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Dale City, Virginia,
United States of America, Sol III
0728 EDI, 10. Oktober 2009
There was thirty dead and wounded
on the ground we wouldn’t keep –
No, there wasn’t more than twenty
when the front begun to go –
But, Christ! Along the line o’ flight
they cut us up like sheep,
An’ that was all we gained by dorn so!
We was rotten ‘fore we started –
we was never disciplined;
We made it out a favoar
if an order was obeyed.
Yes, every little drummer ad
is rights an wrongs to mind,
So we had to pay for teachin – an we paid!
An there ain’t no chorus ere to give,
Nor there ain’t no band to play;
But I wish I was dead fore I done what I did,
Or seen what I seed that day!
From »That Day«
Rudyard Kipling
Dreißig Mann tot und verletzt am Boden,
wo es uns nicht hält –
Nee, nicht mehr als höchstens zwanzig,
wie die Front zusammenklappt –
Aber, Jesses, auf der Flucht
wer’n wir wie Schafe massakriert,
das ist alles, was wir schließlich davon hatten.
Wir war’n verrottet, längst eh’s losging –
hatten keine Disziplin;
Manchmal war’n wir richtig nett
und haben nem Befehl gehorcht.
Ja, jeder kleine Trommler hatte bloß
sein Recht im Kopf,
drum war Lehrgeld fällig – und wir ha’m gezahlt!
Also, hier gibt’s keinen Refrain zum Singen
Und keine Kapelle die hier spielt;
Und lieber war ich tot, statt zu tun was ich getan
Oder sehn was ich gesehn hab an dem Tag!
Aus »An dem Tag«
»Hat eigentlich einer die leiseste Ahnung, was jetzt läuft?«, fragte Specialist Keren, ohne darauf wirklich eine vernünftige Antwort zu erwarten.
»Du hast doch gehört, was der Präsident gesagt hat, also halt den Mund und grab weiter«, knurrte Sergeant Herd, aber es klang ganz freundlich. Sie waren alle konfus und unsicher.
Die Fünfzigste Infanteriedivision war eine neue Einheit. Die Fahne der Einheit war seit dem Zweiten Weltkrieg eingelagert gewesen, als die Division auf dem pazifischen Kriegsschauplatz eingesetzt gewesen war, ohne sich besonders hervorzutun. Sie hätte beinahe an der Schlacht im Golf von Leyte teilgenommen. Während der Schlacht von Tarawa hatte sie heroische Etappendienste geleistet. Sie wäre ums Haar bei der Invasion Japans eingesetzt worden und dafür in die Geschichte eingegangen – nur dass es zu dieser Invasion nie gekommen war. Unglücklicherweise war sie deshalb nur eine kleine Fußnote in der Geschichte der Army, und zwar eine Fußnote, die bis zur augenblicklichen Situation niemand zur Kenntnis genommen hatte. Und dementsprechend hatten die Bodenstreitkräfte reagiert.
Die Soldaten und Offiziere, die man zu der Einheit versetzt hatte, waren im Großen und Ganzen von der Art, die man lieber gehen als kommen sieht, und die neuen Rekruten hatten außer diesen Soldaten und Offizieren sowie ein paar Runderneuerten niemanden, der ihnen ein Beispiel geben konnte. Ein paar Offiziere und Unteroffiziersdienstgrade fielen positiv auf, aber meist nur deshalb, weil man aus einem Morast der Unfähigkeit auch schon mit durchschnittlichen Leistungen herausragt.
Das Mörser-Platoon der Alpha-Kompanie des Vierhundert-zweiundfünfzigsten Infanteriebataillons, Dritte Brigade, Fünfzigste Infanteriedivision, gehörte zu diesen wenigen Ausnahmen. Specialist Keren war zugegebenermaßen schon einmal Sergeant gewesen und würde vermutlich wieder ein Private werden, aber mit seinem Geschick im Umgang mit einem Mörser hatte das nur sehr wenig zu tun. Er hatte ein kleines Alkoholproblem, mit dem die Gewohnheit einherging, Offizieren gelegentlich in aller Ausführlichkeit und mit einigem Nachdruck zu erklären, womit sich ihre Mütter seiner Ansicht nach ihr Taschengeld verdienten, aber im Einsatz war das kein Problem. Und unter den »ausgebildeten« Privates war er so etwas wie ein Höhepunkt. Andere frisch gebackene Privates hatten etwa das geistige Niveau eines Gorillas. Und der Platoon Sergeant hatte die letzten fünfzehn Jahre damit verbracht, in einer Feinmechaniker-Werkstätte seine Kenntnisse der Metallbearbeitung zu vervollkommnen. Der Platoon-Führer hatte trotz des Überangebots an First Lieutenants erst vor kurzem die Offiziersschule der Nationalgarde der Pennsylvania Army absolviert und würde in Kürze mit hoher Wahrscheinlichkeit anfangen müssen, sich zu rasieren.
