57
Rabun County, Georgia,
United States of America, Sol III
0446 EDT, 11. Oktober 2009
Cally rieb die orangerote Lösung in den Cordura-Nylon und mühte sich ab, die letzten Flecken zu tilgen. »Ich wünschte, diese Typen in den weißen Anzügen wären noch ein wenig da geblieben, um das Zeug hier sauber zu machen.«
Papa O’Neal schmunzelte und kratzte einen Knochensplitter aus einer Spalte. Sie hatten beide geduscht, um die Überreste von Harold Locke abzuwaschen, aber ihre Panzerung hatte eine ganze Menge Beweismittel abbekommen. Die mussten verschwinden, das hatte hohe Priorität.
»Ja, wir werden wohl ein wenig Mühe damit haben.« Er paffte an seiner Pfeife und schrubbte dann an einem Blutfleck weiter.
»Wer, meinst du, waren die eigentlich?«, fragte sie ernsthaft.
Er hielt kurz in seiner Arbeit inne und lehnte sich zurück. Das war eine gute Frage. »Honey, ich weiß es wirklich nicht. Die waren ganz offensichtlich gekommen, um unseren Hals zu retten. Nun hab ich zwar eine Menge Freunde in der Branche, aber keinen, der ein solches Team bestellen kann. Und die wussten, dass Harold hierher unterwegs war. Möglicherweise haben sich die auch etwas überlegt, wie man das hier alles so einrichten kann, dass die Leute, die ihn geschickt haben, von der ganzen Sache nichts erfahren. Und so ist es ja auch mehr oder weniger gelaufen. Wenn die Frage aufkommt, können wir behaupten, dass wir ihn erledigt haben.
Aber das ist natürlich immer noch keine Antwort auf die Frage, wer sie geschickt hat.«
Sie nickte und machte sich wieder an die Arbeit, aber ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, dass sie überlegte. »Was denkst du denn gerade?«, fragte er.
»Ich glaube, es war jemand, der Daddy eine Gefälligkeit schuldig war.«
Er klappte den Mund auf, um zu widersprechen, hielt dann aber inne. Mike junior hatte ihm von dem Kampfanzug erzählt, den man ihm geschenkt hatte. Bei einem Wert von einer halben Milliarde Credits war ein solcher Anzug vorsichtig gesagt nicht gerade eine kleine Aufmerksamkeit. Jemand, der der Meinung war, ihm einen Anzug um eine halbe Milliarde zu schulden, könnte durchaus auch der Meinung sein, ihm den Einsatz eines Kommandoteams zu schulden. Und so nickte er bedächtig, anstatt zu widersprechen. »Okay, das könnte ich mir denken.«
Sie nickte ebenfalls und griff nach der Zahnbürste, als der Überschallknall ertönte.
Beide blickten nach oben und fluchten gleichzeitig.
»Flick!«, sagte Mike senior.
»Scheiße!«, kam das Echo von Cally.
Michael O’Neal sah den nassen, nach Orangen riechenden Schutzpanzer an, den er in der Hand hielt, und schüttelte den vom Duschen noch feuchten Kopf. »Was zum Teufel geht denn heute sonst noch schief?«, fragte er mit einem leicht hysterischen Lacher.
Der Leiter des Teams presste sich die Finger an die Stirn, wie um einen Gedanken hineinzupressen. In der Umgebung gab es keine Safe Houses, wo das Team Unterschlupf finden konnte. Selbst wenn der Lander nicht unmittelbar auf ihnen landete, würde das Team sicherlich aufgehalten werden, und die lokalen Einsatzteams würden die Fahrzeuge beschlagnahmen. Und dann war wirklich Dreck Trumpf. Ihre hastig vorbereiteten Tarnidentitäten würden einer Untersuchung nicht standhalten.
Es gab nur einen möglichen Weg in die Sicherheit.
»Wenden«, knurrte er zum Fahrer gewandt. Der Mönch gehorchte wortlos, bog nach rechts ab und riss den übermotorisierten Van herum. »Zum O’Neal-Haus.« Er zog zum zweiten Mal in einer Stunde sein Handy heraus.
