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Schwarz und Weiß
In der Stunde nach Madeleines Besuch in der Küche war Gurney mehrmals versucht, ins Schlafzimmer zu gehen, um den Sinn ihrer Äußerung zu ergründen. Doch stets wandte er sich wieder reflexartig den Vernehmungsprotokollen zu.
Hin und wieder schien Madeleine die Dinge wie durch eine trostlose Linse zu betrachten. Als hätte sich ihr Augenmerk auf einen kahlen Fleck in der Landschaft gerichtet und würde in ihm ein Paradigma der gesamten Landschaft erkennen. Aber dieser Perspektivenwechsel dauerte stets nur kurz an, dann weitete sich ihr Blick wieder, ihre Freude und ihr Pragmatismus kehrten zurück. Es war nicht das erste Mal, dass es passierte, und sicher auch nicht das letzte Mal. Doch im Moment verunsicherte ihn ihre Stimmung und hinterließ eine angespannte Hohlheit in seinem Magen – ein Gefühl, dem er unbedingt entrinnen wollte. Also holte er sich von der Garderobe in der Vorratskammer eine leichte Jacke und trat durch die Seitentür hinaus in die sternlose Nacht.
Durch die dicke Wolkendecke drang schwacher Mondschein. Sobald seine Augen sich daran gewöhnt hatten, folgte er dem kaum zu erahnenden Pfad durch das hohe Unkraut, den sanften Wiesenhang hinunter zu der verwitterten Bank am Weiher. Er setzte sich und lauschte. Allmählich traten verschwommene Umrisse hervor, Ränder von Gegenständen, vielleicht Bäume, aber nichts so klar, dass er sich sicher hätte sein können. Plötzlich nahm er am anderen Ende des Teichs etwa zwanzig Grad seitlich eine leise Bewegung wahr. Als er hinspähte, flossen die dunklen Formen undeutlich zusammen – große Brombeersträucher, hängende Äste, ein wirres Dickicht aus Rohrkolben am Ufer. Erst als er den Blick ein wenig neben die Stelle richtete, wo er die Bewegung bemerkt hatte, sah er es erneut – mit Sicherheit irgendein Tier, vielleicht in der Größe eine kleinen Rehs oder eines großen Hundes. Seine Augen huschten zurück, aber da war es wieder verschwunden.
Ihm war klar, dass das Phänomen etwas mit der Empfindlichkeit der Netzhaut zu tun hatte. Aus diesem Grund konnte man häufig einen schwach leuchtenden Stern sehen, wenn man knapp an ihm vorbeischaute, statt ihn direkt anzuvisieren. Und das Tier, wenn es denn eines war, war bestimmt harmlos. Selbst von kleinen Bären in den Catskills ging keine Gefahr aus – vor allem wenn man hundert Meter von ihnen entfernt ruhig dasaß. Trotzdem hatte eine nicht identifizierbare Bewegung im Dunkeln etwas Unheimliches an sich.
Die Nacht war windstill, geräuschlos, nichts regte sich. Für Gurney jedoch fühlte es sich alles andere als friedlich an. Allerdings ging dieser Mangel wohl mehr von seinem Kopf aus als von der Atmosphäre um ihn herum und hatte mehr mit den Spannungen in seiner Ehe zu tun als mit den Schatten der Wälder.
Die Spannungen in seiner Ehe. Seine Ehe war nicht vollkommen. Zweimal wäre sie um ein Haar zerbrochen. Vor sechzehn Jahren, nachdem sein vierjähriger Sohn bei einem Unfall gestorben war, wofür er sich verantwortlich fühlte, war er zu einem Nervenbündel erstarrt, mit dem kaum ein Zusammenleben möglich war. Und erst vor zehn Monaten hatte sein obsessives Eintauchen in den Fall Mellery nicht nur seiner Ehe, sondern auch seinem Leben fast ein Ende gesetzt.
Dennoch glaubte er, dass das Problem zwischen ihm und Madeleine relativ einfacher Natur war, oder dass er es zumindest verstand. Zum einen hatten sie diametral entgegengesetzte Persönlichkeiten. Bei ihm lief der automatische Weg zum Begreifen in erster Linie über das Denken, bei ihr über das Fühlen. Er fand die Verbindung zwischen den Punkten faszinierend, sie die Punkte selbst. Er zog seine Kraft aus der Einsamkeit und verlor sie in Gesellschaft, für sie galt das Gegenteil. Für ihn war Beobachten nur ein Mittel, um zu einem klaren Urteil zu gelangen, für sie war Urteilen nur ein Mittel, um zu einer klaren Beobachtung zu gelangen.