Trotz alledem hatte sich in dem Platoon ein gewisses Kameradschaftsgefühl entwickelt, das in weiten Teilen der Division bedauerlicherweise überhaupt nicht anzutreffen war, und sie hatten es sogar geschafft, während der gelegentlich ausgebrochenen Unruhen zusammenzuhalten. Und sie hatten sogar Ausbildungsdienst geleistet, wenn der Rest des Bataillons sich einfach gedrückt hatte oder die Hälfte der Zeit nicht zum Dienst erschienen war. Welcher Zauber sie angesteckt hatte, ob nun Kerens sarkastische Einschätzung ihrer Chancen im Falle echter Kampfhandlungen oder das pedantische Interesse des Platoon Sergeant für jedes noch so kleine Detail sowohl im persönlichen wie auch im Gerätebereich, oder die an ein junges Hündchen erinnernde Beflissenheit des Platoon-Führers – die Einheit war jedenfalls zusammengewachsen. Zugegebenermaßen lagen sie weit unter den vor Eintreten der Notstandssituation gültigen Normen für die amerikanische Army und hatten auch noch eine Menge Ausbildung vor sich liegen, aber sie waren so gut, wie das eben in der Fuckiri Fiftieth ging.
Unglücklicherweise hätte die augenblickliche Situation selbst eine erfahrene Einheit ausgebuffter Veteranen vor Probleme gestellt.
»Weißt du, ich mag Lieutenant Leper. Ich meine …« Keren warf wieder einen Spaten voll Erde aus dem Loch, das er neben dem Mörser grub. Vielleicht würde er es nicht brauchen, aber wenn doch, dann bestimmt dringend und in großer Eile. Die meisten im Platoon hielten ihn für einen Schwachkopf.
»Schluss jetzt, Keren.« Sergeant Herd wusste, dass er in Keren den besten Mörserschützen im Bataillon, vielleicht sogar der ganzen Division hatte, aber er wusste auch, dass er ihn am ganz kurzen Zügel führen musste.
»Nein, wirklich, er ist ein netter Kerl und gibt sich auch große Mühe …«, fuhr er fort, warf dabei die nächste Ladung Erde aus dem Loch und sah sich um, ob er jemanden getroffen hatte. Nein. Verdammt.
»Was glaubst du denn«, schnaubte Sheila Reed, die den Transporter fuhr und als Ladeschützin eingesetzt war, »das du besser könntest?«
»Scheiße, ich weiß, was ich besser könnte«, erwiderte Keren und warf die nächste Schaufel voll Erde noch höher. Der Wind erfasste sie und trug den Staub zum Rest der Crew hinüber, die auf dem Mörserträger herumlungerte. Sein schokoladenfarbenes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, als sie zu schimpfen anfingen.
»Dann geh doch hin und tu es«, sagte Tom Riley, der zweite Geschützführer.
»Scheiße, nein. Sergeant Ford ist da draußen. Du weißt genau, was das für ein Dreckskerl ist.«
»Scheiß auf Ford«, sagte Herd, der plötzlich Interesse fasste. »Der taugt gerade für die Feuerleitung, aber das kann schließlich jeder, der Zahlen eintippen kann. Meinst du wirklich, dass er die Geschütze ausrichten kann?«
»Ich sehe von hier aus, was die für ein Problem haben«, sagte Keren, warf den Spaten aus dem Loch und wischte sich die Hände ab. »Die schaffen es nicht, das Stativ ordentlich einzurichten. Das ist nicht wie bei einem Hundertzwanziger, wo man nur die Seitenabweichung korrigieren muss, da muss man es ganz herum machen.« Er stemmte sich aus dem Loch und sah seinen Gruppenführer an.
»Schön. Dann sag Ford, dass er mit mir reden soll, wenn er ein Problem hat.« Sergeant Herd war sich ziemlich sicher, dass Keren Recht hatte. Der Mann hatte sich freiwillig gemeldet, ehe man von der Invasion gehört hatte, hatte bereits sechs Dienstjahre auf dem Buckel und kannte sich mit Mörsern wesentlich besser aus als irgendeiner im Platoon, mit Ausnahme des Platoon Sergeant. Wenn er behauptete, dass er es schaffen würde, das Platoon einzurichten, dann würde er das auch.