Papa O’Neal hatte die lokale Wetterstation auf volle Lautstärke gedreht, während er und Cally damit beschäftigt waren, alles dichtzumachen. Es gab eine bereits vor Wochen ausgearbeitete Vorgehensweise für eine Landung, eine, die sie für ihre unerwarteten Besucher nicht hatten praktizieren können. Läden wurden geschlossen, auch diejenigen, die der Überschallknall hatte zerspringen lassen. Die Pferde wurden in die Scheune geholt. Die Kühe konnten für sich selbst sorgen. Schaltkreise wurden überprüft, Munition bereitgelegt, Ersatzwaffen griffbereit verteilt.
Fast hätte das Radio das Klingeln des Telefons übertönt, die Automatenstimme betete gerade eine Litanei von Landungswarnungen herunter. Aber Cally hörte es und rannte hin, um abzunehmen.
»Hallo?«, sagte sie.
»Miss Cally O’Neal?«, fragte eine Stimme mit einem schwachen, undefinierbaren Akzent.
»Ja.«
»Dürfte ich bitte Mister Michael O’Neal senior sprechen?«
»Darf ich fragen, wer da spricht?«
»Ihr letzter Besuch«, sagte die Stimme, offenbar leicht erheitert.
»Oh. Augenblick.« Sie rannte hinaus und presste dabei das schnurlose Telefon an sich. »Grandpa!«, rief sie.
Er war damit beschäftigt, eine der Leitungen zu einer Mine zu reparieren und blickte verblüfft auf.
Sie fuchtelte heftig mit dem Telefon herum. »Er kommt sofort«, sagte sie zu dem »Besucher«.
Es dauerte eine Weile, bis O’Neal senior den Abhang heraufgeeilt kam. Cally konnte im Hintergrund ein lautes Motorengeräusch hören. Ihre Besucher schienen es eilig zu haben.
»Darf ich eine Frage stellen?«, fragte die Stimme mit dem leichten Akzent unterdessen.
»Klar.«
»Wie soll ich es ausdrücken? Der andere Besucher. Er ist anscheinend …«
»Das war ich.«
»Ah. Das würde es erklären.« Irgendwie klang es so, als wäre der Besucher mit der Antwort zufrieden.
»Hier ist jetzt Grandpa. Wiedersehen.«
Sie hielt die Hand über die Muschel und lächelte. »Anscheinend kommen unsere Besucher zurück, zum Tee.«
»Oh, Scheiße«, sagte O’Neal senior und schüttelte den Kopf. »Man sollte mit dem, was man sagt, immer vorsichtig sein.«
»Hallo?«
»Mister O’Neal?«
»Ja.«
»Hier spricht einer Ihrer letzten Besucher. Wir sind in einer etwas schwierigen Lage …«
»Kommen Sie nur. Stellen Sie die Fahrzeuge in die Garage. Ich fahre den Pick up raus, damit Platz ist. Und beeilen Sie sich. Wenn unsere Freunde hier vor Ihnen auftauchen, schalte ich das Minenfeld scharf, dann sind Sie auf sich selbst gestellt.«
»Selbstverständlich. Wir sind beinahe da.«
In der Ferne war das Grollen von Artillerie und das Knattern von Maschinengewehrfeuer zu hören. Das Posleen-Landungsschiff hatte es geschafft, genau zwischen der Dreiundfünfzigsten Infanterie, die Rabun Gap verteidigte, und den Hauptstellungen der Tennessee Volunteers zu landen. Und nur zwei Meilen vom Eingang zum O’Neal Tal entfernt. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie an dem schmalen Zugang zum Tal vorbeiziehen. Die Abzweigung von der Hauptstraße war bewusst nicht beschildert.
Andererseits, so wie der Tag bisher gelaufen war …
Papa O’Neal ließ die linke Schulter kreisen, damit der Panzer besser saß. Entweder hatte er beim Saubermachen fünf Liter Wasser aufgenommen oder er wurde allmählich zu alt für diesen Scheiß. Er lächelte dem Mann in der schwarzen Maske zu, der jetzt auf ihn zukam, und streckte ihm die Hand entgegen. »Mike O’Neal. Und Sie sind? Beim letzten Mal habe ich den Namen nicht richtig verstanden.«
»Nennen Sie mich Raphael«, sagte der Teamleiter. Er ergriff die ausgestreckte Hand, während sein Team von hinten herangeeilt kam. Die »Weißen« folgten ihnen. Die Kommandos in den schwarzen Anzügen waren bewaffnet, die in den weißen Kombinationen nicht. Sie trugen auch keine Schutzwesten.