Nach den Maßstäben traditioneller psychologischer Tests hatten sie fast keine Gemeinsamkeiten. Aber oft floss es wie elektrischer Strom zwischen ihnen, wenn sie feststellten, dass sie die Wahrnehmung von Menschen oder Ereignissen miteinander teilten, genauso wie den Sinn für Ironie, für Rührendes, für Komisches, für Kostbares, für Ehrliches und Unehrliches. Ein Gefühl, dass der jeweils andere einzigartig und so wichtig war wie niemand sonst. Und in seinen wärmeren und unschärferen Tagen sah Gurney in diesem Gefühl den Kern der Liebe.
Das war der Widerspruch, in dessen Zeichen ihre Beziehung stand. Sie waren völlig und manchmal quälend verschieden in ihren tief verwurzelten Neigungen und dennoch miteinander verbunden durch starke Augenblicke der Einsicht und Zuneigung. Das Dumme war nur … seit dem Umzug nach Walnut Crossing waren diese Augenblicke immer seltener geworden. Es war lange her, dass sie sich umarmt, wirklich umarmt hatten, als hielten sie beide das kostbarste Wesen der Welt umschlungen.
Er war tief in Gedanken versunken und hatte seine Umgebung völlig vergessen. Dann riss ihn das Jaulen von Kojoten zurück in die Gegenwart. Es war schwer auszumachen, wo die durchdringenden Schreie herkamen und wie viele Tiere es waren. Er schätzte, dass es ein drei- bis fünfköpfiges Rudel irgendwo auf dem nächsten Hügelkamm war, ungefähr eineinhalb Kilometer östlich des Teichs. Als das Geheul plötzlich aufhörte, wurde die Stille noch tiefer.
Bald füllte sein Bewusstsein die sensorische Leere mit weiteren Überlegungen zu seiner Ehe. Allerdings war ihm klar, dass Verallgemeinerungen, so sehr er auch an ihnen hing, wenig zur Lösung praktischer Probleme beitrugen. Und das drängende praktische Problem im Augenblick war, dass er eine Entscheidung treffen musste in einer Sache, bei der er und Madeleine offenkundig verschiedener Meinung waren: Sollte er den Fall Perry übernehmen oder nicht?
Madeleines Gefühle konnte er sich lebhaft vorstellen, nicht nur aufgrund ihrer jüngsten Äußerungen, sondern auch wegen der generellen Sorge, mit der sie jede polizeibezogene Aktivität betrachtete, der er in den zwei Jahren nach seiner Pensionierung nahe gekommen war. Für sie war der Fall Perry eine Frage von Schwarz und Weiß. Wenn er den Fall annahm, bewies das, dass er selbst im Ruhestand noch zwanghaft auf die Lösung von Morden fixiert war, und dass sie auf eine düstere Zukunft zusteuerten. Eine Ablehnung des Falls hingegen würde in ihren Augen einen Wandel anzeigen, den ersten Schritt seiner Entwicklung vom arbeitssüchtigen Polizisten zum naturliebenden Kajakpaddler. Doch, so argumentierte er im Geist, als wäre sie tatsächlich anwesend, Schwarz-Weiß-Alternativen sind unrealistisch und führen zu schlechten Entscheidungen, weil sie per definitionem die meisten Lösungen ausschließen. Auch in dieser Situation sprach sicher das meiste für einen Mittelweg zwischen Schwarz und Weiß.