Keren zog sich die Ärmel herunter und schob sich die Mütze auf dem Kopf zurecht. Die Vorschrift war, dass man im Feld ständig den Kevlarhelm tragen musste, aber sein Kevlar war im Fahrzeug – wo er einen davor bewahrte, sich den Schädel anzustoßen –, und dort würde er auch bleiben. Da die meisten Männer und Frauen im Platoon ihre Tarnmützen trugen, fiel er nicht auf. Die einzigen Leute, die Kevlarhelme trugen, waren Lieutenant Leper und Sergeant Ford. Dafür legte Keren sein Werfersteuergerät ebenso wie seine Pistole, das ANCD und Proviant und Wasser nie ab.
»Okay, Zippy«, sagte er, womit er Riley meinte, der diesen Spitznamen hatte, »dann wollen wir das Ding mal ausrichten.«
Als Sergeant Ford auf die beiden zuging, drehte er sich halb zur Seite und funkelte ihn an. »Wir brauchen deine Hilfe nicht, Keren, verschwinde also.«
»Bin schon dabei, Sergeant. Passiert jedes Mal, wenn ich aus der Baracke gehe. Sergeant Herd hat gesagt, ich soll sehen, ob ich vielleicht helfen kann.«
»Sergeant Ford«, sagte Lieutenant Leper, »vielleicht können Sie mal sehen, ob Sie Verbindung zum Bataillon bekommen.«
Ford warf dem Specialist einen bösen Blick zu und stelzte zu dem Feuerleitpanzer hinüber.
»Specialist, ich habe da anscheinend ein wenig Probleme, das hier ordentlich zu nivellieren. Ich habe Staff Sergeant Simmons oft zugesehen und dachte immer, ich wüsste, wie man das macht …«
»Ja, Sir, verstehe.« Keren nickte taktvoll. »Diese Biester sind wirklich verdammt schwer zu nivellieren.« Er griff nach den Drehknöpfen und zentrierte sie, warf dann einen Blick auf die Libelle und rammte dann ein Bein des Stativs in die Erde. Dann drehte er mit beiden Händen an allen drei Knöpfen, manchmal an zweien gleichzeitig, und ließ das Visier kreisen.
»Die Richtung ist achtundzwanzig-null-null, stimmt’s, Sir?«
»Achtundzwanzig-null-null, richtig«, sagte der verunsicherte Lieutenant und blickte ihm über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass die widerspenstige Luftblase tatsächlich sauber zentriert war. Das war sie zu seiner Überraschung. »Wie zum Teufel haben Sie das so schnell hingekriegt?«
»Genau so wie man zur Carnegie Hall kommt, Sir.« Der Specialist kurbelte den Kopf auf achtundzwanzig-null-null und drehte ihn zu seinem Panzer herum. »Zwei Geschütze, Zielpunkt dieses Instrument!«, rief er.
»Zwei Geschütze, Zielpunkt identifiziert!«, antwortete Riley. Der Schütze auf dem zweiten Panzer, der gerade noch gedöst hatte, fuhr in die Höhe und kletterte ins Fahrzeug. Im nächsten Augenblick kam sein Kopf wieder heraus.
»Seitenabweichung eins sieben eins sieben fünf! Das reicht.«
»Seitenabweichung eins sieben eins sieben fünf!«
Keren drehte das Visier zum nächsten Fahrzeug und las den Wert ab. »Drei Geschütze!«
»Drei Geschütze!«
»Zielpunkt dieses Instrument!«
»Zielpunkt identifiziert!«
»Seitenabweichung eins neun eins eins acht!«
»Seitenabweichung eins neun eins eins acht!«
Er wartete, bis die Rückmeldungen kamen, freute sich innerlich darüber, dass der zweite Geschützführer seines Fahrzeugs schneller fertig war als der auf dem dritten und wiederholte die Prozedur noch einmal für jedes einzelne Geschütz, bis sie alle parallel eingerichtet waren. Erst dann gab er sich zufrieden. »So, das war’s. Ob sie wirklich sauber ausgerichtet sind, wissen wir erst, wenn wir sie in Reihe abfeuern, Sir. Aber besser krieg ich’s nicht hin.«
»Das war wirklich verblüffend. Wie haben Sie das mit der Libelle so schnell hingekriegt?«, fragte der Offizier sichtlich immer noch überrascht, wie geschickt Keren war.