»Wollen Sie die auch ausstaffieren?«, fragte Papa O’Neal und deutete mit dem Kinn auf die »Weißen«.
»Das wäre ziemlich sinnlos«, meinte Raphael. »Ich bezweifle, dass die ein Scheunentor treffen würden. Aber wenn Sie irgendwo ein kleines Loch haben, in dem man sich verstecken kann, dann wäre das wirklich perfekt.«
»Na ja, ich kann nicht behaupten, dass es mir ausgesprochen Leid tut, Sie wieder bei uns zu haben«, gab Papa O’Neal zu. »Wir können ein wenig zusätzliche Feuerkraft gebrauchen, falls die Posleen hier raufkommen.« Er deutete auf das Haus und setzte sich in Bewegung.
»Es bereitet mir Trost, dass wir nicht die Einzigen sind, die von diesen Besuchern angegriffen werden«, meinte der Besucher trocken. »Ganz offenbar hat Gott uns nicht verlassen, wenn sie auch auf den Muslimen landen.«
Leutnant Mashood Farmazan seufzte, als er durch seinen altehrwürdigen Zeiss-Feldstecher auf die feindliche Heerschar hinunterblickte. Die Posleen-Gruppe war ein Überrest der Horde, die über Turkmenistan hergefallen war. Einem Verband, der sich in ihrem verarmten Land breit gemacht hatte, nach der Landung in der Nähe des verwüsteten Tschardshou ausgeschwärmt war und jede Einheit vernichtet hatte, die sich ihnen entgegengeworfen hatte. Der Verband, der jetzt in Richtung auf die iranische Grenze marschierte, umfasste immer noch Zehntausende und hatte der alten Seidenstraße folgend eine blutige Schneise durch Bagram-Ali geschlagen. Andere Posleen-Verbände hatten das antike Buchara dem Erdboden gleich gemacht und strebten jetzt auf das sagenumwobene Taschkent zu. Dieser Verband hier hatte sich wahrscheinlich Teheran und die dort aufgespeicherten Schätze als Ziel ausgesucht.
Er hätte gern gesagt, dass dies hier der Ort war, an dem ihr Vormarsch zu Ende sein würde. Das Terrain um diesen Pass durch die Berge von Koppetdag war sehr günstig, um ihren Vormarsch zu stoppen. Aber er war der Kommandeur und der einzige Offizier des einzigen unterbesetzten Bataillons, das im Augenblick zwischen den Posleen und der Hochebene von Fars stand.
Seine Einheit gehörte der Ersten Panzerdivision an, den Unsterblichen. Die Division führte ihre Ursprünge auf die Sagen umwobene Zeit der Meder und des Königs Cyrus zurück, war aber seit den Tagen des Schahs in Ungnade gefallen. Das gegenwärtige Regime schien die Integrität einer Einheit in Frage zu stellen, die ihre Genesis auf Zoroaster zurückführte.
Aber die Vorgänger der Division hatten einfallenden Barbarenhorden schon wiederholt in genau diesen Bergen die Zähne gezeigt. Wenn die Barbaren klug waren, nahmen sie den Umweg durch Pulichatum und an den Flanken der Salzwüste Dasht-e-Kavir entlang, um dann Meschhed einzunehmen. Oder sie zogen nach Norden zu den Pässen, entlang des Kaspischen Meeres. Nur sehr dumme Barbaren kamen durch die kleine Ortschaft Badschgiran. Durch den Badschgiran-Pass mit seinen endlosen Serpentinen. Durch den sehr leicht zu verteidigenden Pass.
