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Washington D.C.,
United States of America, Sol III
1048 EDT, 11. Oktober 2009
»Können wir irgendwie behilflich sein, Lieutenant?«, fragte Sergeant Leo. Der Alte wirkte so bedrückt, wie der Sergeant ihn noch nie erlebt hatte. Schlimmer noch als damals, als er geglaubt hatte, sie hätten nichts mehr zu essen.
Der Lieutenant saß auf der Treppe des Lincoln Memorial und sah auf den Spiegelpool hinab. Es war wieder ein herrlicher Tag, so strahlend blau, wie all diese schrecklichen Tage des Todes und der Verwüstung gewesen waren. Es war gerade, als würde die Natur sich über sie wegen ihrer albernen Kriegsspiele lustig machen. Die einzige Auswirkung der kinetischen Bombardements waren bis jetzt ein paar spektakuläre Sonnenauf- und -untergänge gewesen.
Lieutenant Ryan hatte sich den idealen Punkt ausgesucht, um das Spiegelbild des Denkmals im Wasser zu betrachten. Er schwankte hin und her zwischen Hysterie und Depression, die beide nur um Haaresbreite voneinander entfernt waren. Er war ein Absolvent der Militärakademie, und sein erster professioneller Einsatz war aus seiner Sicht wesentlich besser gelaufen, als das irgendjemand hätte erwarten dürfen. Dass er auf die Missouri gestoßen war, hatte ihm ermöglicht, die Posleen abzuschlachten. Und sein Platoon hatte sich unter Beschuss wie kampferprobte Veteranen gehalten.
Sie hatten also ihre Einheit verloren. Das war nicht ihre Schuld. Da war keine Einheit gewesen, der sie sich hätten anschließen können. Und deshalb redete man jetzt hinter seinem Rücken davon, dass die West-Point-Schutzvereinigung seine Karriere retten sollte. Und das, nachdem er fast eine ganze Division Posleen in Brei verwandelt hatte.
Und jetzt dies.
Er war erst ein paar Tage im Kampfeinsatz gewesen, aber er hatte das Gefühl, bereits »Instinkt« entwickelt zu haben. Und dieser Instinkt sagte ihm, dass die Posleen den einzigen Kommandostand vernichten würden, den es für die Sprengladungen gab. Und das bedeutete, dass sie die Brücke einnehmen würden. Und wenn es dazu kam, waren all die verstreuten Einheiten auf der Mall erledigt. Und die Posleen würden das Herz Amerikas erobert haben.
Wenn sie die Mall verloren, würde das sein, als ob man den Vereinigten Staaten das Herz aus dem Leibe schnitt. Zum Teufel, es würde sogar ernsthafte Auswirkungen auf die Expeditionsstreitkräfte haben. Amerikaner schimpften die ganze Zeit über ihre Regierung, aber das war nicht dasselbe, als ob sie die Symbole auf diesem historischen Stück Erde hassten. Und all das bloß, weil ein einziger dämlicher Offizier nicht auf das achten wollte, was ein Handbuch, ein erfahrener Offizier einer niedrigeren Rangstufe und der gesunde Menschenverstand ihm sagten.
Aber Ryan war Offizier. Berufsoffizier im Übrigen, Endprodukt einer langen Reihe von Soldaten.
»Ist schon in Ordnung, Sergeant.« Er stand auf und atmete tief durch. Rauch lag in der Luft, er kam von den Bränden im Süden, wo die Marines das Pentagon mit Micronukes in die Luft gejagt hatten. Er bemühte sich um einen Ausdruck reservierter Nachdenklichkeit.
Ich habe Recht gehabt, dachte Leo, wir sind im Arsch. Das letzte Mal, als der Lieutenant wie ein Opossum mit Verstopfung ausgesehen hatte, hatten sie gleich darauf Verbindung mit der Mo bekommen und so viel Artillerieunterstützung gekriegt, wie sich das ein vernünftiges, menschliches Wesen nur wünschen konnte.