»Den Trick hat mir mein erster Platoon Sergeant beigebracht. Wenn die Blase so aussieht, als würde sie in eine Richtung gehen, muss man zwei Knöpfe packen. Einen drehen, um die Blase zu schieben, und den anderen in entgegengesetzte Richtung drehen. Außerdem soll man immer aus normalem Sichtwinkel auf die Libelle sehen und nicht etwa versuchen, von oben runterzuschauen. Auf die Weise hält man sie ruhig.«
»Das werde ich mir merken. Danke.«
»De nada, Sir. Nehmen Sie mir’s nicht übel, aber das war jetzt wirklich dringend nötig.«
»Ich weiß. Ich glaube, diesmal wird uns die Kompanie wirklich brauchen.« Der junge Lieutenant gab sich sichtlich alle Mühe, nicht ängstlich zu wirken. Für einen Offizier gehörte es sich einfach nicht, sich Angst anmerken zu lassen, und außerdem hatte man ihm gesagt, dass man damit in Situationen wie dieser seine Soldaten mit Sicherheit total verunsicherte und möglicherweise Panikreaktionen auslöste. Unglücklicherweise strengte er sich so an, sich die Angst nicht anmerken zu lassen, dass er zwar nicht verängstigt, dafür aber entsetzt wirkte.
»Sir«, sagte Keren, dem der arme Junge Leid tat. »Wir sind drei Kilometer hinter der Front und haben ein ganzes Bataillon vor uns. Worüber sollen wir uns also Sorgen machen?«
»Sieht man das so deutlich?«
»Verdammt, ja. Wollen Sie einen unverlangten Rat, Sir?«
»Nein, aber Sie werden ihn mir trotzdem geben, oder?«
Keren grinste. »Sonst wäre ich kein Specialist. Gehen Sie zum Feuerleitpanzer und sagen Sie Sergeant Ford, der ein Arschloch ist – und von dem auch jeder weiß, dass er ein Arschloch ist, deshalb wird Ihnen das keiner übel nehmen –, er soll zu den Fahrzeugen gehen und sich vergewissern, dass sämtliche .50-Kaliber geputzt und geölt sind. Und sagen Sie ihm auch, er soll dafür sorgen, dass ein paar Ladeschützen das Schussfeld frei machen. Und lassen Sie ein paar Minen legen und solches Zeug. Wie’s eben im Buch steht. Und dann setzen Sie sich hin und blicken ernst und gefasst und starren eine Landkarte an, die Sie bereits auswendig gelernt haben. Bloß nicht auf und ab gehen. Und hie und da nehmen Sie einen Schluck Wasser. Tun Sie so, als würden Sie schlafen. Oder lesen Sie im Handbuch.«
»Und damit kann man den Soldaten Mut machen?« Der Lieutenant lächelte müde.
»Nein, aber es ist besser, als wenn man Ihnen dabei zusieht, wie Sie jede Viertelstunde zur Latrine rennen, Sir«, grinste der Specialist. »Ja, die Neuen und, verdammt noch mal sogar die Sergeants, sind ein wenig gelb im Gesicht und könnten jemanden brauchen, der ihnen ein Beispiel gibt und ein bisschen Arbeit, damit sie nicht an das denken, was auf sie zukommt. Tun Sie einfach so, als ob das auch bloß wieder eine Übung wäre, ein schöner, kalter Tag auf dem Lande.«
»Guter Vorschlag, Specialist. Warum zum Teufel sind Sie eigentlich bloß Specialist?«
»Das haben Sie noch nicht gehört, Sir?«
»Nein.«
»Ich habe meinem letzten Platoon-Führer gesagt, seine Mutter sei eine Hure mit AIDS, die ihn in einer öffentlichen Toilette einfach rausgequetscht und dann vergessen hat, die Spülung zu ziehen, Sir.« Plötzlich wirkte er betrübt. »Ich war da wohl ein wenig besoffen. Aber der war wirklich ein Arschloch«, schloss er, als ob das den Vorfall hinreichend erklären würde.
