren billigen Romeo.«
»Mein Gott, George«, rief Peggy. »Du freust dich ja richtig über das, was mit den Opfern passiert ist.«
»Nicht alle Opfer sind unbedingt unschuldig.«
»George …«
Madeleine schaltete sich ein. »Warum hat er die Machete im Wald gelassen?«
Nachdem alle Blicke zu ihr gewandert waren, fragte Gurney: »Ist es die Spur, die dich stört, die Geruchsspur, die einfach abreißt?«
»Was mich stört, ist, dass die Machete ohne nachvollziehbaren Grund in den Wald gelegt wurde. Es ist sinnlos.«
Gurney setzte sich auf. »Wirklich ein gutes Argument. Damit sollten wir uns näher befassen.«
»Lieber nicht.« Madeleines Stimme war beherrscht, aber unüberhörbar. »Tut mir leid, dass ich es überhaupt erwähnt habe. Die ganze Unterhaltung macht mir Bauchschmerzen. Können wir bitte über was anderes reden?« Am Tisch entstand verlegenes Schweigen. »George, erzähl uns von deiner Lieblingsspinne. Du hast doch bestimmt eine.«
»Ach … schwer zu sagen.« Er wirkte ein wenig desorientiert.
»Bitte, George.«
»Du hast doch gehört – das Thema ist tabu.«
Nervös schielte Peggy zu Madeleine. »Los, George. Alle wollen es hören.«
Nun ruhten alle Blicke auf George, der sichtlich aufblühte. Man konnte sich den Mann leicht am Pult eines Lesesaals vorstellen: Professor Meeker, der angesehene Entomologe, Quelle der Weisheit und spannender Anekdoten.
Vorsicht, Gurney, so ein Urteil könnte genauso gut auf dich zutreffen. Oder was treibst du sonst an der Polizeiakademie?
Selbstbewusst hob George das Kinn. »Springspinnen.«
Madeleine machte große Augen. »Springende Spinnen?«
»Ja.«
»Können sie wirklich springen?«
»Und ob. Fünfzigmal so weit wie ihre Körperlänge. Das ist, als würde ein eins achtzig großer Mann über ein ganzes Footballfeld springen. Und das Erstaunliche daran ist, sie haben praktisch keine Beinmuskeln. Wie also schaffen sie dann so einen Riesensatz? Mit hydraulischen Pumpen! Ventile an den Beinen setzen unter Druck gesetztes Blut frei, sodass sich die Beine ausdehnen und sie in die Luft befördern. Stellt euch vor, ein tödliches Raubtier stürzt sich aus dem Nichts auf seine Beute. Keine Hoffnung zu entrinnen.« Meekers Augen funkelten wie die eines stolzen Vaters.
Bei diesem Vergleich beschlich Gurney ein mulmiges Gefühl.
»Und dann«, fuhr Meeker aufgeregt fort, »gibt es natürlich noch die Schwarze Witwe – eine wirklich elegante Killerin. Ein Geschöpf, das Gegner von der tausendfachen Größe töten kann.«
»Ein Geschöpf«, warf Peggy ein, »das genau Scott Ashtons Definition von Vollkommenheit entspricht.«
Madeleine warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Ich beziehe mich auf Ashtons berüchtigtes Buch, das Empathie – Sorge um das Wohl und die Gefühle anderer – als Defekt hinstellt, als einen Mangel im menschlichen Grenzsystem. Die Schwarze Witwe mit ihrer üblen Gewohnheit, ihren Partner nach der Paarung zu töten und zu fressen, wäre wahrscheinlich sein Ideal von Vollkommenheit. Der vollkommene Soziopath.«
»Aber da er dieses erste Buch in einem zweiten Buch attackiert hat«, sagte Gurney, »lässt sich schwer einschätzen, wie er tatsächlich zu Soziopathen oder Schwarzen Witwen steht – oder zu irgendwas sonst.«
Madeleines Blick zu Peggy wurde nachdrücklicher. »Und dieser Mann soll eine Autorität für die Behandlung von Missbrauchsopfern sein?«
»Ja, oder eigentlich nein. Er behandelt nicht die Opfer. Er behandelt die Missbraucher.«
Madeleines Ausdruck veränderte sich. Anscheinend fand sie diese Information sehr bedeutsam.
Für Gurney verlängerte sich damit nur die Liste von Fragen, die er Ashton am nächsten Morgen stellen wollte. Das wiederum erinnerte ihn an eine andere ungelöste Frage, die er auch gleich seinen Gästen vorlegte: »Sagt einem von euch der Name Edward Vallory was?«
Als Gurney um Viertel vor elf endlich eingedöst war, klingelte sein Handy auf dem Nachttisch auf Madeleines Seite. Er hörte, wie sie sich meldete und sagte: »Ich sehe nach, ob er wach ist.« Dann tippte sie ihm auf den Arm und hielt ihm das Telefon hin, bis er es entgegennahm.
Es war Ashtons weicher Bariton, vor Nervosität klang er etwas angespannt. »Entschuldigen Sie die Störung, aber es könnte wichtig sein. Vor Kurzem habe ich eine SMS erhalten. Nach der Rufnummernkennung zu schließen von Hectors Handy. Ich glaube, es ist exakt die gleiche Nachricht, die Jillian an unserem Hochzeitstag bekommen hat: ›Aus allen Gründen, die ich schrieb. Edward Vallory.‹ Ich habe die Sache beim BCI gemeldet, und ich wollte, dass auch Sie davon erfahren.« Er stockte und räusperte sich nervös. »Meinen Sie, das bedeutet, dass Hector zurückkommt?«
Gurney hatte keinen großen Respekt vor mysteriösen Zufällen. Aber nach der Erwähnung dieses Namens, den er kurz zuvor selbst genannt hatte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
Erst nach über einer Stunde konnte er wieder einschlafen.