Ausgehend von dieser allgemeinen Regel fiel ihm sogleich ein idealer Kompromiss ein. Er würde den Fall annehmen, aber mit einer strikten zeitlichen Begrenzung – zum Beispiel eine Woche. Höchstens zwei. In diesem festgelegten Zeitrahmen würde er sich mit dem Beweismaterial befassen, lose Fäden aufgreifen, vielleicht einige wichtige Leute noch einmal vernehmen, den Fakten nachgehen, so viel herausfinden, wie es in seinen Kräften stand, Schlussfolgerungen ziehen, Empfehlungen aussprechen und …
Plötzlich setzte das Geheul der Kojoten wieder ein, doch jetzt lauter, als wären sie auf halber Höhe des bewaldeten Hangs hinter der Scheune. Schrill und aufgeregt klangen die Schreie herüber. Gurney war sich nicht sicher, ob sie wirklich näher kamen oder nur lauter wurden. Dann nichts mehr. Nicht der kleinste Laut. Durchdringende Stille. Zehn lange Sekunden verstrichen. Dann fingen sie nacheinander an zu jaulen. Eine Gänsehaut lief Gurney über Rücken und Arme. Wieder glaubte er, aus dem Augenwinkel den Schatten einer Bewegung zu erahnen.
Dann hörte er das Schlagen einer Autotür. Scheinwerfer schwankten die Wiese herunter, und die Strahlen wippten wild über die buschige Vegetation, weil der Wagen zu schnell über das unebene Gelände fuhr. Mit einem Ruck stoppte er ungefähr drei Meter vor der Bank.
Aus dem offenen Fahrerfenster drang ungewohnt laut, ja geradezu panisch Madeleines Stimme. »David!« Obwohl er schon aufgestanden war und im seitlichen Gleißen der Scheinwerfer auf das Auto zusteuerte, schrie sie noch einmal fast kreischend: »David!«
Erst als er im Auto saß und sie das Fenster schloss, fiel ihm auf, dass das entsetzliche Geheul aufgehört hatte. Sie drückte auf den Knopf für die Zentralverriegelung und legte die Hände aufs Lenkrad. Trotz der Dunkelheit glaubte er zu sehen, dass sie das Steuer mit starrem Griff umklammert hielt.
»Hast du … hast du nicht gehört, wie sie näher kommen?« Sie rang nach Luft.
»Ich hab sie gehört. Ich dachte, sie jagen irgendein Tier … ein Kaninchen oder so.« Er wollte hinzufügen, dass Kojoten für Menschen nicht gefährlich waren.
»Ein Kaninchen?« Ihre Stimme klang heiser, ungläubig.
Eigentlich konnte er das gar nicht so genau erkennen, aber ihr Gesicht schien regelrecht zu beben.
Schließlich atmete sie zittrig durch, dann noch einmal, und ließ das Steuer los, um die Hände zu entspannen. »Was hast du denn da unten gemacht?«
»Ich weiß nicht. Hab bloß ein bisschen nachgedacht … Wollte mir was durch den Kopf gehen lassen.«
Nach einem weiteren tiefen Atemzug, der schon ruhiger wirkte, drehte sie automatisch den Zündschlüssel. Da der Motor noch lief, wurde das mit einem knirschenden Laut quittiert, auf das sie wiederum mit einem irritierten Schrei reagierte.
Sie wendete vor der Scheune und fuhr über die Wiese zurück zum Haus. Näher bei der Seitentür als sonst parkte sie den Wagen.
»Und was genau wolltest du dir überlegen?«, fragte sie, als er gerade zum Aussteigen ansetzte.
»Bitte?« Er hatte genau verstanden, versuchte lediglich, die Antwort hinauszuschieben.
Sie drehte nur den Kopf halb in seine Richtung und wartete.
»Ich hab mir überlegt, wie … wie man das Ganze vernünftig angehen kann.«
»Vernünftig.« Sie sprach das Wort auf eine Weise aus, die ihm jede Bedeutung raubte.
»Vielleicht können wir das drinnen besprechen.« Er öffnete die Tür, um wenigstens für eine Minute zu entkommen. Als er aussteigen wollte, blieb sein Fuß an einer Stange auf dem Autoboden hängen. Im gelblichen Schimmer des Deckenlichts bemerkte er den schweren Holzstiel der Axt, die sie normalerweise in der Truhe neben der Seitentür aufbewahrten.
»Was ist das?«
»Eine Axt.«
»Ich meine, warum ist sie im Auto?«
»Ist mir als Erstes in die Finger gekommen.«
»Weißt du, Kojoten sind eigentlich nicht …«
»Woher willst du das wissen, verdammt?«, unterbrach sie ihn wütend. »Woher willst du das wissen?« Sie zuckte zurück, als hätte er nach ihrem Arm gegriffen. In unbeholfener Eile stieg sie aus dem Wagen, knallte die Tür zu und rannte ins Haus.