»Ganz bestimmt.«
»Roger, Ende.«
Captain Robert Brantley hängte das Mikrofon bedächtig wieder an seinen Haken, schob sich den Kevlarhelm auf dem Kopf zurecht, zog den Kinnriemen straff, nahm die Automatikwaffe, die er sich beschafft hatte, lud durch, um sich zu vergewissern, dass sie schussbereit war, und kletterte über die Munitionskisten in dem Bradley-Kampfpanzer und durch die Heckklappe ins Freie. Draußen angekommen, fing er den Blick seines First Sergeant auf und machte eine kreisende Handbewegung mit dem Arm als Signal »zusammenbleiben«.
Als der Sergeant zu ihm herüberkam, nahm sich der Kommandeur die Zeit, der Kompanie beim Eingraben zuzusehen. Zumindest galt das für die paar Angehörigen des Zweiten Platoon, die in Sichtweite waren. Der Befehl war klar und eindeutig gewesen und wurde auch von niemandem in Zweifel gezogen. Zwei Mann Kampfstellungen, überlappendes Schussfeld, M-60E-Maschinengewehrstellungen mit extra Deckung, Sandsäcke davor, alles nach Reglement. Mit Ausnahme einiger weniger Kleinigkeiten, die in die Zuständigkeit des Kompaniechefs fielen.
»Wie läuft’s denn?«, fragte er den First Sergeant. Der Mann war zu seiner Einheit versetzt worden, ein Hüne mit mächtigem Bierbauch, der noch vor ein paar Jahren Anlass genug gewesen wäre, ihn aus der Army zu entlassen. Der Kompaniechef hätte darüber ohne weiteres hinwegsehen können – schließlich funktionierten Armeen seit undenklichen Zeiten, ohne dass berufsmäßige Langstreckenläufer die Norm darstellten –, wenn er ein kompetenter Sergeant gewesen wäre. Unglücklicherweise war er das nicht. Der First Sergeant war ein netter, stiller Einfaltspinsel, der den Aufstieg zu seiner gegenwärtigen Rangstufe einer Reihe von Vorgesetzten zu verdanken hatte, denen es genügte, einen netten, ruhigen Einfaltspinsel als Sergeant zu haben. Wie das in der Prä-Posleen-Armee passiert war, wusste Captain Brantley nicht. Die Armee, von der er sich vor zehn Jahren verabschiedet hatte, pflegte im Allgemeinen Material dieser Art etwa auf der Stufe eines Staff Sergeant auszusondern.
»Äh, okay, Sir«, sagte der First Sergeant mit einer schlampigen Ehrenbezeigung. Er zog die Bluse seines Kampfanzugs herunter, um die Falten zu glätten, und versuchte seinen Waffengurt festzuschnallen, womit er freilich seinen Bierbauch nur noch deutlicher zur Geltung brachte. »Äh, das Erste Platoon hat jetzt die Mehrzahl seiner Leute, aber vom Dritten haben wir immer noch nichts gehört. Und von der Bravo-Kompanie haben wir bisher noch keine Spur entdeckt, deshalb hat die Zweite niemanden auf der linken Seite.«
»Ist ja großartig. Na schön, die Mörser sind endlich in Stellung und stehen bereit, aber sie haben nur zwei Geschütze. Sind die Positionen schon bekannt? Und wissen wir etwas über warmes Essen?«
»Also drüben beim Ersten Platoon sind wir noch nicht so weit wie hier. Und den XO kriege ich nicht ans Telefon, also weiß ich nicht, wie es mit Essen steht.«
Captain Brantley unterdrückte ein Seufzen. Er erinnerte sich an den First Sergeant, den er während seiner letzten Dienstperiode in der Kompanie gehabt hatte. Ein Unteroffiziersdienstgrad, der als einer der letzten noch in Vietnam gedient hatte und der eine Feldküche aufspüren konnte, ganz gleich, wie sehr sie »verloren« gegangen war, und der, wenn er sie wider Erwarten doch mal nicht fand, einfach Pizza liefern ließ. Per Helikopter, wenn notwendig. Seit den Zeiten Wellingtons mindestens, wenn nicht seit Gustav Adolf, hatte es nie Zweifel darüber gegeben, dass eine ordentliche Mahlzeit vor einer Schlacht von äußerster Wichtigkeit war. Brantley war nicht gerade erbaut davon, mit zwei Dritteln seiner Kompanie, mit niemandem an seiner linken Flanke und mit Soldaten ohne warme Mahlzeit im Bauch in die Schlacht ziehen zu müssen.