Da dies eine wohl bekannte Tatsache war, hatte das Gros der Division mit zwei weiteren anderen regulären Infanteriedivisionen außerhalb von Meschhed Stellung bezogen. Reservedivisionen und die islamische Garde waren noch dabei, Stellungen rings um Gorgan zu besetzen. Mazandaran würde vielleicht fallen, aber dann würde der Feind ein gutes Stück vor Khorramshar aufgehalten werden.
Die einzige Einheit, die zur Verfügung stand, um den belanglosen Badschgiran-Pass zu verteidigen, war ein »Bataillon« klappriger M-60-Panzer, die noch aus der Zeit des Schahs stammten. Die Gesamtzahl einsatzfähiger Panzer betrug weniger als eine Kompanie, und die meisten hielt nur noch Isolierband und Draht zusammen. Und ein einziger ähnlich belangloser, übermäßig intellektueller Offizier ohne jegliche politischen Verbindungen, der ein Bataillon befehligte, das dies nur dem Namen nach war. So also sahen die Verteidiger von Badschgiran aus.
Das Dorf schmiegte sich in ein Hochtal hinter ihm. Ein typisches Bergdorf; der grüne Winterroggen fing gerade auf den Feldern zu sprießen an, und zwischen den Feldern und einem ausgedehnten Pappelwald plätscherte ein Flüsschen. Die Ortschaft selbst war eine Ansammlung aus alten Lehm- und Backsteinhütten, die sich an die hochragenden grauen Berge schmiegten, und zwischen denen einige wenige moderne Gebäude verteilt waren. Und selbst die stammten aus der Blütezeit der siebziger Jahre. In diesen Bergdörfern änderte sich nur selten etwas.
Straßen wurden mit Kopfsteinpflaster versehen oder asphaltiert und verkamen dann wieder zu kaum wahrnehmbaren Spuren im Staub. Im fernen Teheran oder Isfahan oder Taschkent – wo auch immer sich gerade das Zentrum der Macht befand – wuchsen Reiche heran und sanken wieder in Bedeutungslosigkeit, aber der Muezzin rief fünfmal am Tag die Gläubigen zum Gebet, ganz gleich, wer gerade das Sagen hatte. Und die Ziegen fraßen das spärliche Gras auf den Bergen. Und im Winter fiel der Schnee. Und gelegentlich zogen Barbaren durch. Dann wurden die Felder von Schlachten aufgewühlt, bis ein neuer Steuereinnehmer ernannt wurde. Und das Leben ging weiter, für die meisten wenigstens.
Leutnant Farmazan hatte große Mühe gehabt, den örtlichen Mullah davon zu überzeugen, dass dies bei diesem Invasionsheer nicht der Fall war. Er hatte dem alten Mann Bilder von fernen Sternen gezeigt. Die hatte der als Märchen abgetan. Er hatte ihm die Erlasse des Revolutionsrates gezeigt, die Anordnung, die Ortschaft vor der herannahenden Horde zu evakuieren. Der Mullah hatte sie abgetan, mit langatmigen Darlegungen über den Koran und die Belanglosigkeit sterblicher Herrscher. Er hatte ihm Videos aus dem fernen Amerika gezeigt, wo zu Lande, zu Wasser und in der Luft Schlachten tobten. Amerika – ein bekannter Ort der Gottlosen, war die Antwort gewesen, was konnte man in einem solchen Gomorrah anderes erwarten. Schließlich hatte der Leutnant sich beinahe die Haare gerauft und den Dämon Tamerlan heraufbeschworen.
Und bei diesem gefürchteten Namen war der gestrenge alte Mullah bleich geworden. Der Mongolenfürst hatte das sagenhafte alte Perserreich zu einem Schatten seiner selbst gemacht, hatte jeden einzelnen Adeligen, Führer, Beamten oder Angehörigen der Intelligenz getötet. Die einzigen Perser, die übrig geblieben waren, nachdem Tamerlan mit seinen Horden durch das Land gezogen war, waren die Bauern gewesen. Und die meisten von ihnen waren getötet oder in die Sklaverei verschleppt worden.