Leo wusste, was an dem Lieutenant nagte, und war ganz seiner Meinung. Schließlich war er ein Ausbilder, der anderen beibrachte, wie man Sprengungen vornahm. Und der Captain war völlig von der Rolle. Als der Lieutenant die 123 Brücke zur Sprengung vorbereitet hatte, hatte Leo sich bereitgehalten, um ihm zu helfen. Aber der Lieutenant hatte genau berechnet, wie viel Sprengstoff er brauchte, und hatte nicht nur drei Möglichkeiten für die Sprengung vorgesehen, sondern auch für alle drei Varianten unterschiedliche Sprengpunkte festgelegt. Das ging weit über konservative Vorsicht hinaus, aber der Alte war eben einer, der Gürtel und Hosenträger trug. Und einem alten Sergeant, dem an der linken Hand zwei Finger fehlten, war das durchaus Recht. Bei einer Sprengung irgendetwas zu übersehen, war wirklich eine sehr schlechte Idee.
»Was machen die Männer?«, wollte der Lieutenant wissen. Dann verschluckte er, was er noch hatte sagen wollen, und sein Atem wurde regelmäßiger, als er anfing nachzudenken.
Leo legte den Kopf etwas zur Seite. »Alles klar, Sir. Wir haben Proviant und Munition bekommen. Ob Sie es glauben oder nicht, wir haben uns sogar Fahrzeuge besorgt.« Er beugte sich zu dem Offizier hinüber, der plötzlich offenbar nicht mehr zuhörte. »Sir?« Er blickte in die gleiche Richtung wie der Lieutenant, konnte aber nur den Spiegelteich und das Monument sehen.
Der Lieutenant schloss kurz die Augen und riss sie dann weit auf. »Holen Sie sie hier herauf«, herrschte er den Sergeant an. »Volle Ladung. Jetzt gleich!«
»Yes, Sir«, sagte der Sergeant und setzte sich die Treppe hinunter in Bewegung, ehe er anfing, über den Grund des Befehls nachzudenken. Aber er ging weiter. Es war nicht gut, dem Alten zu widersprechen.
Der Lieutenant schritt mit laut hallenden Schritten durch den Saal, der dem größten Humanisten oder dem größten Tyrannen in der Geschichte Amerikas gewidmet war, das konnte sich jeder aussuchen, und blieb an einer unauffälligen Tür an der Seite stehen. Er hatte das Denkmal als kleiner Junge besucht und fragte sich, wohin diese Tür führte. Jemand hatte bereits das Schloss zerschossen, und so konnte er ungehindert in den kleinen Raum treten, der hinter der Tür lag. Wie erwartet, führte dort eine Treppe in stockdunkle Tiefen, und er lächelte. Die wollten sich mit seinem Land anlegen, wie? Mit Pionieren anlegen?
Der letzte Mann des Platoons stand auf der obersten Treppenstufe, als die erste Plasmazunge gegen das Denkmal klatschte.
Der Schwall aus ionisiertem Deuterium brachte die Marmorfassade des Denkmals zum Schmelzen. Das Kohlenstoffgas mischte sich mit dem Kohlenstoff der Gruppe im Säulengang und wurde in dem Schwall überhitzter Luft weggeblasen. Zuerst bemerkte keiner die anfliegenden Gottkönige, aber als dann ihre Kanonen die Fläche zwischen dem Denkmal und der Brücke bestrichen, sahen alle die schnell herannahenden Untertassen.
Kenallurial schrie in hellem Entzücken auf, als sein Tenar feuerte. Dies war also der Te’naal Schlachtenwahn, von dem so viel geredet wurde. Endlich fühlte er sich wieder ganz, voll auf seine Aufgabe konzentriert. Die Thresh verbrannten unter seinen Kanonen, und das war gut. Die andere Seite der Brücke war erobert, und die verhassten Militärtechniker waren zum ersten Mal besiegt. Er kommandierte Arnata’dra ab, die Sprengladungen zu entfernen, während er selbst das riesige Gebäude angriff.
Auf dieser Seite schien es keinen Eingang zu geben, aber das war kein Hindernis. Er zog den Tenar auf die Höhe, wo die verhassten Techniker postiert gewesen waren und landete. Nirgends war eine Spur ihrer Geräte, aber da hingen noch Drähte herum, teils mit dem Stein verschmolzen und teils aus dem Boden ragend. Ohne zu wissen, wozu sie dienten, hatte er keine Lust, sie zu berühren; das war Arnata’dras Sache.
Er hob triumphierend die Krallen. Sollte Ardan’aath ruhig versuchen, seine Leistung zu schmälern. Eine Brücke über den Fluss war in den Händen der Heerschar. Sollten die Thresh verzweifeln!