»Okay, nehmen Sie meinen Humvee. Oben an der Interstate ist ein McDonald’s. Holen Sie einhundertzwanzig Hamburger und dreißig Cheeseburger.« Er zog die Brieftasche heraus und reichte dem First Sergeant Geld für den Einkauf. »Wenn die damit einverstanden sind, versuchen Sie ihnen einen Voucher für das Essen zu geben. Wenn sie geschlossen haben, holen Sie das Material für das Essen aus dem Gebäude. Nehmen Sie Specialist Forrier mit.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Funkoffizier, der auf der Rampe des Bradley saß. Der Junge hatte schon genügend Ärger hinter sich, so dass es ihm wahrscheinlich großen Spaß machen würde, mit höchster Erlaubnis ein wenig Abwechslung zu kriegen.
»Wenn Sie dort nichts Warmes zu essen finden, dann suchen Sie weiter, bis Sie einen Lebensmittelladen oder ein Restaurant oder dergleichen gefunden haben. Klar?«
»Yes, Sir.« Der First Sergeant sah ihn mit traurigen Augen an. »Ich will Sie nicht allein lassen, Captain. Wir wissen nicht, wann die Posleen hier auftauchen.«
»Dann sorgen Sie eben dafür, dass Sie mit was Ordentlichem zu futtern hier sind, ehe die kommen. Und achten Sie darauf, dass die Funkverbindung nicht abreißt. Ich möchte Sie erreichen können, wenn ich Sie hier brauche.«
»Yes, Sir. Vielleicht kommt der XO inzwischen mit etwas Essbarem rüber.«
»Vielleicht. Ziehen Sie ab, First Sergeant.«
Der Mann salutierte und ging auf den Humvee zu. Man musste es ihm ja lassen, wenn man ihm klare Anweisungen gab, führte er die auch nach besten Kräften aus. Damit war ein Problem unter Kontrolle, als Captain Brantley den Humvee des Bataillonschefs durch den Wald heranrollen sah.
Ein großer, massiv gebauter Offizier sprang aus dem Humvee, ehe der ganz zum Stillstand gekommen war, und eilte mit schnellen Schritten auf den wartenden Kompaniechef zu. Obwohl der Lieutenant Colonel wie zweiundzwanzig aussah, war er bereits über sechzig; er war Ende der achtziger Jahre als Bataillonskommandeur der First Infantry Division in den Ruhestand gegangen. Das Kommando des Bataillons hatte er erst vor vier Monaten übernommen und in der Zeit alles Menschenmögliche getan, um es auf ein Ausbildungsniveau zu bringen, auf das er stolz sein konnte. Unglücklicherweise waren die Posleen offenbar nicht bereit, ihm die nötige Zeit zu lassen, um die noch bestehenden Schwachstellen auszubügeln.
Während er auf den Chef seiner Alpha-Kompanie zu ging – den einzigen Kompaniechef, von dem er der Ansicht war, dass er etwas taugte –, legte er sich zurecht, wie er die schlechten Nachrichten formulieren sollte.
»Captain Brantley.«
»Colonel«, sagte der Offizier und nickte. »Ich würde Ihnen gerne eine Tasse heißen Kaffee anbieten, aber anscheinend haben wir die Feldküche verlegt.«
»Das ist nicht alles, was wir verlegt haben«, meinte der Bataillonschef mit einem unechten Grinsen. »Machen wir einen kleinen Spaziergang.«
Als die beiden Offiziere weit genug von der Einheit entfernt waren, dass niemand hören konnte, was sie sagten, baute der Colonel sich so auf, dass Brantley seinen Soldaten den Rücken zuwandte. Auf die Weise würden sie sein Gesicht nicht sehen können, wenn er die schlechte Nachricht erfuhr.
»Okay«, fing er dann ohne lange Vorrede an, »es gibt keine guten Nachrichten. Gar keine. Und die schlechten Nachrichten sind folgende: Ich weiß, dass Sie auf Ihrer linken Flanke keine Bravo-Kompanie haben. Das liegt daran, dass Sie effektiv keine Bravo-Kompanie haben. Im Einsatzbereich der Bravo-Kompanie gibt es genug Fahrzeuge, um daraus ein Platoon zu bilden. All die anderen sind entweder verloren gegangen oder halten sich versteckt. Möglicherweise finden wir noch ein paar, die sich einfach verfranzt haben, aber die meisten sind abgehauen. Einfach abgehauen, schlicht und ergreifend. Bevor das Gefecht überhaupt angefangen hat.«
Er schüttelte den Kopf, ließ sich aber sonst nicht anmerken, wie sehr ihn das bedrückte. Selbst von hier aus konnte er sehen, dass die Soldaten während ihrer Schanzarbeiten gelegentlich herübersahen, und er wollte sie einfach nicht merken lassen, wie übel man ihnen mitgespielt hatte.