Nachdem der Mullah weitere Beschreibungen gehört und man ihn auf Ähnlichkeiten hingewiesen hatte, hatte er schließlich nachgegeben. Unter großem Geschrei und Zähneknirschen hatte er angefangen, die Armen, Bauern und Handwerker der abgelegenen Ortschaft aus ihren Häusern zu drängen und die lange Straße zum fernen Meschhed hinunter. Dort, wo die Straße von dem Plateau abzweigte, konnte man noch die letzte einsame Gestalt sehen, als die schreckliche Heerschar in der Ebene sichtbar wurde.
Der Leutnant hatte ein paar Kanonen und einige wenige Granaten zusammenkratzen können. Die Artillerie war lächerlich, hauptsächlich uralte 105-mm-Haubitzen. Sie stammten noch aus der Zeit des letzten Pahlavi. Die Vereinigten Staaten hatten sie im Zweiten Weltkrieg im Rahmen der Pacht-Leih-Verträge geliefert. Und daneben verfügte er noch über ein paar heruntergekommene britische Fünfpfünder. Die robusten Kanonen waren jahrzehntelang das Rückgrat der britischen Artillerie gewesen, inzwischen aber so veraltet, dass die meisten Länder sie als Museumsstücke betrachteten. Die Rohre waren praktisch bis auf das blanke Metall abgewetzt, und die Schildzapfen an den Lafetten konnten jeden Augenblick springen.
Und mit dieser zusammengekratzten Schar halb ausgebildeter Wehrpflichtiger, antiquierten Waffen, knapper Munition und knappen Lebensmittelvorräten sollte er eine Armee von Aliens aufhalten, die ein halbes Dutzend turkmenischer Brigaden vernichtet hatte! Er hoffte, dass sie nach Norden abbiegen würden, wo sich die Überreste der turkmenischen Armee gerade eingruben, um Aschgabad zu verteidigen. Vielleicht würden sie das tun, aber irgendwie bezweifelte er es.
Wahrscheinlich könnte es noch schlimmer kommen, dachte er, obwohl er sich das nicht recht vorstellen konnte. Und während er so sinnierte, fielen erste Schneeflocken auf die ausgetrockneten, grauen, mit Felsbrocken übersäten Bergwiesen. Er seufzte. Ob es wohl irgendjemanden auf der Welt gab, dem das Schicksal mehr zugesetzt hatte als ihm?
Pham Mi schüttelte den Kopf und nahm dem jungen Rekruten den Karabiner weg. Er zerlegte die altehrwürdige Kalaschnikow mit ein paar schnellen Handgriffen und schüttelte den Kopf. Der Miliz-Rekrut ließ beschämt den Kopf hängen, als der Veteran ihm die Rostflecke am Schloss zeigte.
»Dummes Kind«, schimpfte der narbige Pham. Er schlug dem jungen Mann mit dem herausgenommenen Schlagbolzen auf den Kopf. »Mag ja sein, dass du sterben willst, aber deine Kameraden wollen leben. Mach das sauber, und dann hilf den Frauen beim Stellungengraben.«
Es war Jahre her, dass Pham zuletzt im Zorn einen Schuss abgefeuert hatte. Viele, viele Jahre. Er war nicht Mitglied der Demokratischen Armee gewesen, als sein Land sich gegen China verteidigt hatte, auch nicht bei dem Einfall nach Kambodscha. Aber als Führer der Volksmiliz seiner Ortschaft war er dafür verantwortlich, das Vorrücken des Feindes so lange wie möglich zu verzögern. Die Führung erwartete nicht von ihm, dass er sie aufhielt. Aber die Volksmilizen würden ganz ohne Zweifel dem Feind zusetzen und seinen Vormarsch beeinträchtigen. Sie hatten die Feinde des Volkes immer wieder gelähmt. Dies war ihre tausendjährige Geschichte. Und auch diesmal würde es nicht anders sein.
Hundert Frauen aus dem Dorf arbeiteten an den Gräben und Bunkern, während die Männer der Miliz an ihren Waffen und sonstigem Gerät tätig waren. Wie unsinnig das alles doch anmutete. Die meisten Waffen waren Museumsstücke, Überreste des großen Kampfes gegen die Franzosen und die Yankees. Das sonstige Gerät aber – die Stiefel, die Tornister, die Munitionsgurte und Uniformen – war ausnahmslos amerikanischer Herkunft.