»Ihr Erstes Platoon ist – vermischt mit der 21st Cav – schließlich aufgetaucht, und da sie bereits dort sind, hat man sie für die nächste Zeit als Infanterieunterstützung der Cav ›abgeordnet‹«
»Oh, Scheiße.« Der Kompaniechef schüttelte den Kopf und gab sich alle Mühe, das hysterische Lachen, das in ihm aufstieg, nicht hochkommen zu lassen. »Du lieber Gott, da sind wir ja jetzt schon so gut wie im Arsch.«
»Der ganze Nachschub – einschließlich Reserveproviant, Feldküche, Munition, Reparatureinheiten und allgemeine Logistik – ist irgendwie auf den Prince William Parkway geraten und befindet sich auf halbem Wege nach Manassas. Dort gibt es Frühstück.«
»Ich würde mit dem größten Vergnügen aufladen und hinterher fahren. Ich meine, die ganze Kompanie.«
»Kann ich mir vorstellen«, erwiderte der Bataillonschef trocken. »Ich habe schon so manche Übung erlebt, die völlig in die Binsen gegangen ist, aber so schlimm wie hier – das ist selbst für mich neu.«
»Das ist keine Übung, Sir«, sagte der Chef von Alpha, dem jeglicher Humor vergangen war. Er spürte, wie es ihm eisig über den Rücken lief, und sein Mund wurde trocken. »Charlie-Kompanie?«
»Etwa da, wo Sie auch sind, effizienzmäßig, nur dass Captain Lanceman zu den Vermissten gehört.« Die ausdruckslose Miene des Bataillonschefs ließ erkennen, dass er die Abwesenheit des Captain nicht gerade bedauerte.
»Ich habe dem XO, Lieutenant Sinestre, das Kommando übergeben, und er hat auch den größten Teil der Kompanie, aber überhaupt keine Mörser. Ich habe ihm die Mörser der Bravo geschickt und kommandiere das Personal der Bravo zu Ihnen ab, als Ihr ›Drittes Platoon‹. Aber es gibt noch zwei weitere Probleme.«
»Und die wären, Sir?«
»Das Bataillon hat hier keine Reserve, aber was noch schlimmer ist, wir haben niemanden an unserer rechten Flanke.«
»Wo ist denn die Zweite Batterie?«, fragte der Kompaniechefentsetzt.
»Irgendwo da, wo auch unsere Feldküche ist, dreißig Meilen von hier entfernt, in der Nähe von Manassas. Das war die Stelle, wo man denen befohlen hat, sich einzugraben. Die Brigade läuft herum wie ein kopfloses Huhn, also habe ich mich einfach entschieden, das Bataillon auszuweiten. Die Dritte Batterie ist auf Ihrer linken Seite, aber rechts ist eine Divisionsgrenze. Ich habe Spähtrupps ausgeschickt, die nach der Dreiunddreißigsten suchen sollen, die angeblich irgendwo dort draußen steckt, oder meinetwegen auch die Einundvierzigste. Nach IVIS gibt es zwischen hier und dem Potomac niemand, aber das will mir nicht eingehen. Es muss einfach jemand in der Gegend der Interstate sein!«
»Noch einmal, bitte.« Arkady Simosin kam sich vor wie eine halbtote Leiche. So oft er auch an Manövern teilgenommen hatte – als junger Offizier mit dem Kommando über ein Panzer-Platoon, bis hinauf zu weiträumigen Manövern mit mehreren Armeekorps – ein so heilloses Durcheinander wie in dieser Nacht hatte er noch nie erlebt. Sämtliche Einheiten seines Korps waren über die Landschaft verstreut und hatten weder eine Ahnung davon, wohin sie sich begeben sollten, noch was man von ihnen erwartete. Und wie schlimm es wirklich war, bekam er jetzt erst in diesem Augenblick mit. Sein Stab hatte sich versammelt, um ihm die schlechten Nachrichten zu überbringen, wobei der Stabschef das offizielle Opferlamm war.
»Wie Sie wissen, Sir, war in der Gefechtsplanung vorgesehen, dass die Einundvierzigste Stellungen zwischen dem Potomac und dem Bereich I-95/U.S. 1 beziehen, die Dreiunddreißigste die Straßen besetzen und die Fünfzigste befestigte Positionen im Westen der Straße mit Kavallerieschutz im Westen und der Nineteenth Armored als Reserve einnehmen sollte. Dieser Plan basiert auf der Annahme, dass die Posleen auf der Achse 95/1 in Richtung Alexandria vorrücken.«
»Ist ja nicht gerade neu«, knurrte der General. Er spürte, dass er in den Brooklyn-Akzent seiner slawischen Vorfahren zurückfiel, was immer ein schlechtes Zeichen war. »Sie sagten doch, dass die Einundvierzigste nicht auf Position ist.«
»Ja, das ist ziemlich schlimm. Die Einundzwanzigste Division und die Fünfzigste sind die Einzigen auf der korrekten Ost-West-Achse. Die Einundvierzigste liegt sieben Meilen dahinter und die Dreiunddreißigste vier Meilen hinter dem Bereich, wo sie eigentlich sein sollte. Wir haben Logistik-Verbände vor unseren Kampfteams und Gefechtseinheiten. Im Augenblick haben wir drei Divisionen in gestaffelter Aufstellung statt massiert, und das lädt natürlich dazu ein …«
»Uns en detail niederzumachen.« Arkady verzog das Gesicht und sah auf den Bildschirm seines PC. »Hier sieht das anders aus. Da kann man bloß ablesen, dass sie noch nicht auf voller Kampfstärke sind.«
»Die Darstellung nimmt zur Kenntnis, dass ein gewisser Prozentsatz jeder Einheit sich am richtigen Ort befindet, und in Anbetracht des augenblicklichen Chaos ist das ihre tatsächliche Achse, General. Unglücklicherweise befindet sich der größte Teil jeder Division in dem Bereich, den ich Ihnen gerade genannt habe. Das sind die Positionen, die man ihnen zugewiesen hat, oder, in manchen Fällen, für die sie sich selbst entschieden haben.«
»Okay.« Simosin zermarterte sich sein müdes Gehirn nach einer Lösung. »Rufen Sie die Einundzwanzigste. Sagen Sie denen, die sollen die Stellung halten. Wenn sie Posleen-Kontakt bekommen, sollen sie keinen massiven Widerstand leisten, sondern lediglich versuchen, ihren Vormarsch zu verlangsamen. Ziehen Sie die Fünfzigste dorthin zurück, wo die Dreiunddreißigste jetzt steht. Die Einundvierzigste ziehen Sie zu derselben Achse vor. Ich möchte, dass in der zur Verfügung stehenden Zeit so viele Einheiten wie möglich eine Achse bilden.«
»Das bringt uns beinahe bis zum Prince William Parkway, General«, gab der G-3 zu bedenken. »Ein gutes Stück nördlich der Stelle, die der Präsident genannt hat.«
»Nördlich oder südlich des Prince William?«
»Südlich, Sir.«
»Gut, der Präsident wird das schlucken müssen; wenn wir diese Straße im Rücken haben, gibt uns das die Möglichkeit, Verstärkungen hin und her zu schleusen und uns, wenn nötig, zurückzuziehen. Bringen Sie die Artillerie des Korps in Stellungen nördlich des Occoquan; dort kann man sie für Support einsetzen. Und schaffen Sie alle Logistikelemente, mit Ausnahme von Munition und Proviant, ebenfalls nach Norden. Sagen Sie den Divisionschefs, sie sollen ihre Artillerie nach eigenem Ermessen in Stellung bringen. Sie sollten allerdings wissen, dass ihre Artillerie den Kontakt zu Ihnen verliert, wenn Sie sie in den Norden bringen und die Brücken gefallen sind.
Wie steht es um die Brücken?«
»Die sind alle zur Sprengung vorbereitet, General«, sagte ein Major der Pioniertruppe von der Fünfundneunzigsten Infanteriedivision. Als ranghöchster Pionier des Korps hatte man ihn anstelle des abwesenden Pionierchefs des Korps als Verbindungsmann abkommandiert. »Die sprengen sie, wenn die letzten Einheiten im Süden und die Flüchtlinge im Norden sind, oder wenn die Posleen auf Schussweite nahe gerückt sind.«
»Schön, dann müssen wir eben zusehen, dass es nicht dazu kommt. Okay, fangen Sie an, die Einheiten durchzumischen. Wir haben noch Zeit, das zurechtzubiegen, Leute; wir dürfen bloß nicht durcheinander geraten.«