Natürlich war alles gebraucht, und ein Großteil des Materials in den Kisten und Kartons, die die Miliz erhalten hatten, war so beschädigt, dass eine Reparatur ausgeschlossen werden musste. Aber vieles war durchaus noch brauchbar. Nur die Amerikaner konnten so verschwenderisch sein, gutes Gerät einfach wegzuwerfen. Und nur Amerikaner waren so seltsam, dass sie es einem ehemaligen Feind gratis zur Verfügung stellten.
Außerdem waren da mehrere Kisten mit ganz hervorragenden amerikanischen Minen. Die Waffen waren so vertraut wie ein alter Freund: Als junger Mann in der Miliz hatte er solche Minen aus dem Gelände vor amerikanischen Stellungen ausgegraben, um sie später wieder einzusetzen. Dies war das erste Mal, dass er sie im verpackten Zustand sah, und er staunte über die komplizierte Verpackung. Offenbar hatten die Amerikaner damit gerechnet, dass sie in einem Hurrikan versandt wurden.
Mit den Waffen, der Munition, dem Gerät und ganz besonders den Claymores und den »hüpfenden Bettys« würde die Volksmiliz dem Feind ernsthaft zusetzen. Der Verband aus dem einzelnen Landungsboot würde zweifellos den ersten Verteidigungsring durchbrechen. Und trotz der rhetorischen Leistungen des örtlichen Kommissars würden sie Dak-To einnehmen. Aber die Miliz würde ihnen weiterhin Stiche versetzen. Und immer wieder zustechen. Bis es sie nicht mehr gab. Das war das wenigste, was sie tun konnten. Amerika hatte seine eigenen Probleme, die Amerikaner würden ihnen nicht zu Hilfe kommen. Was wirklich ein Witz wäre. Sich zu wünschen, dass ein Bataillon amerikanischer Fallschirmjäger vom Himmel fiel. Wirklich ein Witz.
»Oh, das ist wirklich ein Witz!«, brauste Sharon O’Neal auf.
»Was ist denn, Ma’am?«, fragte Michaels über Funk.
Sharon schüttelte in der durchsichtigen Kuppel, die den Helm ihres Kampfanzugs darstellte, den Kopf und schimpfte. »Die Halterungen von Werfer Vier sind verbogen!«
Die schnellen Fregatten waren nie für den Kriegseinsatz bestimmt gewesen. Menschlichem Geschick war es jedoch gelungen, einige Probleme zu umgehen. In diesem Fall bestand die Lösung in externen Werfersystemen für mit Antimateriesprengköpfen versehene und von Antimaterie angetriebene Geschosse; die Fregatten konnten sechs der großen, kastenförmigen Werfer aufnehmen, von denen jeder vier Geschosse lagerte. Aber da die Fregatten nicht über zusätzlichen Lagerraum verfügten, war nur Platz für zwei zusätzliche Werfersysteme, und um diese anzubringen, musste ein Team nach draußen gehen (EVA), mutmaßlich mitten im Gefecht.
Trotz sorgfältigen Umgangs mit den Waffen hatte Captain Weston schließlich alle vierundzwanzig Geschosse aufgebraucht. Obwohl es immer noch zu gelegentlichen Austritten von Posleen-Schiffen aus dem Hyperraum kam, hatte sie entschieden, dass es das Risiko wert war, die zusätzlichen Magazine anzubringen. Und aus diesem Grund waren Sharon, zwei menschliche Techniker und ein Indowy mit einem Werfer »ausgestiegen«. Und einer verbogenen Halterung …
Michaels studierte das Bild der Halterung auf dem Monitor. »Wir haben ein Ersatzteil, das funktionieren wird, Ma’am.«
»Nein«, herrschte ihn Commander O’Neal an. »Wir nehmen Nummer Fünf.«
»Der Anschluss an Fünf ist defekt, Ma’am«, erinnerte sie Michaels.
Sharon schüttelte den Kopf und verfluchte die Müdigkeit, die ihre Denkprozesse beeinträchtigte. Trotz der Wunderdroge Provigil beschlich einen gelegentlich die Müdigkeit. Sie musste sich immer wieder selbst daran erinnern, dass sie nicht in Höchstform war, selbst wenn sie sich das einbildete.
»Wir haben die Drei nachgeladen«, sagte sie. »Zwei und Sechs sind hin.« Das Posleen-Nuke war zu nahe detoniert. Wahrscheinlich war auch das der Grund für die Beschädigung des Werfers, an dem sie gerade tätig waren. Wenn es vor dem Schiff explodiert wäre, wo der Deflektorschirm immer noch nicht repariert war, statt darunter, würde die ganze Mannschaft sich bereits mit den Engeln unterhalten.
»Und wir kriegen unregelmäßige Fehlermeldungen vom Dreier, Ma’am«, schloss Michaels. »Ich denke, wir müssen das Scheißding reparieren oder eben bloß mit einem Werfer zufrieden sein.«
Sharon nickte. Sie wusste, wie sie entscheiden würde, aber das war wirklich eine Entscheidung, die der Captain treffen musste. Solange sie EVA waren, bildete ihr Team eine Schießscheibe. »Captain Weston?«, fragte sie und wusste, dass das AID die Kanäle wechseln würde.
»Ich habe zugehört«, antwortete Weston mit einer Stimme, die von all den Stunden, in denen sie Befehle erteilt hatte, rau geworden war. Sharon zuckte zusammen, als sie heraushörte, wie müde ihre Vorgesetzte war. Nun, sie waren wohl alle an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. »Wir brauchen jeden verfügbaren Werfer, Commander. Tut mir Leid.«
»Geht klar, Ma’am«, antwortete Sharon. »Bin ganz Ihrer Meinung. Michaels?«
»Ich hol die Klammern aus dem Lager, Ma’am.«
»Wir fangen inzwischen damit an, die hier abzumontieren.« Wieder schüttelte sie den Kopf. Wenn man EVA arbeitete, war das immer anstrengend; aber EVA unter dem Damoklesschwert eines plötzlichen feindlichen Angriffs war die reinste Hölle.
Sie drehte sich zu dem Indowy-Techniker herum, um ihn zu bitten, ihr behilflich zu sein, hielt aber inne, als ihre Augen sich weiteten.
Niemals hätte sie erwartet, so etwas jemals mit bloßem Auge zu sehen und rechnete auch nicht damit, dieses Erlebnis ein zweites Mal zu haben – ein Posleen-Battleglobe verlagerte sich aus dem Hyperraum. Der Riss im Realitätsgefüge erzeugte lokalisierte Energiespitzen, die zu Verzerrungen der Sterne dahinter führten, so dass das Schiff einen Augenblick lang auf einer leicht gekräuselten Wasserfläche dahinzugleiten schien. Einen Augenblick lang tanzten noch Entladungen statischer Elektrizität über den Koloss, und dann war der Battleglobe da, voll aufgetaucht und scheinbar zum Berühren nahe.
»Austritt!«, brüllte der Sensortechniker plötzlich hellwach. »Winkel Zwei Neun Vier, Mark Fünf!« Die Augen traten ihm hervor, als er den Entfernungswert begriff. »Viertausend Meter!«
»Erfasst«, rief der Taktikoffizier, als das Lidar-Zielerfassungssystem und die Subraum-Detektoren das gigantische Signal erfasst hatten.
»Feuer«, befahl Captain Weston automatisch. Und dann weiteten sich ihre Augen. »Kommando zurück!«
Aber das war bereits eine Ewigkeit zu spät. Der Waffentechniker hatte achtzehn Stunden Dienst hinter sich, und Feuerbefehle lösten eine Reaktion aus, an der das Gehirn nicht beteiligt war. Sein Daumen hatte bereits die Sicherungsklappe hochgeschnippt und den Schalter gedrückt.
Ein pyrotechnischer Gasgenerator zündete, als die Klammern, die das Geschoss festhielten, aufflogen. Das Gas schob das fünfeinhalb Meter lange Waffensystem weit genug vom Schiff weg, damit es seine Trägheitsaggregate und die Antimateriekonversionsrakete aktivieren konnte.
Gefahrlos für das Schiff. Aber nicht gefahrlos für das Installationsteam. Oder das Magazin mit Antimateriegeschossen, das sie gerade installierten.